Ist Phyllis Ann Karr eine weitgehend vergessene Autorin?
Ein kurzer Blick in die ISFDB offenbart zwar, dass gerade in den letzten ~zehn Jahren eine ganze Reihe neuer Romane aus ihrer Feder bei Wildside Press erschienen sind, u.a. The Bloody Herring: A Gilbert & Sullivan Space Fantasy (2014), Loon Lake Lodge - A Dialogue Novel after the Template of Thomas Love Peacock (2015) und The Vampire of the Savoy - A Gilbert & Sullivan Vampire Story (2020). Was alles sehr verführerisch klingt (zumindest in meinen Ohren). Aber ich glaube nicht, dass irgendeiner von diesen einen höheren Bekanntheitsgrad erlangt hat. Und auch ihre Werke aus den 80ern, als sie noch bei großen Verlagen wie Ace und Berkley Books veröffentlicht wurde, dürften vor allem unter den jüngeren Jahrgängen kaum mehr bekannt sein. Keines von ihnen wurde nach 1985 noch einmal neu aufgelegt, bis sich ab 1999 Wildside Press ihrer annahm. Aber das ist ja schon eher ein Nischenverlag.
Vielleicht liege ich mit dieser Einschätzung ja auch falsch. Würde mich freuen, wenn man mich eines besseren belehren könnte. Immerhin gehörte Phyllis Ann Karr zu den Autorinnen, die Martha Wells -- heute vermutlich vor allem als Verfasserin der
Murderbot Diaries bekannt -- 2016 auf Twitter ihren Followern unter dem Hashtag #femmeSFF ans Herz legte. Was man in diesem
Artikel von Tansy Hoskins nachlesen kann. Und 2023 erschien in Ausgabe 4 von
Wyngraf, dem "Magazine of Cozy Fantasy", ein Interview mit der Autorin.
Wyngrafs Herausgeber Nathaniel Webb betrachtet ihren 1986 erschienenen Roman
At Amberleaf Fair als einen wichtigen Vorläufer des Subgenres -- fügt allerdings einschränkend hinzu:
Interestingly, 1986 also saw the publication of Redwall and Howls' Moving Castle, two titles that became foundation stones of cozy fantasy. But while those spawned a lengthy series and a hit film respectively, Phyllis' quiet, quirky tale of Torin the Toymaker and his travails in love and magic seemed destined to remain a cult classic
mit einer "devoted, if small following".*
Wie dem auch sei. Ich bin Phyllis Ann Karr zum ersten Mal vor Jahrzehnten auf den Seiten von Schwertschwester begegnet, der deutschen Übersetzung des ersten Bandes von Marion Zimmer Bradleys Anthologien-Reihe Sword and Sorceress. Ich muss allerdings gestehen, dass ihre Kurzgeschichte Der Granat und die Glorie nicht zu den Beiträgen gehörte, die sich mir dauerhaft ins Gedächtnis einbrannten. Nachdem ich sie kürzlich in Vorbereitung für diesen Beitrag noch einmal gelesen habe, verstehe ich das sogar. Womit ich nicht gesagt haben will, dass sie schlecht wäre, aber losgelöst vom größeren erzählerischen Kontext der Frostflower & Thorn - Erzählungen muss sie doch etwas blass und beliebig wirken. Aber dazu später mehr.
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| Schwertschwester mit einer Coverillustration von Claus-Dietrich Hentschel |
Als ich vor zwei Monaten die Autor*innen-Liste für meine
"Traum-Anthologie" zusammenstellte, auf der auch Phyllis Ann Karr vertreten war, fühlte ich mich anschließend dazu motiviert, endlich einmal ihren 1980 erschienenen Roman
Frostflower and Thorn zu lesen. Ich hatte den stets als Teil jener Entwicklung betrachtet, in deren Verlauf Ende der 70er / Anfang der 80er vermehrt Autorinnen und weibliche Hauptfiguren Eingang in die Sword & Sorcery fanden.
In ihrem Editorial zu
Toadstool Wine, einem 1975 erschienenen Gemeinschaftsprojekt von sechs "Indie-Magazinen", hatte Karr erklärt, "
male chauvinism" sei wohl bedauerlicherweise "
an integral part of Sword & Sorcery [...] Something about S&S being an escape into a more robust past ..." Nur um nach einem kleinen Aside über die (in ihren Augen) entmenschlichenden Tendenzen des beginnenden Computer-Zeitalters augenzwinkernd zu erklären: "
[I[t's hell living in the pioneer days of the computer. It's almost enough to drive a feminist to Sword & Sorcery".
Ob man Frostflower and Thorn tatsächlich dem Genre zurechnen sollte, ließe sich sicher kontrovers diskutieren. Ich bin in so Fragen ja eher undogmatisch. Auf jeden Fall lässt sich nicht bestreiten, dass der Roman in Auseinandersetzung mit der Sword & Sorcery entstanden ist. Und das reicht für mich aus.
Eine "typische" S&S - Autorin ist Phyllis Ann Karr jedoch ganz sicher nicht und es sieht auch nicht so aus, als habe sie je eine engere Beziehung zum Genre oder der Szene gehabt. Von ihrer Freundschaft und Zusammenarbeit mit Jessica Amanda Salmonson einmal abgesehen.
Die 1944 geborene Phyllis Ann Karmilowicz wuchs als Tochter polnischstämmiger Eltern im Lake County, im Nordwesten Indianas, auf. Zur prägenden Lektüre ihrer Kindheit gehörten u.a. Lewis Carrolls
Alice - Bücher, L. Frank Baums
Oz und Charles Kingsleys
The Water-Babies,
sowie "
a few 'Baba Yaga' stories from 1950s Jack and Jill magazines". Auch entwickelte sie schon früh eine große Liebe für die Opern von Gilbert & Sullivan, die zu einer wichtigen Inspirationsquelle für ihr späteres Schaffen werden sollten. In ihrer High School - Zeit wurde sie außerdem leidenschaftlicher Fan der leicht subversiven Western-TV-Serie
Maverick: "
I became a 'Maverickie' the way a decade or so later people were to become 'Trekkies'". (W) In keiner der wenigen Interviews mit ihr, die ich habe finden können, erwähnt sie im Zusammenhang mit ihrer "literarischen Sozialisation" Genre-Bücher oder -Magazine im engeren Sinn.
Besonders interessant fand ich ihre
Einschätzung, welchen Einfluss diese frühe Lektüre (+
Maverick) auf ihr Weltbild hatten:
Baba Yaga as per Jack and Jill, Robin Murgatroyd [aus Gilbert & Sullivans Ruddigore] and his accursed
ancestors, Clan Maverick's elevation of cowardice into an ideal: all
these lent to the eager Catholicism of my formative years a certain
questioning flavor, a rejection of the good/bad dichotomy which seemed
predominant in much of traditional American religion and culture, in
favor of the morally mixed view of the universe
Wir werden noch sehen, wie sich dies in Frostflower and Thorn niedergeschlagen hat.
Phyllis Ann Karr erzählt recht gerne, dass sie ihren ersten "Roman" bereits im Alter von sieben-acht Jahren geschrieben habe. Natürlich meint sie es damit nicht so ganz ernst. Two Sisters of Switzerland sei eine Nachahmung von Heidi gewesen, zusätzlich beeinflusst durch das Spiel mit einer Nachbarstochter. "If God is merciful, it will never be published". (W) Ernsthafte schriftstellerische Ambitionen entwickelte sie erst während ihrer Studienzeit an der Colorado State University. Zwischen 1968 und '71/72 entstand das, was sie als ihre "journeyman novel" bezeichnet -- The Ring of Tumboni. Veröffentlicht wurde der Roman allerdings erst viel später und in überarbeiteter Fassung.
Zuerst einmal begann sie als Bibliothekarin zu arbeiten. Erst in einer Öffentlichen Bibliothek und nach ihrem Master-Abschluss in "
Library Science" für fünf Jahre an der
University of Louisville. Dabei sammelte sie einige recht frustrierende Erfahrungen:
Those were good years; but whenever any library project headed by a man was put into motion, I was made to suspend my work on the Rare Book Room backlog in order to join whatever the new effort was. (W)
Schließlich hatte sie die Nase voll und kündigte den Job.
Zu diesem Zeitpunkt waren bereits einige Kurzgeschichten von ihr in unterschiedlichen Magazinen veröffentlicht worden. Dabei legte sie sich von Anfang an nicht auf ein einziges Genre fest. So erschienen 1974/75 zwei ihrer Stories in Ellery Queen' Mystery Magazine. Ihre erste phantastische Geschichte wurde 1974 in der sechsten Nummer von Jessica Amanda Salmonsons Literary Magazine of Fantasy and Terror abgedruckt.
Schon in The Ring of Tumboni war einer der Protagonisten Robin Oakapple / Sir Ruthven Murgatroyd aus der Gilbert & Sullivan - Oper Ruddigore gewesen. In der Folge hatte sie mehrere kürzere Robin-Geschichten geschrieben. Salmonson lehnte diese ab "with indications that she wasn't interested in the character". (W) Woraufhin Karr alle direkten G&S - Bezüge aus der Geschichte strich und sie in reine Fantasy umarbeitete. Und so erschien sie dann doch noch unter dem Titel Toyman's Trade und wurde zur Geburtsstunde von "Torin the Toymaker", dessen weitere Abenteuer ihren Weg in den frühen 80ern gleich in zwei von Salmonson zusammengestellte Anthologien finden sollten -- Tales by Moonlight (1983) und Heroic Visions (1983). Was Karr ziemlich amüsierte -- waren die Stories doch weder Horror noch Sword & Sorcery. Seinen größten Auftritt würde Torin schließlich in At Amberleaf Fair (1986) erhalten.
Obwohl ihre literarischen Geschmäcker in vielem "almost diametrically opposed" (W) waren, entwickelte sich sehr schnell eine enge und freundschaftliche Beziehung zwischen Karr und Salmonson. Die siebte Ausgabe des Literary Magazine of Fantasy and Terror (1975) nennt Karr als Co-Herausgeberin und auch in dem schon erwähnten Sammelband Toadstool Wine (1975) treten die beiden gemeinsam auf.
Im Sommer 1977 nahm Karr an einem von George R.R. Martin ausgerichteten Autor*innen - Workshop am Clarke College in Dubuque (Iowa) teil. Dort entstand die erste Fassung von Frostflower and Thorn. Im Nachwort zur Neuauflage von 2012 erzählt Karr, dass Gene Wolfe einer der Gäste des Workshops war und dass auf ihn die Idee zurückgeht, alle Mitglieder des Kriegerstandes in den Tanglelands zu Frauen zu machen. Ein Jahr später nahm Karr das Manuskript zu einem weiteren Workshop nach Indiana mit. Dort kam es u.a. Ursula K. LeGuin unter die Augen, die sich offenbar alles andere als begeistert zeigte: "[She] either hated my work or gave a darn good impression of hating it." Nun denn, auch eine LeGuin hatte halt nicht immer recht ... Dafür lernte Karr dort ihre zukünftige Agentin Barbara Lowenstein kennen, die den Roman schließlich bei Berkley Books unterbrachte.
Im selben Jahr 1980, in dem Frostflower and Thorn erschien, wurden auch ihre ersten beiden Historical Romance - Bücher -- My Lady Quixote und Lady Susan -- veröffentlicht. Weiterhin sah Phyllis Ann Karr keinen Anlass, sich auf ein einziges Genre festzulegen.
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| Frostflower and Thorn mit einer Coverillustration von Enric (Torres-Prat) |
Der Tag beginnt nicht gerade toll für die Kriegerin Thorn. Missmutig und rüde setzt sie den jungen Kaufmann Spendwell, mit dem sie die letzte Nacht verbracht hat, vor die Tür. Der kann zwar eigentlich nichts für ihren Zustand, aber an irgendwem muss sie ihre Wut auslassen. Denn die morgendliche Übelkeit gemahnt sie nur zu deutlich an das Problem, mit dem sie sich nun endlich ernsthaft auseinandersetzen muss: Sie ist schwanger. Und sie hat auch nicht das geringste Interesse daran, Mutter zu werden. Also gilt es, eine Abtreibung zu organisieren. Fragt sich nur, ob sie genug Geld aufbringen kann, um sich einen ausgebildeten Medicus leisten zu können. Oder ob sie dafür weniger respektable Dienste in Anspruch nehmen muss. Der misslungene Versuch, den bescheidenen Inhalt ihres Geldbeutels mit einem kleinen Würfelspielchen aufzubessern, scheint diese Frage ein für alle Mal zu beantworten. Doch da tritt völlig überraschend die junge Zauberin Frostflower an sie heran und macht ihr ein ungewöhnliches Angebot: Sie könne ihre Schwangerschaft auf magische Weise in wenigen Stunden zu einem Ende bringen und verlange als Gegenleistung nichts außer dem Baby, das Thorn ja ohnehin nicht haben will. Die "sorceri" sind eine mit einer Mischung aus Furcht und Verachtung beäugte Minderheit in der Gesellschaft der Tanglelands. Dennoch geht Thorn auf das Angebot ein. Und damit beginnt der Ärger erst so richtig.
Ich kann mir vorstellen, dass diese Eröffnungssequenz des Romans zum Zeitpunkt seines Erscheinens ziemlich provokant gewirkt haben muss. "Casual Sex" war in der Sword & Sorcery zwar nichts wirklich ungewöhnliches, aber die Selbstverständlichkeit, mit der Karr das Thema Abtreibung behandelt, dürfte 1980 manche Leser*innen wahrscheinlich schockiert haben. Vergessen wir nicht, dass das Urteil in
"Roe v. Wade" gerade einmal sieben Jahre zurück lag. Wie das angesichts der reaktionären Entwicklungen der letzten Zeit heute aussehen würde, wage ich nicht zu beurteilen.
Zwar findet die Abtreibung nicht wirklich statt. Vielmehr beschleunigt Frostflower die Entwicklung des Fötus auf magische Weise, so dass er im Verlaufe eines Nachmittags zu einem Baby heranwächst, das dann zur Welt kommt. Aber sie tut das nicht, weil es ihr darum gehen würde, ein "ungeborenes Leben" zu retten. Und die Erzählung verurteilt zu keinem Zeitpunkt Thorns ursprüngliche Entscheidung oder lässt die Kriegerin in einem schlechten Licht erscheinen, weil sie auch nach der Geburt keine mütterlichen Gefühle für das Kind entwickelt.
Die Mutterrolle übernimmt stattdessen Frostflower, die sofort eine tiefe Bindung zu dem Baby entwickelt. Sie hat vor, den kleinen Starwind (wie sie ihn tauft) nach Windslope zu bringen, einen der Rückzugsorte ("retreats") der Sorceri, wo sie selbst aufgewachsen ist.
Da es als unumstößliche Wahrheit gilt, dass Jungfräulichkeit die Voraussetzung für die Entwicklung und Beherrschung magischer Kräfte ist, können die Sorceri ihren Nachwuchs nicht auf "natürliche Weise" sichern. Und ihre gesellschaftliche Pariah-Stellung führt dazu, dass sich ihrer Gemeinschaft kaum jemand freiwillig anschließt. Die Aufnahme von Waisenkindern ist deshalb eine beliebte Praxis.
Unglücklicherweise nährt das aber auch das ohnehin schon verbreitete Gerücht, die Sorceri würden Kinder stehlen. Ein Grund, warum Thorn als eine Art Leibwächterin Frostflower und das Baby bis nach Windslope begleiten soll. Als es auf dem Weg dennoch zu einer Begegnung mit dem örtlichen Grundherren (und Priester) Maldron kommt, die durch eine Verkettung unglücklicher Umstände mit einem kleinen Handgemenge endet, stößt dies die eigentliche Handlung des Romans an. Maldron ist von nun an darauf erpicht, das "gestohlene Kind" zu "befreien".
Es ist vermutlich nicht ganz unbeabsichtigt, dass das Verhältnis der dominierenden Gesellschaft der Tanglelands zu den Sorceri gewisse Assoziationen zu den Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit wachruft. Dass Hexen sich gerne an Kindern vergreifen, war nämlich auch dort eine der geläufigen Wahnideen. Auch wenn ihnen dabei meist sehr viel morbidere Beweggründe unterstellt wurden als den Sorceri. Körperteile von Kindern (oder auch "Kinderschmalz") galten als ein wichtiger Bestandteil der berüchtigten "Hexensalbe". Aber auch die Vorstellung, dass Hexen frisch geborene (und ungetaufte) Kinder dem Satan weihen und damit in ihre Teufelsbundschaft aufnehmen würden, war nicht ganz unbekannt. Eine noch deutlichere Verwandtschaft besteht in Sachen "Wetterzauber". Das Heraufbeschwören von Unwettern gehörte zu den Fähigkeiten, die man Hexen traditionell nachsagte. Und tatsächlich bildet Wetterbeeinflussung neben der Manipulation von Zeit (und dem damit verbundenen Wachstum oder Zerfall) eine der Hauptkünste der Sorceri. Mehr als einmal ruft Frostflower im Laufe des Romans Blitze vom Himmel.
Allerdings darf man diese Parallelen auch nicht überbewerten. Individuelle Sorceri werden in den Tangelands zwar verfolgt und zum Teil äußerst grausamen Bestrafungen (bis hin zum öffentlichen "Ausweiden") unterzogen, aber es herrscht kein allgemeiner "Hexenwahn". Die gesellschaftliche Stellung der Sorceri ähnelt eher der einer marginalisierten Minderheit.
Noch sehr viel wichtiger scheint mir folgender Unterschied zu sein: Zwar war es keineswegs so, dass ausschließlich Frauen Opfer der Hexenverfolgungen geworden wären. Aber es lässt sich doch kaum bestreiten, dass eine christlich eingefärbte Misogynie wichtiger Bestandteil des Hexenwahns war. Man braucht bloß mal einen Blick in das
sechste Kapitel des berüchtigten
Hexenhammers (
Malleus maleficarum) von Sprenger & Institoris zu werfen. Dieses Element fehlt bei der Diskriminierung der Sorceri völlig. Deren Gemeinschaft scheint in ihrer Genderzusammensetzung ausgeglichen zu sein. Die Begriffe "sorceron" (sg.) und "sorceri" (pl.) waren von Karr sogar ausdrücklich als "
gender-inclusive terms" konzipiert. Dementsprechend tragen auch die gegen sie erhobenen Vorwürfe keine spezifisch misogynen Züge.
Was uns geradewegs zu einem der wichtigsten Gründe führt, warum mir der Roman so gut gefallen hat. Ich hätte mir nämlich sehr leicht eine deutlich simplistischere Variante desselben Szenarios vorstellen können. Doch Karr entwirft gerade nicht das schwarz-weiße Bild eines "bösen Pariarchats" und einer von diesem unterdrückten Gemeinschaft "magischer Frauen". Die Gesellschaft der Tanglelands (und vor allem ihre herrschende Klasse) besitzt zwar patriarchale Züge, während unter den Sorceri "true gender equality" herrscht. Dennoch ist das Gesamtbild sehr viel komplexer.
Das Worldbuilding war für mich einer der stärksten Aspekte von Frostflower and Thorn. Dabei folgt der Roman in vielem gerade nicht den geläufigen Präferenzen eines generischen Fantasyromans. Das beginnt schon damit, dass wir beim Aufschlagen des Buches keine der üblichen Landkarten präsentiert bekommen. Tatsächlich hatte ich während der gesamten Lektüre nie den Eindruck, mehr als eine vage Vorstellung von der Geographie der Tanglelands vermittelt zu bekommen. Die eigentliche Handlung spielt sich in einem recht überschaubaren Areal ab. Alles was sich jenseits davon befindet, bleibt äußerst verschwommen. Dasselbe gilt für die Historie der Tanglelands. Wir erhalten bloß ein, zwei vage Einblicke in vergangene Ereignisse und Entwicklungen. Und auch dies nicht in Form "autoritativer" Aussagen. Wir erfahren bloß, was in bestimmten sozialen Kreisen darüber erzählt wird. Allerdings ist dies zumindest ausreichend, um den Eindruck gesellschaftlichen Wandels zu erzeugen. Die Welt war nicht immer so, wie sie in der Gegenwart aussieht. Für mich ein sehr wichtiger Punkt. Denn worin Karrs Worldbulding meiner Meinung nach wirklich zu glänzen versteht, ist die Schilderung einer sozialen Ordnung und der Art, wie diese die Menschen prägt, die in ihr leben.
Die Gesellschaft der Tanglelands ist primär agrarisch geprägt, das technologische Niveau vormodern. Dementsprechend bilden Großgrundbesitzer die herrschende Klasse. So weit also alles wie gehabt. Aber Karr verzichtet dabei auf einen Gutteil der üblichen klischeehaften Verzatzstücke eines "Fantasy-Mittelalters". Bei ihr gibt es keine Burgen und Ritter, keine Könige oder Adeligen mit pompösen Titeln. Die Grundherren bilden keine Kriegeraristokratie, weder in ihrem Selbstverständnis, noch in ihrer sozialen Funktion. Sie werden "farmer-priests" genannt, und das beschreibt recht genau die zwiefache Grundlage ihrer privilegierten Stellung. Materiell basiert sie auf Landeigentum und der Arbeit einer nominell zwar freien, aber nicht zufällig als "chattel" umschriebenen Arbeiterschaft. Ideologisch auf ihrer Rolle als Priester. Der religiöse Aspekt scheint über die Zeiten an Bedeutung zugenommen zu haben. Die "farmer-priests" gelten selbst als "heilig", ihre Körper als "unantastbar". Das findet seinen Ausdruck nicht nur in einer Obsession für "rituelle Reinheit", sondern erklärt auch, warum sie nicht selbst das Kriegshandwerk ausüben können.
Für diese Aufgabe existiert eine eigene Kaste, die ausschließlich aus Frauen besteht. Ursprünglich rekrutierte sie sich anscheinend aus weiblichen Mitgliedern der Grundherren- und Priesterklasse, doch ist das inzwischen ferne Vergangenheit und weitgehend in Vergessenheit geraten. Dennoch könnte das einer der Gründe dafür sein, warum die Kriegerinnen immer noch gewisse Privilegien gegenüber den "Gemeinen" genießen. Daraus sollte man jedoch keine Schlüsse über die soziale Stellung von Frauen im allgemeinen ziehen. Wie wir am Beispiel von Thorn und dem Händler Spendwell sehen, kann es zwar zu einer Umkehrung der "traditionellen", patriarchalen Dynamiken von Dominanz und Unterordnung kommen, wenn es um eine Kriegerin und einen Gemeinen geht, aber das ist in erster Linie eine Klassenfrage. Auch wird stark angedeutet, dass das Kriegerhandwerk deshalb den Frauen überlassen wurde, weil diese als Individuen weniger zählen und ihr etwaiger gewaltsamer Tod deshalb leichter in Kauf genommen werden kann. Einige der Kriegerinnen scheinen in längerfristigen Dienstverhältnissen zu bestimmten "farmer-priests" zu stehen und bilden so etwas wie feudale Gefolgschaften. Doch die meisten, wie Thorn, führen ein ziemlich unstetes Leben, ziehen kreuz und quer durch die Tanglelands und verdingen sich, wo immer ihre Dienste gebraucht werden. Dieser Lebenswandel könnte einer der Gründe für die ziemlich "lockere" Sexualmoral sein, die unter der Kriegerinnen herrscht. "Casual Sex" mit häufig wechselnden Partnern ohne irgendwelche romantischen Gefühle oder Bindungen scheint bei ihnen die Norm zu sein.
Die "Gemeinen" -- Handwerker, Händler und natürlich die Landarbeiter -- bilden die große Mehrheit der Bevölkerung. Die direkte Herrschaft der einzelnen "farmer priests" reicht wohl nicht über ihre individuellen Landgüter hinaus, doch dominieren sie auch das jeweilige Umland und seine Bewohner. Nur die größeren Städte scheinen sich allmählich zu autonomen Machtzentren zu entwickeln, deren Oberhäupter nicht länger bereit sind, den "farmer priests" blind in allem zu gehorchen. Doch noch ist es wohl nicht zu offenen Konflikten gekommen.
Die Sorceri schließlich stehen gänzlich außerhalb dieser Drei-Klassen-Ordnung.
Die soziale Hierarchie der Tanglelands beeinflusst nicht nur die Art und Weise, wie sich Personen zueinander verhalten, abhängig von ihrer Klassenstellung. Da sie aufs engste mit der Religion verknüpft ist, die von den "farmer priests" gepredigt wird, schlägt sie sich auch im Wertesystem und dem Gefühlsleben der Menschen nieder. Das gilt vor allem für die ständige Angst vor der jenseitigen Strafe, die die Sünder*innen im "hellbog" erwartet. Thorn hat da mehr als einmal mit zu ringen.
Auch die Diskriminierung der Sorceri wird religiös begründet, sie gelten als "Häretiker", die das Volk mit ihren Irrlehren zu korrumpieren versuchen. Abergläubischere Leute (vor allem aus dem "einfachen Volk") bringen sie wohl auch mit den Dämonen, die den "hellbog" beherrschen in Verbindung.
Die Frage, ob man die Religion der "farmer priests" als Kommentar auf den christlichen Fundamentalismus interpretieren soll, dessen Einfluss auf Politik und Gesellschaft der USA Ende der 70er / Anfang der 80er Jahre merklich anzuwachsen begann, finde ich schwer zu beantworten. Gewisse Anklänge gibt es da sicher. Doch wie bereits gesagt, ist Karrs Darstellung weit entfernt von einer simplistischen Schwarz-Weiß-Malerei. Und das war eine sehr bewusste Entscheidung der Autorin:
In the world of the Tanglelands, the prejudice cuts both ways: the sorceri, who in some sense actually collaborate in their own persecution, are every bit as prejudiced against the farmer-priests as vice versa.
Als Opfer von Diskriminierung und Gewalt genießen die Sorceri natürlich unsere Sympathie. Selbst wenn sie mitunter aktiv dazu beitragen, ihren Ruf als "gefährliche Hexer" am Leben zu erhalten, da sie glauben, dass die Furcht vor ihren "dämonischen Kräften" sie vor gar zu unüberlegten Übergriffen schützen werde. Auch ist ihre Philosophie der Gewaltlosigkeit und kompromisslosen Wahrhaftigkeit (Frostflower weigert sich selbst in extremen Situationen zu lügen oder jemanden aktiv zu verletzen), sicher anziehender als die Lehren von Gehorsam und Höllenpein. Auch wenn ich zugeben muss, dass mir das Ganze streckenweise etwas zu sehr nach New Age geschmeckt hat. Ein Einfluss, dem man in der Fantasyliteratur der 80er Jahre ja nicht selten begegnet. Glücklicherweise ist er hier aber nicht gar zu aufdringlich.
Dennoch sind die Sorceri nicht die unfehlbaren Besitzer von Weisheit und Wahrheit. Frostflowers Sicht auf die Religion der übrigen Bewohner der Tanglelands gleicht zu Beginn (wohl nicht zufällig) ganz der simplistisch-"aufklärerischen" "Priestertrugs-These". Sie glaubt, dass es sich dabei um eine zynische Erfindung der "farmer-priests" handelt, die ausschließlich dazu dient, deren privilegierte Stellung zu legitimieren. Und sie ist mehr als ein wenig überrascht, als sie feststellen muss, dass Leute wie Maldron und seine Ehefrau Inmara tatsächlich an ihre Götter glauben. Und dass ihnen ihre Religion nicht weniger wichtig ist als den Sorceri ihre Philosophie und ihr Ein-Gott-Glaube. Am Ende des Romans zeigt sich außerdem, dass auch die Weltsicht der Sorceri in mindestens einem zentralen Punkt fehlerhaft ist.
Damit kommen wir zu dem Element des Romans, über das es mir am schwersten fällt, zu schreiben. Der Rolle, die ein Akt sexualisierter Gewalt für die Handlung spielt.
Wie schon erwähnt, sind sowohl die "farmer priests" als auch die Sorceri selbst davon überzeugt, dass Jungfräulichkeit die unabdingbare Voraussetzung für den Einsatz von Magie ist. Für die Sorceri ist das sogar ein zentraler Punkt ihrer Philosophie und hat etwas mit ihrem Verständnis vom göttlich-natürlichen Gleichgewicht der Kräfte zu tun. So gesehen erscheint es auf perverse Weise nur folgerichtig, dass Sorceri, die sich vermeintlich besonders großer Verbrechen schuldig gemacht haben, als Teil ihrer Bestrafung vergewaltigt werden. Das gilt für Männer wie für Frauen. Schließlich kann ihnen nur auf diese Weise ihre Macht genommen werden. Der Vergewaltiger bzw. die Vergewaltigerin wird dies allerdings kaum je ganz freiwillig tun, da die Sorceri für gewöhnlich den letzten Rest ihrer Macht einsetzen, um ihre Peiniger*innen auf magische Weise um Jahrzehnte altern zu lassen.
Nun galt es schon Ende der 70er Jahre als ein Klischee der Sword & Sorcery, dass die Heldin vergewaltigt wird, um danach zur rächenden Kämpferin zu werden. Und natürlich wurde das auch zu dieser Zeit bereits kritisiert. So schrieb Jessica Amanda Salmonson in ihrer 1979 erschienen Anthologie Amazons!: "It is not heartwinning to think women need be raped to metamorphose from victim to warrior." (S. 51) Ich bin mir nicht ganz sicher, wie verbreitet dieser Trope im Genre tatsächlich war. Mit der Figur von Red Sonja besaß er auf jeden Fall eine sehr prominente Vertreterin, und mir sind auch ein paar weitere Beispiele bekannt.
Ich bin kein grundsätzlicher Gegner von Rape-Revenge-Geschichten. Allerdings auch kein großer Freund derselben. Und als klischeehafte Origin Story einer Heldin sollte man sie ganz sicher nicht verwenden. Frostflower and Thorn gehört aber ohnehin nicht in diese Kategorie. Zwar wird Frostflower ein Opfer sexualisierter Gewalt, nachdem sie dem "farmer-priest" Maldron ein zweites Mal in die Hände gefallen ist, aber das macht sie in der Folge nicht zur wütenden Rächerin. Vergeltung ist kein Motiv, das in dem Roman eine Rolle spielen würde.
Nichtsdestotrotz ist dies ein wichtiger Wendepunkt in der Handlung. Besteht die zweite Hälfte des Romans doch hauptsächlich aus Thorns Bemühungen, zuerst Frostflowers Leben zu retten und dann ihren Lebenswillen neu zu wecken. Denn für die Zauberin ist das, was man ihr angetan hat, mehr als nur eine furchtbare Gewalttat. Sie hat das Gefühl, dass man ihr zugleich mit ihren magischen Kräften einen essenziellen Teil ihrer selbst geraubt hat.
Statt dem genreüblichen Racheverlangen steht bei Karr also der aus Freundschaft geborene Versuch zu helfen und zu heilen im Zentrum. Dabei ist Thorn wirklich alles andere als die geborene "Heilerin". Ihrem Temperament würde es viel eher entsprechen, das Schwert zu zücken. Aber sie weiß, dass Frostflower damit nicht geholfen ist. Und auch wenn diese sich zeitweilig selbst aufgegeben hat, ist Thorn nicht bereit, das einfach so hinzunehmen. Schließlich gelingt es ihr sogar, ihre Freundin davon zu überzeugen, dass diese den vermeintlichen Verlust ihrer Kräfte nicht einfach als eine unumstößliche Tatsache akzeptieren sollte. Nur weil alle Welt etwas glaubt, muss es nicht stimmen. Und tatsächlich gewinnt Frostflower am Ende des Romans ihre Magie zurück. Und widerlegt damit einen zentralen Punkt ihrer eigenen Weltanschauung.
Es ist diese zweite Hälfte des Romans, in der die ursprünglich ja ganz zufällige und zuerst einmal sehr zweckorientierte Bekanntschaft der beiden zu einer echten Freundschaft vertieft wird. Thorn rettet Frostflower in mehr als nur einer Hinsicht das Leben. Und die Schilderung dieser sich allmählich (und anfangs fast "gegen den Willen" der Beteligten) entwickelnden Freundschaft zwischen zwei sehr unterschiedlichen Frauen ist sicher einer der sympathischsten Aspekte des Romans. Denn auf den ersten Blick "passen" die beiden eigentlich überhaupt nicht zueinander. Die impulsive, pragmatische, leicht hedonistische, zu vulgärer Sprache und Aggressivität neigende Thorn und die sanftmütige, philosophisch veranlagte, sehr idealistische und einem eher asketischen Lebenswandel anhängende Frostflower. Besonders gut hat mir dabei gefallen, wie Karr die unterschiedlichen Persönlichkeiten ihrer beiden Heldinnen auch in Sprachstil und Wortwahl zum Ausdruck bringt, abhängig davon aus welcher Perspektive die jeweilige Passage erzählt wird. (Einer meiner Lieblingssequenzen: "Anyway, the swordswoman could not squat here like a cheese waiting to go moldy. She had to get out.")
Für die Autorin sind die beiden in gewisser Hinsicht Archetypen. Wie sie im Vorwort zur Neuauflage des Romans von 2012 schreibt:
My most important characters tend to fall into one of two types.
Recognizing them in the Biblical Martha and Mary of Bethany, I suspect they are archetypes, known to many other human beings besides me.
Believing them not so much androgynous as transcending gender lines, in my mind I call them Sir Kay and Sir Ruthven. Based on my own readings of the Arthurian romances and the Gilbert & Sullivan operas, this is in general the way I see them: Kay is practical, hard-spoken, impatient (especially with incompetence), no-nonsense, brusque to the point of rudeness; Ruthven (a.k.a. Robin Oakapple) is gentle, dreamy, a bit shy, almost unfailingly courteous, yet with some lurking potential for mischief. Both have a streak of idealism, but Kay’s takes the form of feisty determination to see things done right and refusal to suffer fools gladly, while Ruthven’s tends to greater introspection [...]
I call them Sir Ruthven and Sir Kay, after two of my lifelong favorites in other writers’ works [...]
I could also call them Frostflower and Thorn.
Aber Archetypen sind, wenn man auf geschickte Weise mit ihnen arbeitet, nicht das selbe wie Klischees. Und so sind auch Karrs Heldinnen lebendig gezeichnete Menschen mit individuellen Persönlichkeiten.
Wo der Roman für mich ein wenig ins klischeehafte abrutscht, ist in der Charakterisierung des Antagonisten. Maldron ist auf eine geradezu monomanische Weise darauf fixiert, Frostflower nach ihrer Rettung vom Galgen erneut in die Finger zu bekommen. Der Grund dafür? Er hat sich in sie "verliebt". Besser gesagt: Er hat eine erotisch-sexuelle Obsession für sie entwickelt. Er will sie nicht töten, sondern zu seiner Konkubine machen (nachdem sie rechtlich nicht länger als legitime Nebenfrau in Frage kommt). Vielleicht stimmt das objektiv überhaupt nicht, sondern ist bloß Ausdruck meiner persönlichen Vorlieben und Abneigungen, aber ich finde das Motiv des "Hexenjägers", der eine Obsession für die "Hexe" entwickelt, etwas abgeschmackt. Ansatzweise findet man es schon in so klassischen Figuren wie dem Templer Brian de Bois-Guilbert aus Walter Scotts Ivanhoe oder auch Dom Frollo aus Victor Hugos Glöckner von Notre-Dame. Sicher ist es nötig, Maldron mit einer besonders starken Motivation für sein Handeln auszustatten. Aber ich hätte es sehr viel interessanter gefunden, wenn es ihm z.B. um die kompromisslose Verteidigung des Gesetzes gegangen wäre. Frostflower ist "schuldig" und darf sich auf keinen Fall ihrer Strafe entziehen! Dazu hätte man ihn nicht einmal zum blinden Fanatiker machen müssen. Sein Gedankengang hätte ebenso gut wie folgt aussehen können: Die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung beruht auf dem Respekt vor dem Gesetz. Wenn wir als "Autorität" einer "Schuldigen" erlauben zu entkommen, wie können wir dann erwarten, dass das "einfache Volk" den Gesetzen gehorcht?
Aber vermutlich ist das eine bloße Geschmacksfrage. Und die etwas klischeehafte Zeichnung Maldrons hat den Roman für mich nicht kaputt gemacht. Auch könnte ich mir vorstellen, dass die Figur des Händlers Spendwell vielen Lesenden sehr viel "problematischer" vorkommen wird.
Der ist nämlich der (wenn auch unfreiwillige) Vergewaltiger Frostflowers, hilft Thorn aber später, die Zauberin zu retten und in Sicherheit zu bringen. Sein Schuldbewusstsein ist sicher der Hauptgrund dafür, dass er relativ schnell bereit ist, sie zu unterstützen. Aber dennoch bekommt man den Eindruck, dass er das wahre Ausmaß dessen, was er Frostflower angetan hat, nie wirklich versteht. Und die Erzählung "maßregelt" ihn nicht dafür. Was jedoch keineswegs bedeutet, dass die Vergewaltigung selbst in irgendeiner Weise bagatellisiert würde. Das zeigt sich deutlich an der Art, wie Frostflower auf Spendwell reagiert.
Man kann das unangenehm finden, aber in meinen Augen entspricht diese Darstellung ziemlich gut dem Charakter der Welt, in der der Roman spielt. Vergessen wir nicht, dass eine solche Vergewaltigung in den Tanglelands nichts ungewöhnliches ist, und von der herrschenden Moral keineswegs verurteilt, sondern als ein Akt der "Gerechtigkeit" angesehen wird. (Der zweite Frostflower & Thorn - Roman beginnt mit einer Sequenz, in der Thorn auf den Befehl ihrer Oberen die Vergewaltigung eines männlichen Sorceron durchführen soll). Es ist deshalb keineswegs selbstverständlich, dass Spendwell überhaupt das Gefühl hat, etwas verwerfliches getan zu haben. Wenn sein Schuldeingeständnis dennoch etwas oberflächlich wirkt, dann kommt mir das in Anbetracht der Umstände nur realistisch vor. Einen expliziten Erzählerinnenkommentar dazu braucht es meines Erachtens nicht. Die Lesenden werden sich schon selbst ihr Urteil bilden können.
Schließlich noch ein paar Worte zu Inmara, der Hauptfrau Maldrons. Sie war für mich die sehr viel bessere Antagonistin als ihr Gatte. Ihr geht es weniger um die Bestrafung der "Hexe" als vielmehr darum, mit dem kleinen Starwind noch einmal ein Kind bekommen zu können, nachdem alle "Fruchtbarkeitsrituale", die sie gemeinsam mit ihrem Mann in den Wäldern durchgeführt hat, erfolglos geblieben sind. Dass sie damit eigentlich genau das tut, was man Frostflower vorwirft, nämlich ein Kind zu "stehlen", ist ihr in wachen Momenten zwar durchaus bewusst, aber es gelingt ihr, immer neue Argumente zu finden, mit denen sie ihr Verlangen vor sich selbst rechtfertigen kann. Mit ihr als "Gegenspielerin" erhält das ganze Szenario den Charakter eines Konfliktes zwischen "Müttern": Thorn ist die biologische Mutter, Frostflower die emotionale und Inmara wäre gerne beides, ist aber keines davon. Dabei ist sie nicht unsympathisch gezeichnet. Und anders als ihr Mann gelangt sie am Ende zur Einsicht in ihr Fehlverhalten.
Damit ist Inmara auch eine der Repräsentantinnen für das, was ich für eines der Hauptmotive der Erzählung halte. Für mich ist Frostflower and Thorn letztenendes nämlich vor allem (auch) ein Roman über
das Infragestellen von Weltanschauungen und Wertesystemen. Das Angenehme dabei ist, dass das auf allen Seiten geschieht. Niemand
ist hier im Besitz der absoluten "Wahrheit" -- nicht die Sorceri und nicht die "farmer priests". Dabei geht es Phyllis Ann Karr keineswegs darum, eine postmodern-relativistische Sicht zu vermitteln, die den Begriff der objektiven Wahrheit ablehnen und in unzählige subjektive Betrachtungsweisen und "Narrative" auflösen würde. Ihr geht es vielmehr um Offenheit, Toleranz, Menschlichkeit und um die Ablehnung von Rechthaberei und Grausamkeit, die aus derselben entspringt. Ob es den Einen Gott der Sorceri oder die vielen Götter der "farmer priests" tatsächlich gibt (die Erzählung gibt uns da keinerlei Hinweise, das hier könnte auch eine völlig götterfreie Welt sein) ist letztlich sehr viel weniger wichtig als die Art, wie wir Menschen miteinander umgehen.
Ist Frostflower and Thorn ein Sword & Sorcery - Roman? Wenn man darunter ausschließlich actiongeladene Abenteuer mit viel herumspritzendem Blut und Gedärmen versteht, wohl eher nicht. Auch wenn ich die eine "große" Action-Szene gegen Ende des Buches, in der es zu einem Scharmützel in den nächtlichen Gassen eines Dorfes kommt, extrem gut geschrieben fand. Andererseits gleicht vor allem Thorn in vielerlei Hinsicht schon einer ziemlich typischen S&S-Heldin. Wie die Autorin selbst diese Frage vermutlich beantworten würde, lässt ihre zweite Frostflower & Thorn - Kurzgeschichte A Night at Two Inns erahnen, die 1985 im zweiten Band von Marion Zimmer Bradleys Antho-Reihe Sword & Sorceress erschien.
Wie ich eingangs erwähnt habe, hat mich die erste dieser Stories auch nach mehrmaligem Lesen nicht wirklich vom Hocker reißen können. Aber im Grunde dient The Garnet and the Glory vor allem dazu, das Tor in ein ganzes Multiversum aufzustoßen, in dem Karrs Heldinnen in der Folge dann munter von Welt zu Welt hüpfen können. Da mir an ihrem ersten Roman so gut gefallen hatte, wie stark ihre Figuren in der Realität der Tangleands verankert sind, fand ich es zwar etwas schade, dass sie dabei deutlich an Bodenhaftung verlieren. Zugleich eröffnet sich damit aber auch die Möglichkeit für alle möglichen neckischen Crossovers. So besuchen Frostflower und Thorn in A Glassmaker's Courage (1989) das Universum von M. Coleman Eastons "Masters of Glass" - Romanen (die ich nicht gelesen habe), stolpern in The Dragon, the Unicorn and the Teddy Bear (1989) in eine Welt, die von lebendigen Spielzeugen (?) bevölkert wird, statten in The Truth about the Lady of the Lake (1990) Arthur und Merlin einen Besuch ab und begegnen in The Robber Girl, the Strangers, and Ole Lukoie (2003) schließlich Karrs eigenem "Räubermädchen", das seinerseits ja den Märchen von Hans Christian Andersen entsprungen war. A Night at Two Inns schließlich ist in erster Linie ein Kommentar auf die "klassische" Sword & Sorcery.
Frostflower und Thorn finden sich in einer Art tief verschneitem Limbo wieder, in dem zwei Gasthäuser auf sie warten. Das eine ist menschenleer und heruntergekommen, der Wirt ein missmutiger Geselle, der nicht einmal ernsthaft versucht, seinen potenziellen Gästinnen das Gefühl zu vermitteln, willkommen zu sein. In dem anderen steppt der Bär. Eine lärmende Gesellschaft von Haudegen und Halunken vergnügt sich mit Wein, Gesang und wilden Schaukämpfen. Unter den Feiernden finden sich auch die (natürlich nicht namentlich genannten) Comic-Inkarnationen von Conan und Red Sonja, die auf Thorn einen ziemlich lächerlichen Eindruck machen (nicht nur wegen des Chainmail Bikinis). Dennoch hat diese Taverne so einiges zu bieten, was die Kriegerin anzieht. Nicht nur wird hier dem Glücksspiel gefrönt (eine von Thorns großen Schwächen), sie beginnt auch sofort mit dem Satyr-Kellner zu flirten. Für Frostflower ist das alles natürlich eher nichts. Nach einiger Zeit erfahren unsere Heldinnen, dass eine der beiden Schenken in Wirklichkeit eine Art Wartehalle für Walhalla ist. In regelmäßgen Abständen kommen irgendwelche "Götter" vorbei, die alle Gäste einsacken, um sie dann in irgendeinem "ewigen Krieg" als Kanonenfutter zu verpulvern. Spätestens als ein Barde anfängt, eine lange Ballade anzustimmen, in der es hauptsächlich darum geht, wieviele Leute von irgendeinem Helden abgemetzelt wurden, sollte eigentlich kein Zweifel mehr daran bestehen, welche der beiden Tavernen gemeint ist. Thorn braucht trotzdem beinah zu lange, um drauf zu kommen (der Satyr ist aber auch einfach zu sexy).
Ich habe A Night at Two Inns als eine Kritik an den Klischees der "klassischen" Sword & Sorcery und vor allem an deren Verhältnis zu Gewalt und Blutvergießen gelesen. Wobei Karr jedoch zugleich anerkennt, dass zumindest eine ihrer beiden Heldinnen letztlich aus diesem Milieu stammt und ihm immer noch verbunden ist. Was für mich eine recht gute Beschreibung der Beziehung zwischen Frostflower and Thorn und der S&S darstellt.
Ach ja, eins noch zum Abschluss: Frostflower hat einen kleinen Mischlingshund namens Dowl, mit dem Thorn sich nur widerwillig anfreunden kann. Und alles ist besser mit kleinen Mischlingshunden.
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| Frostflower und Dowl. Illustration von George Barr für A Glassmaker's Courage. |
EDIT: Zwei Jahre nach Fostflower and Thorn erschien die Fortsetzung Frostflower and Windbourne. Phyllis Ann Karr hätte gerne noch einen dritten Band (Frostflower's Choice) geschrieben, doch fehlte dafür das Interesse des Verlags:
When every other writer in the SF/Fantasy field was moaning and groaning that their publishers forced them to do trilogies and didn't want anything else but trilogies, my publishers wouldn't let me do one! Frostflower and Thorn should have been a trilogy, but I guess the second book [...] fell so far behind the first in sales that Ace / Berkley decided they didn't want the third. (W)
* Alle Zitate, die aus diesem Interview stammen, werden im Folgenden mit einem (W) gekennzeichnet. Zitate, die weder mit einem Link noch mit einer solchen Kennzeichnung versehen sind, stammen sämtlich aus der 2012 erschienenen überarbeiteten Neuauflage von Frostflower and Thorn.