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Montag, 20. Mai 2024

Mehr Demokratie(n) in der Fantasy?

Ich begann diesen Beitrag vor drei Monaten zu schreiben, kurz nachdem Markus Mäurer auf Mastodon und Bluesky die folgende Frage gestellt hatte:

Wer kann mir (relativ klassische) Fantasy-Romane nennen, die in einer Sekundärwelt spielen und in denen Demokratie herrscht? Kein gerechter König, kein obskur berufener Rat der Weisen, keine Händlergilde, sondern wirklich demokratisch gewählte Volksfantasyvetreter. Mir will gerade keiner einfallen.

Ich fühlte mich dadurch an eine Diskussion erinnert, die im Frühjahr 2023 (damals noch auf Twitter) aufgekommen und in der es ebenfalls um die Frage gegangen war, warum es in der "klassischen" Fantasy so selten demokratische Staaten gibt und ob es nicht an der Zeit sei, dies zu ändern. Anlass waren die Krönungsfeierlichkeiten für Charles IIII. gewesen, die die (britische) Monarchie eine Zeit lang zum politischen Tagesthema gemacht und mit ihrem abstrusen Pomp zugleich die Absurdität des Fortlebens eines solchen feudalen Reliktes demonstriert hatten.

Schon damals hatte ich mir ein paar Gedanken zu dieser Frage gemacht. Nun versuchte ich, sie in eine geordnete Form zu bringen. Doch je länger ich an dem Text herumbosselte, desto unsicherer wurde ich. Waren meine Argumente wirklich schlüssig? Vor allem: Hielt ich sie selbst dafür? Schließlich ließ ich das Ganze erst einmal unvollendet liegen. Wenn ich den Beitrag nun doch fertig geschrieben habe und veröffentliche, dann unter dem Vorbehalt, dass es sich dabei eher um eine Art Protokoll meiner Überlegungen handelt und nicht um ein letztgültiges Urteil. Auch wenn es sich vielleicht anders liest.

Unter genrehistorischer Perspektive mag die Frage nach Demokratien in der Fantasyliteratur erst einmal etwas merkwürdig erscheinen. Was sich in den 60er-80er Jahren als "klassische" Fantasy herausbildete, speiste sich in erster Linie aus zwei Hauptströmungen -- der Sword & Sorcery und der High Fantasy. In beiden war aus nachvollziehbaren Gründen kaum Platz für solche Staatsformen, schon gar nicht, wenn man dabei (wie Markus) an moderne repräsentative Systeme denkt. Robert E. Howards Conan-Stories besaßen ihre Wurzeln vor allem in der historischen Abenteuergeschichte. Und Tolkiens Lord of the Rings war sogar in formaler Hinsicht als eine Art Wiederbelebung vormoderner Literaturformen konzipiert. Wie der Autor selbst es einmal ausgedrückt hat: "Mein Buch ist kein ‘Roman’, sondern eine ‘heroische Romanze’, eine ältere und ganz andere Art Literatur." (1) In beiden Fällen spielt die Handlung in einer fiktiven Vorzeit unserer Welt. Dementsprechend schaut dann halt auch die dort herrschende gesellschaftliche und politische Ordnung aus. Natürlich entwickelten sich beide Subgenres über die Jahrzehnte weiter, wurden vielgestaltiger und facettenreicher, aber ganz lösten sie sich nie von ihren Ursprüngen. So gesehen überrascht es auch nicht, dass wir in ihnen eher auf gekrönte Häupter als auf "Volksfantasyvertreter" stoßen.
 
Und ich sehe darin auch kein grundsätzliches Problem. Über den ideologischen Geist der Geschichten sagt das erst mal noch überhaupt nichts aus. Der lässt sich nur von Fall zu Fall bestimmen. Selbst Michael Moorcock, dessen Kritik an Tolkien & Co ja nicht gerade für ihren differenzierten Charakter bekannt ist, erklärte seinerzeit in dem Essay Starship Stormtroopers:  

Fiction about kings and queens is not necessarily royalist fiction any more than fiction about anarchists is likely to be libertarian fiction. [...] It depends what use you make of such characters in a story and what, in the final analysis, you are saying.
Dasselbe gilt für die soziale und politische Ordnung, in der die Handlung angesiedelt ist. Entscheidend ist nicht, wie diese aussieht, sondern wie an sie herangegangen wird.
     
Nun gibt es ironischerweise gerade in der amerikanischen Kultur (und Amerika dürfte nach wie vor den Fantasymarkt dominieren) eine lange Tradition der Romantisierung von Adel und feudalem Europa. Und es lässt sich nicht leugnen, dass diese zuweilen Hand in Hand mit höchst reaktionären politischen Kräften ging. So beschrieb schon Mark Twain in Life on the Mississippi die Rolle, die Walter Scotts Mittelalter-Romane bei der Entstehung des "chivalresken" Selbstbildes der Sklavenhalter-Oligarchie der Südstaaten gespielt hatten. Auch wenn er deren Bedeutung dabei sicher etwas übertrieb.
It was Sir Walter that made every gentleman in the South a Major or a Colonel, or a General or a Judge, before the war; and it was he, also, that made these gentlemen value these bogus decorations. For it was he that created rank and caste down there, and also reverence for rank and caste, and pride and pleasure in them.
Twain sah in der Ritterromantik eine direkte Reaktion auf den Freiheitsgeist der Französischen Revolution:
Then comes Sir Walter Scott with his enchantments, and by his single might checks this wave of progress and even turns it back; sets the world in love with dreams and phantoms; with decayed and swinish forms of religion; with decayed and degraded systems of government; with the silliness and emptiness, sham grandeurs, sham gauds, and sham chivalries of a brainless and worthless long-vanished society. (2)
Die Satire von A Connecticut Yankee in King Arthur's Court richtet sich zu einem Gutteil gegen dieses romantisch verklärte Bild des Feudalismus. Zumal auch die kapitalistischen Magnaten, die "robber barons", deren Aufstieg sich nach dem Bürgerkrieg während des sog. "Gilded Age" vollzog, in Ermangelung einer autochthonen aristokratischen Tradition (3) recht häufig mit dem feudalen Plunder Europas liebäugelten, um ihrer privilegierten Stellung "Glanz" und "Würde" zu verleihen. In leicht abgewandelter Form lässt sich diese Tendenz mitunter bis heute unter Verteter*innen der amerikanischen Elite und der wohlhabenden Mittelklasse beobachten.
 
Inwieweit diese Tradition auch in Teilen der (amerikanischen) Fantasyliteratur fortlebt, wäre sicher eine interessante Frage. Ich selbst spiele ja manchmal mit der These, dass der High Fantasy - Boom der 80er Jahre zumindest in Teilen die allgemeine reaktionäre Kehrtwende dieses Jahrzehnts widerspiegele. Bin mir allerdings bewusst, dass ich mich dabei auf sehr unsicherem Boden bewege und erst einmal viel mehr High Fantasy der Zeit lesen müsste, um das zu verifizieren. (Was kaum geschehen wird).
   
Aber schon die alte Romantisierung des europäischen Mittelalters enthielt natürlich nicht immer ein derartiges "politisches" Element. Oft genug handelte es sich einfach um eine Form von Exotik. Ein farbenfrohes Ambiente für Swashbuckling Adventures. Und es spricht nichts dagegen, daran anzuknüpfen, selbst wenn man jedwede Idealisierung des realen Feudalismus ablehnt. Wie Steven Brust einmal in seinem Blogbeitrag Fantasy Writing and Titles of Nobility geschrieben hat: 
For Americans there is an element of the romantic and the exotic about titles of nobility, about Baron Soandso, or Count Thisandsuch [...] In reality, the feudal landlords were vicious bloodsuckers – when not for personal reasons, than simply because of the nature of the property relations that ultimately defined everyone’s life. What I am not about to do is suggest that American fantasy writers ignore the exotic and romantic elements – your readers have them in their heads, and unless you see your job as primarily pedagogical (which I do not), what is in the reader’s head is key: it is easier to play with the reader’s head if you work with what you know is rattling around in there. 
What I want to point out is that the tension between the actual nature of the nobility and this sense of the romantic and exotic is something that, if we’re aware of it, we can play with to produce interesting effects.  Just a few subtle hints about the reality, while still permitting the swirling capes and Byronic posturing, can really bring home the world and the character, and add a sense of depth.  That is, be aware of the reality and of the feelings of the reader.
Soweit sie mir aus eigener Leseerfahrung bekannt sind, würde ich sagen, dass ihm dieses Spiel in seinen Vlad Taltos - Büchern ziemlich gut gelungen ist. Und diese Herangehensweise sagt mir deutlich mehr zu, als wenn ein Autor zwar mit dem ganzen (faux)-feudalistischen Inventar der "klassischen" Fantasy spielen will, dann aber eine vom Volk gewählte Königin oder ein gesetzgebendes Parlament einbaut, weil er glaubt, dass das seine Erzählung irgendwie "progressiver" machen würde.
 
Ein nettes Fallbeispiel dafür ist Terry Brooks' The Sword of Shannara.
Das 1977 erschienene Buch ist bekanntlich ein ziemlich dreister Lord of the Rings - Klon. Nichtsdestotrotz flechtet Brooks hie und da eigene Ideen in die Handlung ein und setzt dabei deutlich andere Akzente als Tolkien. Callahorn ist sein Äquivalent zu Gondor. Das Reich bildet eine Art Schutzwall für die "freien Völker" gegen die Bedrohung durch die Horden des Bösen. Doch anders als Tolkiens "Turm der Wacht" ist Callahorn dabei nicht der Hüter des Erbes einer edleren Vergangenheit. Eine solche hat es in Brooks' Welt nie gegeben. Vielmehr repräsentiert das Reich die Verheißung einer besseren, menschlicheren Zukunft:
[Die Hauptstadt] Tyrsis war die Wegkreuzung der vier Länder, und durch seine Mauern und Landschaften strömten Angehörige aller Nationen, die den Einwohnern Gelegenheit gaben, zu sehen und zu begreifen, dass die Unterschiede in Gesicht und Körper bei den einzelnen Rassen unwichtig waren. Die Menschen hatten gelernt, die innere Person zu beurteilen. Ein riesiger Berg-Troll wurde nicht angestarrt und seiner bizarren Erscheinung wegen gemieden; Trolle kamen oft in dieses Land. Gnomen, Elfen und Zwerge aller Arten und Gattungen zogen regelmäßig hindurch, und wenn sie Freunde sein wollten, wurden sie willkommen geheißen. Balinor lächelte, als er von dieser neuen, sich ausbreitenden Erscheinung sprach, die endlich überall in den Ländern die Oberhand zu gewinnen schien, und er empfand Stolz darüber, dass sein Volk zu den ersten gehörte, die alte Vorurteile fallen ließen und nach gemeinsamen Grundlagen für Verständnis und Freundschaft suchten.
Soweit stellt das einen durchaus interessanten, wenn auch erzählerisch wenig überzeugend umgesetzten, Gegenentwurf zu Tolkien dar. Aber dann geht Brooks noch einen Schritt weiter und erklärt das Reich zu einer konstitutionellen Monarchie:
Callahorn war eine der wenigen aufgeklärten Monarchien der Welt [...] Theoretisch eine Monarchie, beherrscht von einem König, bestand die Regierung auch aus einer parlamantarischen Körperschaft, deren Repräsentanten vom Volk gewählt wurden und für die Verabschiedung der Gesetze verantwortlich waren.
Doch nichts von dem, was wir im weiteren Verlauf der Geschichte vom Leben im Reich zu sehen bekommen, passt zu dieser Erklärung. Callahorns Gesellschaft entspricht völlig dem genretypischen Pseudo-Mittelalter. Bestenfalls könnte man sich da so etwas wie Ständevertretungen vorstellen. Die Handlung konzentriert sich zudem völlig auf aristokratische Kreise und den Königsplalast. Und so muss die ohnehin nur nebenbei hingeworfene Bemerkung über ein gesetzgebendes Parlament als ungeschickter Versuch des Autors erscheinen, seinen liberalen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen, ohne gar zu weit von der Lord of the Rings - Schablone abzuweichen. 
 
Warum wirkt das Ergebnis so ungelenk? Ich würde behaupten, dass man als Leser*in unweigerlich das Gefühl bekommt, dass hier disparate Elemente nebeneinander gestellt werden, die sich nicht zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen. Wir wissen einfach irgendwie, dass man eine Staatsform nicht jeder beliebigen Gesellschaftsordnung aufpfropfen kann, sondern dass da ein innerer Zusammenhang besteht.
 
Allerdings würde ich einschränkend voranstellen, dass man bei dieser Frage den Charakter der jeweiligen Fantasywelt mit in Betracht ziehen muss. Es gibt meines Erachtens nämlich eine Reihe von "Welttypen", bei denen dieses Gefühl der Inkongruenz nicht notwendigerweise ein Problem darstellen muss -- im Gegenteil vielleicht sogar ästhetisch gewollt sein kann. (Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit).
 
Da wäre zuerst einmal das, was ich den "Traumland"-Typus nennen möchte: Lewis Carrolls Wonderland, die phantastischen Welten Lord Dunsanys, H.P. Lovecrafts Dreamlands, Frank Baums Oz etc. Neuere Beispiele wären etwa die Lands of Dream von Jonas & Verena Kyratzes oder auch die Herbstlande. (4) In atmosphärischer Hinsicht würde eine moderne repräsentative Demokratie in einigen von diesen sicher auch wie ein Fremdkörper wirken. Aber es wäre absurd, deren Existenz aus soziologischen Gründen für "unrealistisch" zu halten. Diese Welten funktionieren nach anderen Gesetzen. Niemand stellt sich die Frage nach der Feudalökonomie des Feenreiches. Und niemand sollte das.
Dem verwandt, aber nicht wesensgleich, sind Welten, deren "Phantastik-Grad" so hoch ist, dass im Grunde nichts in ihnen zu seltsam, bizarr oder grotesk wirken kann. Ich denke da z.B. an Jack Vance' Dying Earth oder auch an Teile des moorcock'schen Multiversums. Prinzipiell spräche auch hier nichts gegen die Existenz einer Demokratie. Und tatsächlich heißt es am Anfang der zweiten Corum - Trilogie (The Bull and the Spear), dass die Mabden (Menschen) nach der Zerstörung ihrer Götter u.a. "neue Gesetze" schufen, "die jedem das Recht gaben, in den Angelegenheiten des Staates mitzubestimmen". (5) Freilich beschränkt sich Moorcock klugerweise auf diese vage Andeutung. Sie reicht, um auszudrücken, worum es ihm geht, ohne Fragen nach dem konkreten Charakter dieser neuen Ordnung zu provozieren.
Schließlich gibt es auch noch eine Spielart der Fantasy, die den "anachronistischen Bruch" als ein bewusstes Stilmittel einsetzt. Ein gutes Beispiel dafür ist T.H. Whites The Once and Future King. Die Handlung des Romans spielt zwar ausdrücklich in einer Art parallelweltlichem 12. Jahrhundert und steckt voller mediävistischer Details. (Wobei allerding auch diese bereits sehr "frei" gehandhabt werden, hat White doch z.B. kein Problem damit, John Ball, den radikalen Prediger des 14. Jahrhunderts, in seine Geschichte einzubauen). Aber zugleich erlaubt es ihm seine spielerische (beinah schon "postmoderne") Herangehensweise (und die Figur des rückwärts in der Zeit alternden Merlin) ganz offen über Themen wie Nationalismus, Faschismus und Kommunismus zu reden. Ähnliches gilt für Naomi Mitchisons To the Chapel Perilous und (wenn meine Erinnerung mich nicht trügt) auch für Teile von Evangeline Waltons Mabinogion - Tetralogie. Da alle drei Werke Neubearbeitungen mittelalterlicher Stoffe sind, wäre ein demokratischer Staat wohl auch in ihnen unangebracht, aber ich könnte mir Romane ähnlichen Stils vorstellen, in denen das kein Problem darstellen würde. (6)
 
Völlig ausgestorben sind diese Spielarten der Fantasy sicher nicht. Doch wird das Genre meines Erachtens von einem anderen Typus dominiert, der mit einem sehr viel größeren "Pseudo-Realismus" daherkommt. Das äußert sich unter anderem in der zentralen Bedeutung, die einer speziellen Form des "Worldbuilding" zugesprochen wird. Die Sekundärwelt soll dabei im Idealfall "glaubwürdig" und "in sich konsistent" erscheinen. Was letztlich bedeutet, dass sie in weiten Teilen nach den selben Regeln funktioniert wie die Realwelt. Wo diese durchbrochen werden (etwa durch Magie), geschieht dies auf selektive und meist wiederum speziellen Regeln unterworfene Weise. (7)
 
In hohem Maße verantwortlich für die Vorherrschaft dieses Modells ist natürlich der Einfluss Tolkiens, der selbst bei Autor*innen nachwirkt, die das Werk des "Professors" gar nicht mehr aus eigener Leseerfahrung kennen. Er vor allem war es, der das Ausarbeiten der Sekundärwelt zu einem eigenständigen ästhetischen Unternehmen machte, weitgehend unabhängig von der Handlung der Erzählung.  Tolkien charakterisierte sein Werk denn auch einmal als "eine erweiterte Form des Spiels, ein Land zu erfinden". (8) Das Spiel selbst ist natürlich sehr viel älter als der Lord of the Rings und Arda keineswegs die erste Sekundärwelt der Phantastik (9), aber niemand dürfte es mit einer solchen Obsession für Einzelheiten betrieben haben wie der "Professor". "Ich habe es selbst gern, wenn Dinge im Detail ausgeführt werden und alle vernünftigen Fragen beantwortet werden können." (10) Allerdings war Tolkien nicht an den sozialen Faktoren interessiert, die in der Wirklichkeit den Fortgang der Geschichte bestimmen. Was erklärt, warum Mittelerde bei allen Kriegen und Katastrophen merkwürdig "statisch" wirkt. Sein Geschichtsbild war in erster Linie religiös geprägt und dabei extrem pessimistisch: "Ich bin nun einmal Christ, sogar Katholik, und darum erwarte ich von der ‘Geschichte’ nichts anderes als eine ‘lange Niederlage’" (11) Die einzige wirkliche Dynamik in seiner Historie von Mittelerde ist deshalb auch die eines langsamen Niedergangs des Schönen und Edlen. Aber auch wenn das nicht sein Hauptinteresse war, machte er sich zumindest Gedanken über die ökonomische Basis der Gesellschaften in seiner Sekundärwelt. Wie er in einem Brief an Naomi Mitchison schrieb:

Ökonomisches Denkens bin ich nicht unfähig oder unkundig, und ich denke, soweit es die "Sterblichen" betrifft, Menschen, Hobbits und Zwerge, sind die Situationen so angelegt, dass ökonomische Wahrscheinlichkeit gegeben ist und sich ausführen ließe: Gondor hat genug Lehensgüter und Ländereien in städtischem Besitz mit guten Wasser- und Straßenverbindungen, um seine Bevölkerung zu versorgen; und offenbar hat es viele Industrien, die allerdings kaum erwähnt werden. (12)
Für die uns beschäftigende Frage ist dieser Faktor von vorrangiger Bedeutung. Denn das oft gehörte Argument, in der Fantasy sei "alles möglich", gilt bei diesem Weltenmodell nur in sehr eingeschränkter Form, wenn das Ganze wirklich "in sich schlüssig" sein soll. Wenn in einer solchen Sekundärwelt eine Demokratie auftaucht, würde ich mich deshalb automatisch fragen: Wie hat eine solche Staatsordnung hier entstehen können? Auf welcher materiellen, sozialen und ökonomischen Grundlage basiert sie? Welche Schichten oder Klassen haben sie erkämpft? Und bei einer traditionell pseudo-mittelalterlichen oder von anderen vormodernen Kulturen inspirierten Fantasywelt würde ich schwerlich eine befriedigende Antwort auf diese Fragen erhalten können.
 
Staatsformen entstehen ja nicht spontan in einem historischen Vakuum oder sind die Umsetzung abstrakter Ideale, die den Einflüsterungen einer geheimnisvollen Inspiration entsprungen wären. Sie sind Produkt eines geschichtlichen Prozesses, der in letzter Instanz von der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und der auf ihr erwachsenen Teilung der Gesellschaft in Klassen bestimmt wird.  
Der Wunsch nach Freiheit und Gleichheit dürfte so alt sein wie die Existenz von Unterdrückung und Ausbeutung. Und er fand durch die Geschichte in einer Vielzahl von Formen Ausdruck. Aber kein Bauern- oder Sklavenaufstand, keine Revolte der städtischen Unterschichten brachte dabei in vorkapitalistischer Zeit etwas hervor, was einer repräsentativen Demokratie geähnelt hätte. 
Das absolute Maximum in dieser Hinsicht war die antike griechische (vor allem athenische) Demokratie mit ihrer gesetzgebenden Volksversammlung (ekklesia), ihren gewählten Staatsbeamten und Volksgerichten (dikasteria). Doch diese basierte ökonomisch auf Sklaverei (13) und dürfte wohl kaum das sein, was Markus und anderen als Modell vorschwebt.
Die parlamentarische Demokratie ist ein Produkt des Aufstiegs des Bürgertums zur herrschenden Klasse. Ihre Entstehung setzt voraus, dass die wirtschaftliche Entwicklung hin zum Kapitalismus begonnen hat, all die ständischen und korporativen Strukturen, persönlichen Bande und Hierarchien aufzulösen, in deren komplexes Geflecht die Menschen bis dahin eingebettet waren und über die sie sich selbst definierten. Erst deren fortschreitende Zersetzung bringt den Typus des "Citoyen" als lebendigen Trägers der Demokratie hervor. Ihre eigentliche Geburtsstunde aber ist die bürgerliche Revolution, wenn die Bourgeoisie sich an die Spitze der großen Masse des Volkes stellt und mit dessen Unterstützung die feudalen Mächte gewaltsam stürzt. Die dauerhafte Etablierung des allgemeinen Wahlrechts erfolgte in den meisten Fällen freilich erst später und durch den massiven Druck zuerst der plebejischen Schichten, dann der Arbeiterklasse.
 

Das "Lange Parlament", dessen Zusammentreten 1640 den Beginn der Englischen Revolution markierte

Die Gerichtsverhandlung gegen Louis Capet (Louis XVI.) vor dem Nationalkonvent von 1792

Natürlich ist es völlig okay, die Frage zu stellen, ob dieselben historischen Gesetzmäßigkeiten denn auch für eine Fantasywelt gelten müssen. Und selbst wenn es sich bei dieser um eine des "pseudo-realistischen" Typs handelt, würde ich das nicht unumwunden bejahen wollen. Auch in einer solchen könnte es eine ganze Reihe von Faktoren geben, die den Lauf der Geschichte auf eine in der Realität unbekannte Weise beeinflussen. Etwa das direkte Eingreifen übernatürlicher Mächte (Götter, Dämonen etc.). Auch die reale Existenz von Magie hätte sicher ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung. Und dasselbe dürfte wohl für die Existenz etwaiger nichtmenschlicher Völker gelten.
 
In unserer letzten Klassiker-Reread-Diskussion brachte Alessandra den interessanten Gedanken auf, dass die extreme Langlebigkeit einiger dieser Völker mit ein Grund für den "statischen" Charakter vieler "klassischer" Fantasywelten sein könnte. Ich denke, das ist ein valider Punkt. Tolkiens Elben sind vielleicht die ersten, die einem da einfallen würden. Aber sie stellen in gewisser Weise einen Sonderfall dar, auch wenn ihr Vorbild selbstverständlich viele spätere Autor*innen beeinflusst hat. (14) Doch wenn man z.B. die Dragaeraner aus Steven Brusts literarischem Universum nimmt, ließe sich durchaus argumentieren, dass deren Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende umfassende Lebensdauer zusammen mit der Organisation in kastenartigen "Häusern" mit ein Grund für die scheinbare Unveränderlichkeit der sozialen Struktur ihres Imperiums ist. Als einen zusätzlichen Faktor könnte man dort auch die Rolle der Magie ansehen. Selbige ist nämlich ziemlich "alltäglich" (jedenfalls für die, die sie sich leisten können) und erfüllt oft ähnliche Funktionen wie die Technik in unserer Welt. Weshalb manche Aspekte der dragaeranischen Gesellschaft auch erstaunlich "modern" wirken. Doch anders als technologische Entwicklungen führen magische nicht zu Veränderungen in den Produktionsbedingungen oder setzen diese voraus. Neue Magie führt nicht zur Entstehung von Manufaktur oder Fabrik. Und untergräbt damit auch nicht die traditionelle Ordnung.   
 
Ob vergleichbare "phantastische Faktoren" umgekehrt auch dazu verwendet werden könnten, um die Entstehung einer demokratischen Verfassung auf Grundlage einer vormodernen Wirtschaft "glaubwürdig" zu machen? Ich will das nicht von vornherein ausschließen, doch finde ich es schwierig, mir ein entsprechendes Szenario vorzustellen.
 
Natürlich ist mir bewusst, dass eine vermeintliche "historische Korrektheit" sehr gerne von Konservativen oder Reaktionären als Argument ins Feld geführt wird, wenn es darum geht, sexistische oder rassistische Elemente in der Fantasy zu verteidigen ("Damals war das halt so.") oder größere Diversität als "unrealistisch" und "politisch motiviert" zu verdammen. (Dass diejenigen, die das tun, oft selbst ein gehöriges Maß an historischer Ignoranz an den Tag legen, wäre ein Thema für sich). Nun könnte es so scheinen, als würde ich mich einer ähnlichen Argumentation bedienen. Aber es geht mir nicht eigentlich um "historische Korrektheit". Was in Bezug auf Fantasygeschichten ja auch in der Tat etwas unsinnig wäre. Selbst bei solchen, die sich relativ stark an historische Vorbilder anlehnen. Um ein besonders prägnantes Beispiel zu nennen: Maike Claußnitzers Aquae Calicis - Erzählungen orientieren sich in vielem recht genau an der Wirklichkeit des europäischen Frühmittelalters. (Wenn auch mit deutlich mehr Geistern, Kobolden und hübsch-handlichen Drachen). Doch herrscht in ihrer Welt eine ganz selbstverständliche Gleichberechtigung der Geschlechter. Was ich keineswegs als irritierend, sondern vielmehr als sehr angenehm empfinde. Denn es passt zum Charakter der Geschichten. Wenn mir die Vorstellung von Demokratien in einem "klassischen" Fantasysetting nicht so recht gefallen will, dann nicht, weil sie "historisch inkorrekt" wäre, sondern weil sie "soziologisch" unglaubwürdig wirkt. (15) Zumindest im Kontext eines "pseudo-realistischen" Weltenbaus.
 
Der Hauptgrund für meine Irritation dürfte allerdings darin bestehen, dass mir in diesen Diskussionen sehr oft ein weltanschaulicher Ansatz mitzuschwingen scheint, dem ich ausgesprochen kritisch gegenüberstehe. Mein Eindruck ist nämlich, dass im "progressiven" Flügel unserer Phantastikszene eine (im philosophischen Sinne) idealistische Sicht auf Geschichte und Gesellschaft vorherrscht. D.h. die Überzeugung, die soziale Wirklichkeit werde von den Ideen der Menschen (ihren Wertvorstellungen, Ideologien, "Mythen" etc.) geformt, und nicht umgekehrt. Während ich selbst an dem alten marx'schen Diktum festhalte, das da lautet: "Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt." (16) 
Trennt man die Ideen auf diese Weise von ihren materiellen Wurzeln, fällt es auch sehr viel leichter, sie aus ihrem historischen Entwicklungszusammenhang zu lösen. Auf die uns hier interessierende Frage angewandt: Wenn die "moderne" Demokratie die Umsetzung einer Idee ist -- der der politischen Gleichheit aller Bürger*innen --; und wenn diese Idee ihre Entstehung nicht in letzter Konsequenz der materiellen (ökonomischen) Entwicklung verdankt, sondern "ganz einfach" (quasi spontan) dem menschlichen Geist entsprungen ist; dann spricht im Grunde nichts dagegen, sich eine solche Staatsform in einer Gesellschaft vorzustellen, deren wirtschaftliche Entwicklung sich auf dem Niveau des europäischen Mittelalters befindet.
Freilich wird man dann auch kaum eine befriedigende Antwort auf die Frage geben können, warum dies nicht auch in der Realität der Fall gewesen ist. Letztenendes wird man sich gezwungen sehen, auf den hochmütigen Standpunkt der Aufklärungsphilosophen zurückzufallen, die den Menschen des "dunklen Zeitalters" einen Mangel an Einsicht und Vernunft unterstellten. Denn wie anders könnte man erklären, dass diese sich von "Königen und Pfaffen" beherrschen ließen?
Man könnte das natürlich für eine reichlich abstrakte, "geschichtsphilosophische" Frage halten. Doch begünstigt eine idealistische Weltsicht auch eine entsprechende politische Praxis. Wenn die gesellschaftliche Realität letztenendes von unseren Ideen geformt wird, dann ist alles, was es zu ihrer Verränderung braucht, neue oder andere Ideen. Mitunter geht diese Philosophie sogar so weit, sozioökonomische Systeme wie Kapitalismus oder Imperialismus in bloße Ideenkomplexe oder "Narrative" aufzulösen. Um anschließend zu proklamieren, wir bräuchte "neue Erzählungen" oder "neue Arten des Erzählens". Damit nährt sie die Illusion, ein bloßes "Umdenken" sei bereits ein politischer Akt, vielleicht sogar der entscheidende politische Akt. Die handfesten materiellen Eigentums- und Machtverhältnisse geraten dabei oft aus dem Fokus.
 
Doch bevor wir uns noch weiter von unserem eigentlichen Thema entfernen, trete ich lieber rasch auf die Bremse.
 
Was ich mit dem Ganzen hier nicht sagen will, ist, dass die "klassische" Fantasy meiner Meinung nach auf ewig an die altbekannten pseudo-mittelalterlichen und oft eurozentrischen Szenarien gekettet wäre. Schon in der historischen Realität hat es ja eine Vielzahl sehr unterschiedlicher vorbürgerlicher Herrschafts- und Gesellschaftsformen gegeben. Und natürlich spricht nichts dagegen, sich außerdem völlig neue und phantastischere auszudenken. 
Auf demokratische Elemente muss man dabei keineswegs völlig verzichten. Nur sollten sie halt dem Entwicklungsgrad der beschriebenen Gesellschaft angemessen sein.
Einem ziemlich gelungenen Beispiel hierfür bin ich kürzlich im Zuge unseres diesjährigen Klassiker-Rereads begegnet. Ein Gutteil der Handlung von Die Tänzer von Arun, dem zweiten Band von Elizabeth A. Lynns Chroniken von Tornor, spielt nämlich in der kleinen Stadt Elath. Und dort regiert ein Stadtrat. Einer der Charaktere fragt: "So wie der Rat der Häuser in Kendra-im-Delta [der größten Metropole des Landes]?" Worauf er die Antwort erhält: "Ja, ungefähr so. Er wurde nach ihm als Vorbild eingerichtet. Aber wir hier in Elath sind nicht ganz so großmächtig. Hier kann jeder, der Grund und Boden besitzt, Ratsmitglied werden. Es gibt hier keine Adelsfamilien wie in der Großen Stadt." (17) Eine solche "moderate", an Besitz in der Gemeinde gebundene "Demokratie" scheint mir durchaus zu den sozialen Verhältnissen zu passen, die in der Erzählung beschrieben werden. Während in den rein bäuerlichen Gemeinschaften des Galbareth (der Kornkammer des Landes) eher kollektivistische Strukturen vorzuherrschen scheinen (gemeinsame Speisehallen etc.), ist die Gemeinde in dem stärker vom Handwerk geprägten Elath bereits in einzelne Haushalte aufgespalten. Auch der Landbesitz ist parzelliert. Aber anders als in den größeren Städten sind die Klassengegensätze noch relativ unentwickelt. Es scheint keine extrem armen oder extrem reichen Familien zu geben. Während sich in Kendra schon seit langem eine Oligarchie herausgebildet hat, die ursprünglich wohl auf Großgrundbesitz basierte, herrscht in Elath noch eine relative soziale Gleichheit. Was seinen Ausdruck dnn halt auch in der politischen Ordnung gefunden hat. Eine moderne Demokratie ist der Ort natürlich trotzdem nicht. Auch reicht die "Herrschaft" des Rates nicht über die Grenzen der Gemeinde hinaus.
 
Noch viel weniger geht es mir darum, behaupten zu wollen, die "klassische" Fantasy sei von Natur aus ungeeignet, aktuelle politische Themen anzusprechen. Das ist ja auch anhand genuin historischer Stoffe sehr gut möglich. Ich denke da z.B. an Bertolt Brechts Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar oder an Spartacus von Stanley Kubrick & Dalton Trumbo, die beide unter anderem den Aufstieg des Faschismus bzw. die Etablierung autoritärer Regime thematisieren. (18) 
Natürlich erlauben sich die Künstler gewisse Freiheiten mit der historischen Realität, wenn sie die Klassenkämpfe der Antike mit denen ihrer eigenen Zeit parallel setzen. Wie anders könnten z.B. die Anhänger Catilinas bei Brecht zu einem Stand-in für Kommunisten werden? Aber gewisse Grenzen werden dabei nicht überschritten. Und  da es aus naheliegenden Gründen nicht zum dauerhaften Sieg der Ausgebeuteten kommen kann, stellt sich auch nicht das Problem anachronistischer Staatsformen ein.   

Etwas ähnliches ist auf ähnliche Weise sicher auch in der "klassischen" Fantasy machbar. Und ich denke, es wäre gar nicht so schlecht, wenn sich die Autor*innen dabei gleichfalls von den realen Klassenkämpfen der Vergangenheit inspirieren ließen. Das Material ist reichhaltig, vielfältig, in allen Kulturkreisen anzufinden und (soweit ich das beurteilen kann) von der Fantasy bislang nur wenig genutzt. Eine eingehendere Beschäftigung mit diesen historischen Episoden könnte u.a. dazu beitragen, den entsprechenden Erzählungen eine größere soziale Konkretheit zu verleihen. Statt eines Kampfes um abstrakte Ideale, Konflikte, die im realen Leben der Betroffenen verwurzelt sind, den sozialen Verhältnissen entspringen, unter denen sie existieren. Dabei zugleich aktuelle politische Fragen unserer Zeit zu berühren, sollte durchaus möglich sein. Vorausgesetzt man hält es nicht für notwendig, dabei gar zu direkt und unverhüllt vorzugehen.

Natürlich will ich damit nicht sagen, dass alle Welt nun "klassische" Fantasy über Bauernaufstände und Zunftrevolten schreiben solle. Zumal die erfolgreiche künstlerische Darstellung einer Revolution eine ziemlich schwierige Angelegenheit ist. Gar zu schnell driftet man dabei ins Romantisierende oder Pathetische ab. (19) Mich irritiert zwar schon, dass "politische Kämpfe" in der Fantasy immer noch viel zu oft aus dem Machtgerangel und den Intrigen aristokratischer Häuser und Sippen zu bestehen scheinen. Und ich würde mir durchaus wünschen, dass wir zur Abwechselung statt der "Politik der Herrschenden" auch einmal die "Politik der Beherrschten" zu sehen bekämen. Aber das kann ja sehr unterschiedliche Formen annehmen und der offene Aufstand muss dabei nicht notwednigerweise im Zentrum stehen. Mein ganz persönlicher Traum ist es immer noch, mich irgendwann einmal daran zu versuchen, Sword & Sorcery in der Ära des Großen Bauernkrieges (1525) zu schreiben. Dabei hätten mein Held und meine Heldin in ihrer Vergangenheit zwar auf unterschiedliche Weise Kontakt zu den revolutionären Bewegungen der Zeit gehabt, doch würde ich sie garantiert nicht an der Spitze aufständischer Bauernhaufen irgendwelche Klöster oder Burgen erstürmen lassen. Mir würde es mehr um die allgemeine Atmosphäre einer gesellschaftlichen Umbruchszeit gehen.

Kommen wir zum Ende. Mein vorläufiges Fazit wäre wohl ungefähr das Folgende: Ich wüsste nicht, warum wir mehr Demokratien in der "klassischen" Fantasy bräuchten. Es sei denn, wir wollten auch weiterhin Geschichten über "edle" Herrscher und "Reiche des Guten" schreiben, zierten uns aber, diese dann als Könige und Monarchien darzustellen. Für mich kein ausreichender Grund. 
Sehr viel wichtiger scheint mir eine kritische Haltung gegenüber Macht und Hierarchien, gegenüber den Reichen und Mächtigen, ganz gleich, welche politische Form deren Herrschaft besitzt. 
Das heißt nicht, dass Vertrer*innen der privilegierten Schichten grundsätzlich negativ oder unsympathisch gezeichnet werden müssten. Krude Karrikaturen, gleich welcher Art, haben ganz allgemein nur einen sehr begrenzten Wert. Ebensowenig, dass unsere Held*innen notwendigerweise dem einfachen Volk entstammen müssten -- trotz meiner oft erklärten Vorliebe für die plebejischen Underdog-Held*innen der Sword & Sorcery.
Mir geht es vielmehr um eine bestimmte Grundhaltung auf Seiten der Auor*innen. Und um ein Verständnis dafür, wie die soziale Ordnung einer Welt nicht nur das Leben, sondern auch das Denken und Empfinden jener prägt oder beeinflusst, die in ihr existieren. Wobei es selbstverständlich ganz vom Charakter der jeweiligen Geschichte abhängt, wie groß die Rolle tatsächlich ist, die diese Faktoren in ihr spielen werden. 
Von Vorteil bei dem Ganzen ist auf jedenfall immer, wenn die Autor*innen eine Ahnung davon haben, wie Herrschaft, soziale Hierarchien, Ausbeutung etc. in der Realität funktionieren -- historisch und gegenwärtig.

 

     

 

   

 

(1) Brief an Szabó Szentmihályi [Oktober 1971]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 329. S. 539.

(2) Mark Twain: Life on the Mississippi. Kapitel XLVI. S. 314f.

(3) Genaugenommen hatte zwar auch Amerika eine Aristokratie (Gentry) und semi-feudale Hierarchien gekannt, doch waren diese durch die Revolution von 1776 und die aus ihr hervorgegangenen Entwicklungen zerschlagen worden. Und da der Unabhängigkeitskrieg die Geburtsstunde der Vereinigten Staaten gewesen war, musste es quasi unmöglich erscheinen, an diese Vergangenheit anzuknüpfen, wenn man zugleich die Fahne des Patriotismus hochhalten wollte. Nur proto-faschistische Denker wie der Eugeniker und Rassentheoretiker Lothrop Stoddard "wagten" es, ganz offen und direkt das Erbe der Revolution zu attackieren.
 
(4) Von letzteren habe ich bislang allerdings nur Alessandras Roman Die Sommerlande gelesen, mein Wissen ist also beschränkt.

(5) Michael Moorcock: Das Buch Corum. S. 467.

(6) Außen vor bleiben bei unseren Betrachtungen Universen wie das von Mervyn Peakes Gormenghast, die sich bewusst jeder klaren "historischen" Verortung entziehen, sowie industrialisierte Fantasywelten wie China Miévilles Bas-Lag oder das Faerie in Michael Swanwicks The Iron Dragon's Daughter.
 
(7) Es würde deutlich zu weit führen, diese Herangehensweise an "phantastische Welten" an dieser Stelle einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Ich möchte darum bloß kurz auf M. John Harrisons Essay What It Might Be Like To Live In Viriconium verweisen.
 
(8) Brief an Naomi Mitchison [5. September 1954]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 154. S. 259.
 
(9) Oft wird in diesem Zusammenhang auf William Morris und seine Erzählungen The Well at the World's End, The Wood Beyond the World, The Water of the Wondrous Isles und The Sundering Flood verwiesen. Aber wie Matthew David Surridge in seinem Essay Worlds Within Worlds überzeugend dargelegt hat, gebührt diese Ehre wohl eigentlich Sara Coleridge mit ihrem Roman Phantasmion. Die erste detaillierte erfundene Mythologie dürfte Lord Dunsanys Gods of Pegana gewesen sein.

(10) Brief an Naomi Mitchison [25. April 1954]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 144. S. 230.

(11) Brief an Amy Ronald [15. Dezember 1956]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 195. S. 336.
 
(12) Brief an Naomi Mitchison [25. April 1954]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 144. S. 230.
 
(13) In seiner klassischen Studie The Class Struggle in the Ancient Greek World stellt G.E.M de Ste. Croix sogar die These auf, dass der Sklavenarbeit in den antiken Demokratien eine besonders große Bedeutung zukam, da das politische Regime der Ausbeutung des freien demos (Bauern, Pächter, Handwerker, kleine Kaufleute) gewisse Grenzen setzte, die in Oligarchien und Despotien nicht existierten. Die herrschende Klasse war deshalb "gezwungen", einen größeren Teil ihres "Einkommens" aus der Ausbeutung unfreier Arbeit zu beziehen, wenn das System seine Stabilität behalten sollte.
 
(14) Tolkien hegte eine tiefe Abneigung gegen allegorische Literatur. Seine Elben *rein* allegorisch zu lesen, wäre darum sicher falsch. Doch diente ihm das Schicksal der Eldar u.a. zu einer erstaunlich ambivalenten und selbstkritischen Auseinandersetzung mit einer Form von romantischem Konservatismus, der sich dem Wandel der Geschichte verweigert und um jeden Preis eine vermeintlich schönere und edlere Vergangenheit am Leben zu erhalten versucht. Dabei spielt deren Unsterblichkeit eine wichtige Rolle. Ich habe dieses Thema vor Zeiten schon einmal in meinem Blogbeitrag Der ehrliche Romantiker etwas ausführlicher behandelt. So ist es auch durchaus folgerichtig, dass die Elbenreiche des Dritten Zeitalters, vor allem Imladris und Lorien, keine "realistische" wirtschaftliche Grundlage besitzen. Bruchtal und der Goldene Wald sind in gewisser Hinsicht nicht mehr ganz Teil "dieser Welt". Es handelt sich bei ihnen um künstlich (magisch) geschaffene Enklaven, in denen der Lauf der Zeit durch die Macht der Ringe Vilya und Nenya weitgehend aufgehalten wurde.
 
(15) Okay, 100%ig voneinander trennen kann man das vermutlich nicht. Aber ich hoffe, es ist dennoch verständlich, was ich meine. Trotzdem könnte man mir an dieser Stelle vermutlich mangelnde Konsequenz vorwerfen. Schließlich besitzen auch patriarchale Strukturen ihre materiellen Wurzeln und eine Feudalgesellschaft, die völlig frei von ihnen wäre, ist darum wohl nur schwer vorstellbar. Dennoch besteht da für mich ein Unterschied. 

(16) Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort.

(17) Elizabeth A. Lynn: Die Tänzer von Arun. S. 100.
 
(18) Interessanterweise gilt dasselbe nicht auch für den Spartacus - Roman von Howard Fast, von dem das Drehbuch inspiriert worden war. Auch in dem geht es natürlich um Klassenherrschaft, Ausbeutung, Rebellion und den Kampf für Freiheit und Gleichheit. Aber anders als bei Trumbo & Kubrick wird nicht thematisiert, wie die Bedrohung durch eine Revolution als Hebel verwendet wird, um ein republikanisches System durch eine Militärdiktatur zu ersetzen. Ich schätze, dass dabei etwas von den Erfahrungen mitschwingt, die Trumbo, der ja selbst ein Opfer der Schwarzen Listen war, mit dem McCarthyismus gemacht hatte. Viele linke Intellektuelle der Zeit sahen in der antikommunistischen Hexenjagd die Vorstufe für ein faschistisches Regime in den USA. Howard Fast hatte zwar mindestens ebensosehr unter den Repressionen der "Red Scare" - Hysterie zu leiden -- immerhin hatte er mit der Abfassung des Romans im Gefängnis begonnen --, aber sein Spartacus enthält weniger "tagespolitische" Motive und widmet sich eher der allgemeineren Frage, was Ausbeutung und Sklaverei aus der Gesellschaft und den Menschen machen.
 
(19) So sehr ich China Miévilles Bas-Lag - Trilogie auch schätze, halte ich die Darstellung des Massenaufstands in New Crobuzon in The Iron Council doch für einen ihrer schwächsten Teile.

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