Joy wer? Die 1945 in London geborene
britische Fantasyautorin Eileen Joyce Rutter, Pseudonym Joy Chant,
scheint heutzutage weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein.
Dass ihr Status einmal ein völlig
anderer gewesen ist, lässt sich bereits daran ablesen, dass ihr
erster Roman „Red Moon and Black Mountain“ („Roter Mond und
Schwarzer Berg“), 1970 erstveröffentlicht, ein
Jahr später in den USA im Rahmen der Ballantine Adult
Fantasy - Reihe erschien. Jener Serie also, die von 1969-74 von Ian
und Betty Ballantine herausgeben wurde, in der Hoffnung, den Erfolg
von „Der Herr der Ringe“ zu wiederholen. Dazu kam es zwar nie,
doch dafür machte die Reihe eine Vielzahl phantastischer Klassiker –
von William Morris und Lord Dunsany über Hope Mirrlees und James
Branch Cabell bis zu Clark Ashton Smith und Evangeline Walton –
erneut einem breiteren Publikum zugänglich und trug viel dazu bei,
die Fantasy als eigenständiges Genre zu etablieren. Chants Debüt befand
sich also in ausgezeichneter Gesellschaft.
Allerdings dürfte ihr Erstlingswerk –
eine Mischung aus Portal und High Fantasy, „Narnia“ und „Der
Herr der Ringe“ – auf heutige Lesende ziemlich altbacken wirken.
Besser gealtert sind da „Der Mond der brennenden Bäume“ („The
Grey Mane of Morning“) und „Wenn Voiha erwacht“ („When Voiha
Wakes“), die 1977 bzw. 1983 folgten. Die drei werden zwar manchmal
als House of Kendreth-Trilogie bezeichnet, doch abgesehen
davon, dass sie alle in der Welt Vandarei spielen, besteht
inhaltlich kaum ein Zusammenhang zwischen ihnen. Auch verzichtet Joy
Chant in den letzten beiden auf das Portal-Fantasy-Element und
verbleibt in der Alternativwelt. Zugleich treten die übernatürlichen
Motive von Buch zu Buch immer mehr in den Hintergrund.
Das einzige andere längere Buch, das
Chant herausgebracht hat, ist „Könige der Nebelinsel“ („The
High Kings“) von 1983/84, eine Nacherzählung von Episoden aus
Geoffrey of Monmouths „Historia Regum Britanniae“, in dem sich
die Autorin natürlich auch der Artus-Sage annimmt.
In einer
Anthologie des Goldmann-Verlags erschien 1983 zusätzlich der
Vandarei-Kurzroman „Die Mauern von Kophitel“ – interessanterweise wurde
dieser lediglich auf Deutsch veröffentlicht.
Ist Joy Chant eine vergessene
Klassikerin der Fantasy? Das ist vielleicht etwas hochgegriffen.
Dennoch ist es schade, dass ihr Name den meisten nicht mehr bekannt
sein dürfte. Umso mehr gilt das, da sie sich in ihren
Vandarei-Romanen vieler Themen annimmt, die mit aktuellen
Diversity-Debatten wieder aktuell geworden sind. Um dem ein bisschen
entgegenzuwirken, haben wir, Peter Schmitt und Alessandra Reß,
beschlossen, noch einmal „Wenn Voiha erwacht“ zu lesen. Im
Anschluss ist das nachfolgende Chat-Gespräch entstanden.
***
Worum geht es in „Wenn Voiha
erwacht?“
Der relativ kurze, nicht ganz 200
Seiten umfassende Roman ist in der matriarchalischen Gesellschaft von
Halilak angesiedelt. Unsere Protagonistin Rahiké ist die designierte
Nachfolgerin der Herrin der Gemeinde Naramethé. Ihr geordnetes
Leben, das bislang ganz ihren öffentlichen Pflichten und ihrer
Tochter Burdal gewidmet war, gerät etwas durcheinander, als sie den
jungen Mairilek kennenlernt und sich die beiden ineinander verlieben.
Denn Mairilek ist ein spöttisch beäugter Außenseiter, da er von
dem unbändigen Verlangen beherrscht wird, Musiker werden zu wollen.
Doch für die ist kein Platz in Naramethé.
***
PS: In den 70er/80er Jahren
erfreute sich die Idee eines „urzeitlichen Matriarchats“ vor
allem in feministischen Kreisen ja großer Beliebtheit. Mir ist das
neulich wieder einmal in Jessica Amanda Salmonsons Vorwort zu ihrer
1979 herausgegebenen Anthologie „Amazons!“ untergekommen. Zwar
ist die Vorstellung, dass in den frühesten menschlichen
Gesellschaften die Frauen die dominierende Rolle gespielt hätten,
sehr viel älter – ich selbst bin ihr zum ersten Mal bei Friedrich
Engels begegnet („Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und
des Staats“) –, doch erlebte sie in dieser Zeit eine mächtige
Renaissance. Vor diesem Hintergrund wird man wohl auch „Wenn Voiha
erwacht“ sehen müssen. In einem Interview mit Raymond H. Thompson entwirft Joy Chant bezeichnenderweise ein sehr positives Bild von der
Stellung der Frau in den alten keltischen Gesellschaften. Inwieweit
es sich dabei um idealisierende Romantik oder historische Realität
handelt, kann ich nicht beurteilen. Etwas überraschend fand ich es
dann allerdings schon, dass sich der männliche Teil der Bevölkerung
von Halilak nicht im Klaren darüber sein soll, dass zwischen Sex und
Schwangerschaft eine Verbindung besteht. So etwas erscheint mir
schwer vorstellbar.
AR: Als Teenager war ich eine
Weile in einem Forum angemeldet, in dem sich Angehörige
verschiedener neopaganer Strömungen ausgetauscht haben. Dort ist mir
auch oft diese romantisierte Vorstellung der weiblichen Rolle
insbesondere in keltischen Gemeinschaften begegnet, wobei ich den
Eindruck hatte, dass diese tatsächlich sehr geprägt war durch
Romane wie „Die Nebel von Avalon“. Zentral für diese
Vorstellungen sind sicher die für die keltische(n) Religion(en)
wichtigen Muttergöttinnen, die sich im Christentum höchstens noch
in Form von Maria wiederfinden. Die tatsächliche Stellung von Frauen
in keltischen Gemeinschaften zu beurteilen, ist aber glaube ich nach
heutiger Quellenlage ziemlich schwierig. Wobei ich in dem Bereich
auch nicht gerade eine Expertin bin …
Aber ich habe insgesamt den Eindruck,
dass sich Chant in „Wenn Voiha erwacht“ verschiedenster
romantisierter Vorstellungen, insbesondere auch aus ethnologischen
Berichten bedient hat. Was du ansprichst, dass sich Teile der
Bevölkerung von Halilak offenbar nicht der Verbindung aus Sex und
Schwangerschaft bewusst sind, scheint mir lose an Bronisław
Malinowskis Schilderungen von den Trobriand-Inseln aus der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts angelehnt zu sein. Er berichtete damals,
den indigenen Bewohnern sei nicht klar, dass der Mann eine Rolle bei
der Zeugung der Kinder einnimmt. Spätere Ethnologen haben dieser
Darstellung allerdings widersprochen.
Als ich „Wenn Voiha erwacht“ das
erste Mal gelesen habe, muss ich so 17 oder 18 Jahre alt gewesen
sein. Ich weiß, dass ich damals ziemlich fasziniert von der hier
geschilderten Gesellschaft war, ebenso wie von jenen, die in „Der
Mond der Brennenden Bäume“ auftauchen. Nach der klassischen
Fantasy, die ich bis dahin gelesen hatte – „Drachenlanze“
beispielsweise, „Erdzauber“ oder einiges an Portal Fantasy –,
erschien mir die Welt der Vandarei erfrischend anders. Muss sagen,
dass ich diesen wilden Mix heute kritischer sehe, obwohl ich noch
immer finde, dass die Gesellschaft von Naramethe in sich durchaus
stimmig und glaubwürdig wirkt.
PS: Ich kenne mich mit
keltischer Geschichte jetzt auch nicht so gut aus, aber was du von
diesem Forum erzählst, hat mich an einen Artikel von Kari Sperring
erinnert, der 2012 auf dem Blog von Charlie Stross erschienen ist und
in dem die walisische Schriftstellerin diesen ganzen „Kelten-Mythos“
ziemlich gnadenlos auseinandernimmt: „The myths of Avalon“.
Interessant finde ich ja, dass „Wenn
Voiha erwacht“ zwar in einer matriarchalischen Gesellschaft spielt,
die Geschlechterordnung aber eigentlich nicht das Hauptthema des
Romans ist. Mairilek „rebelliert“ am Ende zwar in gewisser Weise
gegen die existierende Ordnung, aber nicht gegen die
Frauenherrschaft.
Naramethé erscheint weder als
utopischer Gegenentwurf zum Patriarchat, noch als eine simple
Umkehrung der in ihm herrschenden Verhältnisse. Vielmehr kreiert Joy
Chant eine ganz eigene Gesellschaftsordnung und beschreibt sehr
überzeugend, wie das Denken und Fühlen, die Werte und das Weltbild
der in ihr lebenden Menschen von dieser geprägt werden. Was ich für
eine ihrer ganz großen Stärken als Schriftstellerin halte. Wie
heißt es an einer Stelle so nett: „Ob (die Göttin) Voiha sie
nun so träumte oder ob das Leben in Halilak sie so formte, es war
wahr, dass nur wenige Männer über die unmittelbare Zukunft
hinausblickten.“
AR: Genau das meine ich mit der
oben angesprochenen Stimmigkeit. Wobei ich in einigen Punkten
durchaus eine Umkehrung patriarchalischer Strukturen und Motive sehe.
Beispielsweise werden Männer oft nach ihrem Äußeren beurteilt und
auf eine Art beschrieben, wie man es sonst aus den
#dichterdran-Beispielen kennt. Außerdem wird z. B. in einem Gespräch
gleich zu Anfang des Buchs deutlich, dass Mairileks Schwester diesen
vor den anderen Frauen beschützen will, weil sie sich seiner
Schönheit wie auch seiner Naivität bewusst ist. Mit umgekehrten
Geschlechterrollen wäre das heutzutage noch ein normales Gespräch,
obwohl es dort für den Lesenden ungewohnt und irritierend wirkt.
Generell zeigt sich unter den Frauen von Halilak ein Hang dazu,
Männer zu objektifizieren. Und immer wieder wird implizit erwähnt,
dass Männer weniger wert sind – beispielsweise, wenn Enttäuschung
über die Geburt eines Sohnes herrscht.
Utopisch ist die Gesellschaft sicher
nicht, dafür herrschen trotz aller Zufriedenheit zu viele Zwänge
und Ungleichheiten in Naramethé. Ich denke da auch an die Szene, als
sich die Frauen aus Naramethé völlig entrüstet über die Nachricht
zeigen, dass eine Botschafterin ihre vielversprechende Karriere an
den Nagel gehängt hat, stattdessen mit einem Liebhaber fortgezogen
ist und auch noch ihre Kinder mitgenommen hat.
Allerdings finde ich, dass der Sense of
Wonder sehr stark durch eine Naivität aller Figuren transportiert
wird, die einerseits anstrengend ist (ja, kann denn da keiner mal für
sich selbst denken?!), andererseits aber für diese bemerkenswerte
Form sozialer Zufriedenheit sorgt. Ich frage mich, ob ich die (fast)
völlige Gewaltfreiheit in Naramethé als Folge dieser Zufriedenheit
oder als Folge einer angeborenen oder anerzogenen Naivität sehen
soll.
***
Den zweiten Teil unseres Gesprächs werdet ihr in ein paar Tagen auf Alessandras Blog FragmentAnsichten lesen können. Und zwar genau hier.
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