"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Samstag, 14. Dezember 2019

Klassiker wiederentdecken? Ein Gespräch über Joy Chants "Wenn Voiha erwacht"

Teil I: Matriarchat, Romantisierung, Utopie

Joy wer? Die 1945 in London geborene britische Fantasyautorin Eileen Joyce Rutter, Pseudonym Joy Chant, scheint heutzutage weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein.

Dass ihr Status einmal ein völlig anderer gewesen ist, lässt sich bereits daran ablesen, dass ihr erster Roman „Red Moon and Black Mountain“ („Roter Mond und Schwarzer Berg“), 1970 erstveröffentlicht, ein Jahr später in den USA im Rahmen der Ballantine Adult Fantasy - Reihe erschien. Jener Serie also, die von 1969-74 von Ian und Betty Ballantine herausgeben wurde, in der Hoffnung, den Erfolg von „Der Herr der Ringe“ zu wiederholen. Dazu kam es zwar nie, doch dafür machte die Reihe eine Vielzahl phantastischer Klassiker – von William Morris und Lord Dunsany über Hope Mirrlees und James Branch Cabell bis zu Clark Ashton Smith und Evangeline Walton – erneut einem breiteren Publikum zugänglich und trug viel dazu bei, die Fantasy als eigenständiges Genre zu etablieren. Chants Debüt befand sich also in ausgezeichneter Gesellschaft.

Allerdings dürfte ihr Erstlingswerk – eine Mischung aus Portal und High Fantasy, „Narnia“ und „Der Herr der Ringe“ – auf heutige Lesende ziemlich altbacken wirken. Besser gealtert sind da „Der Mond der brennenden Bäume“ („The Grey Mane of Morning“) und „Wenn Voiha erwacht“ („When Voiha Wakes“), die 1977 bzw. 1983 folgten. Die drei werden zwar manchmal als House of Kendreth-Trilogie bezeichnet, doch abgesehen davon, dass sie alle in der Welt Vandarei spielen, besteht inhaltlich kaum ein Zusammenhang zwischen ihnen. Auch verzichtet Joy Chant in den letzten beiden auf das Portal-Fantasy-Element und verbleibt in der Alternativwelt. Zugleich treten die übernatürlichen Motive von Buch zu Buch immer mehr in den Hintergrund.

Das einzige andere längere Buch, das Chant herausgebracht hat, ist „Könige der Nebelinsel“ („The High Kings“) von 1983/84, eine Nacherzählung von Episoden aus Geoffrey of Monmouths „Historia Regum Britanniae“, in dem sich die Autorin natürlich auch der Artus-Sage annimmt.
In einer Anthologie des Goldmann-Verlags erschien 1983 zusätzlich der Vandarei-Kurzroman „Die Mauern von Kophitel“ – interessanterweise wurde dieser lediglich auf Deutsch veröffentlicht.

Ist Joy Chant eine vergessene Klassikerin der Fantasy? Das ist vielleicht etwas hochgegriffen. Dennoch ist es schade, dass ihr Name den meisten nicht mehr bekannt sein dürfte. Umso mehr gilt das, da sie sich in ihren Vandarei-Romanen vieler Themen annimmt, die mit aktuellen Diversity-Debatten wieder aktuell geworden sind. Um dem ein bisschen entgegenzuwirken, haben wir, Peter Schmitt und Alessandra Reß, beschlossen, noch einmal „Wenn Voiha erwacht“ zu lesen. Im Anschluss ist das nachfolgende Chat-Gespräch entstanden.

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Worum geht es in „Wenn Voiha erwacht?“

Der relativ kurze, nicht ganz 200 Seiten umfassende Roman ist in der matriarchalischen Gesellschaft von Halilak angesiedelt. Unsere Protagonistin Rahiké ist die designierte Nachfolgerin der Herrin der Gemeinde Naramethé. Ihr geordnetes Leben, das bislang ganz ihren öffentlichen Pflichten und ihrer Tochter Burdal gewidmet war, gerät etwas durcheinander, als sie den jungen Mairilek kennenlernt und sich die beiden ineinander verlieben. Denn Mairilek ist ein spöttisch beäugter Außenseiter, da er von dem unbändigen Verlangen beherrscht wird, Musiker werden zu wollen. Doch für die ist kein Platz in Naramethé.

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PS: In den 70er/80er Jahren erfreute sich die Idee eines „urzeitlichen Matriarchats“ vor allem in feministischen Kreisen ja großer Beliebtheit. Mir ist das neulich wieder einmal in Jessica Amanda Salmonsons Vorwort zu ihrer 1979 herausgegebenen Anthologie „Amazons!“ untergekommen. Zwar ist die Vorstellung, dass in den frühesten menschlichen Gesellschaften die Frauen die dominierende Rolle gespielt hätten, sehr viel älter – ich selbst bin ihr zum ersten Mal bei Friedrich Engels begegnet („Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“) –, doch erlebte sie in dieser Zeit eine mächtige Renaissance. Vor diesem Hintergrund wird man wohl auch „Wenn Voiha erwacht“ sehen müssen. In einem Interview mit Raymond H. Thompson entwirft Joy Chant bezeichnenderweise ein sehr positives Bild von der Stellung der Frau in den alten keltischen Gesellschaften. Inwieweit es sich dabei um idealisierende Romantik oder historische Realität handelt, kann ich nicht beurteilen. Etwas überraschend fand ich es dann allerdings schon, dass sich der männliche Teil der Bevölkerung von Halilak nicht im Klaren darüber sein soll, dass zwischen Sex und Schwangerschaft eine Verbindung besteht. So etwas erscheint mir schwer vorstellbar.

AR: Als Teenager war ich eine Weile in einem Forum angemeldet, in dem sich Angehörige verschiedener neopaganer Strömungen ausgetauscht haben. Dort ist mir auch oft diese romantisierte Vorstellung der weiblichen Rolle insbesondere in keltischen Gemeinschaften begegnet, wobei ich den Eindruck hatte, dass diese tatsächlich sehr geprägt war durch Romane wie „Die Nebel von Avalon“. Zentral für diese Vorstellungen sind sicher die für die keltische(n) Religion(en) wichtigen Muttergöttinnen, die sich im Christentum höchstens noch in Form von Maria wiederfinden. Die tatsächliche Stellung von Frauen in keltischen Gemeinschaften zu beurteilen, ist aber glaube ich nach heutiger Quellenlage ziemlich schwierig. Wobei ich in dem Bereich auch nicht gerade eine Expertin bin …

Aber ich habe insgesamt den Eindruck, dass sich Chant in „Wenn Voiha erwacht“ verschiedenster romantisierter Vorstellungen, insbesondere auch aus ethnologischen Berichten bedient hat. Was du ansprichst, dass sich Teile der Bevölkerung von Halilak offenbar nicht der Verbindung aus Sex und Schwangerschaft bewusst sind, scheint mir lose an Bronisław Malinowskis Schilderungen von den Trobriand-Inseln aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angelehnt zu sein. Er berichtete damals, den indigenen Bewohnern sei nicht klar, dass der Mann eine Rolle bei der Zeugung der Kinder einnimmt. Spätere Ethnologen haben dieser Darstellung allerdings widersprochen.

Als ich „Wenn Voiha erwacht“ das erste Mal gelesen habe, muss ich so 17 oder 18 Jahre alt gewesen sein. Ich weiß, dass ich damals ziemlich fasziniert von der hier geschilderten Gesellschaft war, ebenso wie von jenen, die in „Der Mond der Brennenden Bäume“ auftauchen. Nach der klassischen Fantasy, die ich bis dahin gelesen hatte – „Drachenlanze“ beispielsweise, „Erdzauber“ oder einiges an Portal Fantasy –, erschien mir die Welt der Vandarei erfrischend anders. Muss sagen, dass ich diesen wilden Mix heute kritischer sehe, obwohl ich noch immer finde, dass die Gesellschaft von Naramethe in sich durchaus stimmig und glaubwürdig wirkt.

PS: Ich kenne mich mit keltischer Geschichte jetzt auch nicht so gut aus, aber was du von diesem Forum erzählst, hat mich an einen Artikel von Kari Sperring erinnert, der 2012 auf dem Blog von Charlie Stross erschienen ist und in dem die walisische Schriftstellerin diesen ganzen „Kelten-Mythos“ ziemlich gnadenlos auseinandernimmt: „The myths of Avalon“.

Interessant finde ich ja, dass „Wenn Voiha erwacht“ zwar in einer matriarchalischen Gesellschaft spielt, die Geschlechterordnung aber eigentlich nicht das Hauptthema des Romans ist. Mairilek „rebelliert“ am Ende zwar in gewisser Weise gegen die existierende Ordnung, aber nicht gegen die Frauenherrschaft.

Naramethé erscheint weder als utopischer Gegenentwurf zum Patriarchat, noch als eine simple Umkehrung der in ihm herrschenden Verhältnisse. Vielmehr kreiert Joy Chant eine ganz eigene Gesellschaftsordnung und beschreibt sehr überzeugend, wie das Denken und Fühlen, die Werte und das Weltbild der in ihr lebenden Menschen von dieser geprägt werden. Was ich für eine ihrer ganz großen Stärken als Schriftstellerin halte. Wie heißt es an einer Stelle so nett: „Ob (die Göttin) Voiha sie nun so träumte oder ob das Leben in Halilak sie so formte, es war wahr, dass nur wenige Männer über die unmittelbare Zukunft hinausblickten.

AR: Genau das meine ich mit der oben angesprochenen Stimmigkeit. Wobei ich in einigen Punkten durchaus eine Umkehrung patriarchalischer Strukturen und Motive sehe. Beispielsweise werden Männer oft nach ihrem Äußeren beurteilt und auf eine Art beschrieben, wie man es sonst aus den #dichterdran-Beispielen kennt. Außerdem wird z. B. in einem Gespräch gleich zu Anfang des Buchs deutlich, dass Mairileks Schwester diesen vor den anderen Frauen beschützen will, weil sie sich seiner Schönheit wie auch seiner Naivität bewusst ist. Mit umgekehrten Geschlechterrollen wäre das heutzutage noch ein normales Gespräch, obwohl es dort für den Lesenden ungewohnt und irritierend wirkt. Generell zeigt sich unter den Frauen von Halilak ein Hang dazu, Männer zu objektifizieren. Und immer wieder wird implizit erwähnt, dass Männer weniger wert sind – beispielsweise, wenn Enttäuschung über die Geburt eines Sohnes herrscht.

Utopisch ist die Gesellschaft sicher nicht, dafür herrschen trotz aller Zufriedenheit zu viele Zwänge und Ungleichheiten in Naramethé. Ich denke da auch an die Szene, als sich die Frauen aus Naramethé völlig entrüstet über die Nachricht zeigen, dass eine Botschafterin ihre vielversprechende Karriere an den Nagel gehängt hat, stattdessen mit einem Liebhaber fortgezogen ist und auch noch ihre Kinder mitgenommen hat.

Allerdings finde ich, dass der Sense of Wonder sehr stark durch eine Naivität aller Figuren transportiert wird, die einerseits anstrengend ist (ja, kann denn da keiner mal für sich selbst denken?!), andererseits aber für diese bemerkenswerte Form sozialer Zufriedenheit sorgt. Ich frage mich, ob ich die (fast) völlige Gewaltfreiheit in Naramethé als Folge dieser Zufriedenheit oder als Folge einer angeborenen oder anerzogenen Naivität sehen soll.

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Den zweiten Teil unseres Gesprächs werdet ihr in ein paar Tagen auf Alessandras Blog FragmentAnsichten lesen können. Und zwar genau hier.

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