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Mittwoch, 31. Oktober 2012

Ein blindes Mädchen, weiße Pferde und arthurische Mythen

'Placets' Kommentar bezüglich The Moon Stallion folgend, machte ich mich vor ein paar Tagen erneut in die schier unergründlichen Schatzgewölbe von Youtube auf und fand dort tatsächlich eine Version dieser britischen Kinderserie aus dem Jahre 1978 – wenn auch von optisch mangelhafter Qualität.

Weder Wikipedia noch IMDB haben sonderlich viel über The Moon Stallion zu berichten. Regisseurin Dorothea Brooking scheint ein Profi in Sachen abenteuerliches Kinderfernsehen gewesen zu sein, Drehbuchautor Brian Hayles hatte bereits bei Doctor Who sein Händchen fürs Phantastische bewiesen und Hauptdarstellerin Sarah Sutton würde drei Jahre später als Nyssa an die Seite des Time Lords treten. Viel mehr ist aus diesen Quellen nicht in Erfahrung zu bringen.

Der Inhalt der Serie ist schnell zusammengefasst. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reist der Archäologe Purwell ins Hügelland von Berkshire, um dort nach Spuren der wahren Geschichte von König Artus und insbesondere nach dem Schauplatz der Schlacht von Mount Badon zu suchen, bei der Artus der Überlieferung zufolge ein sächsisches Heer vernichtend schlug. Für die Dauer ihres Aufenthaltes sind der Professor, seine blinde Tochter Diana und deren kleiner Bruder Gäste von Sir George Mortenhurze. Dessen Herrenhaus befindet sich in der Nähe des berühmten Hügelgrabs von Wayland's Smithy und des gewaltigen Pferde-Scharrbilds von Uffington, die beide eine prominente Rolle in der Geschichte spielen. Es sind diese uralten Monumente, die einen Gutteil der Atmosphäre von The Moon Stallion schaffen. Vor allem das Weiße Pferd ist ein ungemein faszinierendes Kunstwerk, dessen Anblick es einem leicht macht, in Träumereien über die Geheimnisse einer mythischen Vergangenheit zu verfallen.
Die blinde Diana besitzt offenbar übersinnliche Fähigkeiten. So spürt sie bereits bei der Anfahrt zum Herrenhaus die Anwesenheit des "Moon Stallion", eines geheimnisvollen weißen Wildpferdes, das angeblich alle neun Jahre in dieser Gegend auftaucht und ein Bote der Göttin Epona sein soll. Wie sich bald herausstellt, versucht Mortenhurze das geheimnisvolle Tier zu fangen, da er es offenbar für den Tod seiner Ehefrau verantwortlich macht. Der wirkliche Bösewicht aber ist sein Stallmeister Todman, ein Hexenmeister und "Pferdeflüsterer", der sich mit der Unterwerfung des "Moon Stallion" unbegrenzte Macht über die Kräfte der Natur zu erwerben hofft.

Die Serie konfrontiert uns mit einer ziemlich wilden Mixtur aus eisenzeitlichen, keltischen, germanischen und mittelalterlichen Versatzstücken. Das Weiße Pferd von Uffington und Dragon Hill; Epona (die nicht nur als Pferde- und Fruchtbarkeits-, sondern auch als Mondgöttin erscheint und mit der römischen Diana identifiziert wird) und Beltane; die Wilde Jagd und Wayland (= Völund; Wieland der Schmied), der als "Grüner König" Eponas Gefährte und Vorkämpfer ist, zugleich Züge des Gehörnten Gottes Cernunnos trägt und sich selbst als "Herr des Eisens" bezeichnet; die Schlacht von Mount Badon und Artus als keltischer Häuptling und mythischer "Once and Future King". Als sei es Brian Hayles darum gegangen, keinen Zweifel daran zu lassen, wo der gedankliche Hintergrund für seine Geschichte zu suchen ist, wird der magische Mistelzweig, den Diana als Talisman von Wayland erhält, "Golden Bough" genannt.
Einerseits finde ich so etwas ja ein bisschen problematisch, andererseits bezweifle ich nicht, dass mich eine derart geballte Ladung Mythos und Sage als Kind ganz sicher tief beeindruckt hätte. Erst recht, wenn sie so schön dahergekommen wäre wie in The Moon Stallion, verbunden mit prächtigen Landschaftsaufnahmen der grünen Hügel von Berkshire und untermalt mit stimmungsvoller Musik von Howard Blake.

Der Geist der 70er Jahre hat deutliche Spuren in der Serie hinterlassen. So verkörpern Epona, Wayland und der "Moon Stallion" eindeutig 'die Natur', während Todman als Stellvertreter der 'gierigen' Menschheit auftritt, der sich diese unterwerfen will.
Bliebe es bei dieser verschwommenen Allegorie, so hätte ich keine größeren Schwierigkeiten damit. Doch leider erhält Diana auch noch Visionen vom 20. Jahrhundert als dem "Zeitalter der Maschinen", das in allgemeiner Zerstörung enden werde. Ja, wir bekommen sogar die Prophezeiung eines künftigen Atomkriegs oder einer nuklearen Katastrophe zu hören. So etwas vermiest mir dann doch ein wenig die Laune. Vor allem, wenn mir als Gegenentwurf eine Art ökologisch korrekter Neopaganismus vorgesetzt wird.
Besonders verheerend ist jedoch, dass zur Vermittlung dieser Botschaft Diana immer mal wieder in die Rolle der Predigerin schlüpfen muss. Eine blinde Heldin ist an sich etwas faszinierendes. Auch heute dürfte es noch eher selten vorkommen, dass die Protagonisten einer Abenteuerserie für Kinder behindert sind. Doch leider relativieren all jene Szenen, in denen Diana auf unerträglich altkluge Weise ihrem Vater (und uns) irgendwelche mystischen Wahrheiten über das Leben, die Natur und die Menschen verkündet, diesen positiven Eindruck wieder gewaltig. Die Verknüpfung körperlicher Blindheit mit geistiger Schau ist zwar uralt, aber darum nicht weniger fragwürdig.

Man möge diese Kritik bitte nicht falsch verstehen. The Moon Stallion ist alles in allem eine schöne und stimmungsvolle Kinderserie. Von der Qualität der Children of the Stones ist sie zwar meilenweit entfernt, aber als ein weiteres Beispiel für das phantastische Kinderfernsehen der 70er Jahre lohnt sie durchaus einen Blick.  Ich jedenfalls bin froh, dass mich 'Placet' auf ihre Existenz hingewiesen hat. 

Es ist noch nicht zu Ende

Wenn es etwas gab, was mich mit der Existenz der Star Wars - Prequels aussöhnte, so der feste Glaube, dass es danach ganz sicher keine weiteren Filme mehr aus der Galaxie "far, far away" geben würde. 
Wie bloß hatte ich so naiv sein können? Das Franchise ist nach wie vor verdammt profitabel und kann noch lange mit Gewinn gemolken werden. Daran haben weder Jar Jar Binks noch erboste Geek-Fans irgendetwas ändern können. Ein erneutes Millionengeschäft aber würden sich auf Dauer weder George Lucas noch die gesichtslosen Großinvestoren der Hollywood-Industrie entgehen lassen. 
Erstaunlich ist darum vielleicht nur, dass der gute George sich entschlossen hat, den ganzen Laden, dessen ausschließlicher Eigentümer er bisher war, mit Sack und Pack (LucasArts, Industrial Light & Magic, Skywalker Sound) an Disney zu verhökern – freilich für die stolze Summe von 4,05 Mrd. $.

Die offizielle Erklärung ist in der zynischen Sprache einer Industrie abgefasst, deren ausschließliches Interesse in der Profitmaximierung besteht. Entsprechend liest sich denn auch die Ankündigung kommender Star Wars - Filme:
Star Wars in particular is a strong global brand, and one of the greatest family entertainment franchises of all time, with hundreds of millions of fans around the globe. Its universe of more than 17,000 characters inhabiting several thousand planets spanning 20,000 years offers infinite inspiration and opportunities – and we're already moving forward with plans to continue the epic Star Wars saga.
The last Star Wars movie release was 2005's Revenge of the Sith – and we believe there's substantial pent up demand. In 2015, we're planning to release Star Wars Episode 7 – the first feature film under the "Disney-Lucasfilm" brand. That will be followed by Episodes 8 and 9 – and our long term plan is to release a new Star Wars feature film every two to three years.
Nicht bloß eine dritte Trilogie, sondern bis in alle Ewigkeit jedes zweite oder dritte Jahr ein neuer Film?! Mit Lucas als "künstlerischem Berater"?! – Jetzt wird's aber wirklich gruselig! Im Vergleich zu CEOs wie Robert A. Iger und Kathleen Kennedy sind der Imperator und Darth Vader echte Amateure des Bösen.
Lucas' Kommentar zu dem erfolgreichen Vertragsabschluss illustriert sehr schön die eigenartige Mischung aus maßloser Selbstüberschätzung und ausgesprägtem Geschäftssinn, die den Citizen Kane von der Skywalker-Ranch schon immer ausgezeichnet hat: 
For the past 35 years, one of my greatest pleasures has been to see Star Wars passed from one generation to the next. It's now time for me to pass Star Wars on to a new generation of filmmakers. I've always believed that Star Wars could live beyond me, and I thought it was important to set up the transition during my lifetime. I'm confident that with Lucasfilm under the leadership of Kathleen Kennedy, and having a new home within the Disney organization, Star Wars will certainly live on and flourish for many generations to come. Disney's reach and experience give Lucasfilm the opportunity to blaze new trails in film, television, interactive media, theme parks, live entertainment, and consumer products.
Nun gehöre ich nicht zu jenen, die Lucas' Irrglauben teilen, er habe mit den Abenteuern von Luke, Han und Leia ein wunder wie tiefsinniges Kunstwerk geschaffen. Aber es gab einmal eine Zeit, da stand der Name Star Wars für gut gemachte Unterhaltung. Und auch wenn's ein ausgelutschtes Klischee ist: Für mich sind damit Kindheitserinnerungen verbunden. Die Aussicht auf eine unabsehbare Abfolge immer neuer Star Wars - Derivate vermag deshalb immer noch leichte Übelkeitsgefühle in mir zu wecken.

Das erfreulichste an der ganzen Geschichte sind Twitter-Kommentare wie Ama Zings Idee eines StarWars-Disney-Croosovers: "I'd love to see Darth strangle the life out of Mickey Mouse [...] 'You have failed me for the last time, Mouse.'" Das würde ich auch gerne sehen.
Für den Moment zieh' ich mir aber erst einmal wieder das Video der Hot Waffles rein:


"Has anybody seen my tambourine?"

Zur Feier der hohen Nacht der Hexen, Monster und Gespenster Tim Currys fulminanter Auftritt aus Robert Youngs äußerst charmanter Verfilmung von Jill Murphys The Worst Witch:


        HAPPY HALLOWEEN !

Montag, 29. Oktober 2012

Die runden Hundert

Für Leserinnen und Leser meines Blogs dürfte es kein Geheimnis sein, dass ich geradezu vernarrt bin in Hypnogorias Mr. Jim Moon. Eben gerade hat der Magus von Darlington die hundertste Episode seines phantastischen Podcasts online gebracht, und ich kann ihm bloß aus ganzem Herzen zu diesem denkwürdigen Jubiläum gratulieren. Möge er uns noch lange mit seiner Stimme, seinem Witz und seinem Wissen beglücken! Dem, der keine Schwierigkeiten damit hat, auch einem englischsprachigen Podcast zu folgen, kann ich nur wärmstens empfehlen, sich einmal die Woche in der Bibliothek der Träume einzufinden. Es dürfte äußerst schwer fallen, eine ähnlich elegant gemachte, sympathische und in höchstem Maße informative Sendung über das Phantastische in Film und Literatur zu finden wie


Sonntag, 28. Oktober 2012

Eisensteins erster Film

Sergej Eisenstein gehört unbestritten zu den Titanen der Filmgeschichte. Insbesondere dank Panzerkreuzer Potemkin ist er der wohl bekannteste Vertreter des jungen sowjetischen Films, an dessen Spitze er zuammen mit Wsewolod Pudowkin und Dsiga Wertow stand. Das Massaker auf der großen Treppe von Odessa dürfte eine der am häufigsten zitierten Szenen der Kinogeschichte sein. (1) Der große amerikanische Filmkritiker Andrew Sarris, der dem Einfluss Eisensteins auf das westliche Kino äußerst kritisch gegenüberstand, sah in ihm nichtsdestoweniger neben F.W. Murnau den zweiten stilprägenden Regisseur des frühen Films. (2) Und auch wenn sich letztenendes nicht Eisensteins 'dialektische Montage', sondern Murnaus 'bewegte Kamera'  als die dominierende ästhetische Technik durchsetzte, ändert dies nichts an der überragenden Bedeutung des sowjetischen Regisseurs.

Vor einiger Zeit bin ich bei Youtube auf Eisensteins erstes filmisches Werk gestoßen, ein kurzes Filmchen mit dem Titel Glumows Tagebuch, das als Einspielung bei der legendären Aufführung von Alexander Ostrowskis Komödie Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste diente, die der spätere Filmemacher 1923 in Zusammenarbeit mit dem futuristischen Dramatiker Sergej Tretjakow am I. Arbeitertheater des Proletkult inszenierte. Der Clip eröffnet uns einen unmittelbaren Einblick in die Anfänge von Eisensteins künstlerischem Schaffen. Und meiner Ansicht nach ist die Kenntnis dieser Wurzeln auch für das richtige Verständnis seines späteren Werkes unerlässlich.

  
Obwohl seine Familie strikt antibolschewistisch eingestellt war (sein Vater schloss sich den Weißen an und endete in der Emigration), begrüßte Eisenstein die Oktoberrevolution voller Begeisterung und trat 1918 in die Rote Armee ein. Die unmittelbare Konfrontation mit den Realitäten des Bürgerkriegs war für ihn, wie für viele spätere Größen des sowjetischen Films (Pudowkin, Wertow, Eduard Tisse), prägend.  Erste künstlerische Erfahrungen sammelte er bei den Agit-Zügen an der Front. 1920 schloss er sich in Moskau der "Bewegung für Proletarische Kultur" (Proletkult) an.
Der Proletkult hatte sich offiziell zum Ziel gesetzt, eine alle Lebensbereiche umfassende proletarisch-sozialistische Kultur zu schaffen. Wie die Redaktion seiner führenden Zeitschrift Proletarskaja Kul'tura verkündete: "In questions of culture we are immediate socialists. We demand that the proletariat start right now, immediately, to create its own socialist forms of thought, feeling, and daily life , independent of alliances or combinations of political forces." (3) Für eine kritische Begutachtung der ideologischen Grundlagen der Bewegung, die von Alexander Bogdanow geschaffen worden waren (4), ist hier ebensowenig Platz, wie für einen auch nur knappen Überblick über die vielfältigen Aktivitäten der ihr angeschlossenen Gruppen. Es muss genügen, zu erklären, dass der Proletkult nur eine der Erscheinungsformen einer vielgestaltigen kulturellen Blüte im jungen Sowjetrussland war, die von der bolschewistischen Regierung und ihrem Volkskommissar für Kultur und Bildung Anatoli Lunatscharski nach Kräften gefördert wurde. Im Bereich des Theaters nahm diese so unterschiedliche Formen an wie Nikolai Foreggers "Maschinenballett", Jewgeni Wachtangows Improvisationsarbeiten am Künstlertheater (MCHAT) oder Alexei Granowskis jiddisches Theater, für das Marc Chagall die Bühnenbilder anfertigte. Eisenstein schloss sich Wsewolod Meyerhold an. Der rebellische Exschüler von Altmeister Stanislawski war die überragende Künstlerpersönlichkeit des konstruktivistischen Theater-Oktober und einer der größten Innovatoren der Bühne im 20. Jahrhundert.
Für seine eigene Arbeit am I. Arbeitertheater in Moskau ließ sich Eisenstein nicht nur von Meyerholds Methode der "Biomechanik" (5) beeinflussen, sondern griff auch ganz im Sinne seines Lehrers (6) auf die Darstellungsformen von Zirkus und Jahrmarkt zurück, integrierte Akrobatik, Clownerie, Groteske und Buffonade in seine Inszenierungen. Jürgen Rühle schreibt etwas spöttisch: 
Die Proletkult-Bühne stellte sich ganz darauf ein, die alte Volkskunst der Narrenpossen und Jahrmarktsakrobatik zu erneuern. Da wurde denn Theater gespielt und Agitation getrieben, indem die Artisten herumrannten und herumsprangen, turnten, kletterten, jonglierten, balancierten und auf dem Kopf standen. (7)
Zur Aufführung von Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste gehörte u.a. eine spektakuläre Nummer auf dem Hochseil.
Und wie es Eisensteins Art war, entwickelte er auch sofort ein theoretisches Gerüst für seine künstlerische Arbeit: das "Theater der Attraktionen". Davon ausgehend, dass es die Aufgabe eines revolutionären Theaters sei, das Publikum auf zielgerichtete Weise emotional zu formen, gelangte er zu einem Konzept, bei dem eine Inszenierung als eine Montage sog. "Attraktionen" aufgefasst wurde. Was man unter diesem Begriff zu verstehen hat, beschrieb Eisensteins Mitarbeiter Tretjakow wie folgt: 
Eine Attraktion [...] ist jede berechnete Einwirkung auf Aufmerksamkeit und Emotion des Zuschauers, jede szenische Kombination, die in der Lage ist, die Emotion des Zuschauers in die von der Aufführung diktierte Richtung zu lenken. Von diesem Standpunkt aus ist eine Aufführung beileibe nicht die mehr oder minder wahrhaftige Demonstration von Ereignissen, Charakteren oder plastischen Kombinationen, sondern der Aufbau einer Kette von szenischen Situationen, die, entsprechend dem Auftrag, das Publikum bearbeiten. Die Attraktion erfaßt die Aufmerksamkeit des Auditoriums, komprimiert und entlädt die Emotion. Ergebnis der Vorstellung: der Zuschauer ist entsprechend "aufgeladen" (8)
Eine "Attraktion" im Sinne Eisensteins ist also eine Bühnenaktion, die die Zuschauer zu überraschen, zu fesseln und mit einer ganz bestimmten, vom Regisseur 'vorausberechneten' Emotion zu erfüllen vermag. Als solche konnten so unterschiedliche Elemente dienen wie ein Hochseilakt, eine Slapstick-Nummer, ein Liedchen oder eben ein kurzer Film wie Glumows Tagebuch.

Nachdem er 1924 mit Gasmasken nach Der Gescheiteste und Tretjakows Hörst du, Moskau? sein drittes Stück am Proletkult-Theater inszeniert hatte, wandte Eisenstein sich von der Bühne ab und endgültig dem Film zu. Doch die Ideen, die er erstmals im "Theater der Attraktionen" formuliert hatte, bildeten den Ausgangspunkt für das, was einmal seine berühmte Montagetechnik werden sollte. Und auch das Interesse an Groteske, Buffonade und Exzentrik – sprich an Elementen des Phantastischen – ging dem künftigen Schöpfer monumentaler Revolutionsepen nie ganz verloren. Bei seinem ersten Kinfofilm Streik (1925), der noch unter Mithilfe des Proletkultisten Walerian Pletnjew sowie des Kollektivs vom I. Arbeitertheater entstand, ist dies besonders offensichtlich, aber auch in späteren Werken lassen sich mehr oder weniger deutliche Spuren davon finden. Man betrachte sich z.B. Oktober aus dem Jahre 1927. Übergehen wir für den Moment die Tatsache, dass der Film auf Befehl Stalins und seiner Anhänger mehrfach umgeschnitten werden musste und in seiner heutigen Form nicht den Intentionen des Regisseurs entspricht, so bleibt vor allem der oft gehörte Vorwurf, Eisenstein habe die Ereignisse des Oktoberaufstands von 1917 nicht so dargestellt, wie sie sich in Wirklichkeit abgespielt hatten. Stattdessen habe er ein pathetisches Propagandaspektakel auf die Leinwand gezaubert. Diese Form der Kritik geht meiner Ansicht nach von einer völlig falschen Voraussetzung aus. Eisenstein war nie ein "Realist". Ein Film wie Oktober will überhaupt keine Nachstellung konkreter historischer Ereignisse sein. Er versucht vielmehr auf symbolische Art darzustellen, was die Machteroberung durch die Bolschewiki geschichtlich bedeutet hatte. Dazu bedient er sich in großem Umfang der Mittel von Groteske, Satire und Symbolismus.  Man nehme z.B. die Szene, in der Alexander Kerenski – Oberhaupt der bürgerlichen Provisorischen Regierung – vor dem Eingangsportal zu den Zarengemächern steht, und plötzlich ein metallener Pfau – Sinnbild der Eitelkeit – zum Leben erwacht:


Kein Wunder, dass der Film von vielen Stalinisten (aber auch von den Vertretern der avantgardistischen LEF [Linke Kunstfront]) als formalistisch, symbolüberfrachtet und der "werktätigen Bevölkerung" nicht zugänglich verdammt wurde. Die Stalinisten haben "den Pöbel" stets verachtet. Wie George Orwell seinen archetypischen Parteiintellektuellen Symes in 1984 erkären lässt: "The proles are not human beings."

Viele von Eisensteins künstlerischen Mitstreitern überlebten die Ära des Großen Terrors nicht, als die stalinistische Bürokratie alles auszurotten versuchte, was in der Sowjetunion noch an die Ideale der Oktoberrevolution erinnerte, und eine ganze Generation von Revolutionären und radikalen Intellektuellen vor die Mauserpistole oder in den Gulag schickte. Sowohl Wsewolod Meyerhold als auch Sergej Tretjakow wurden 1939 ermordet. Eisenstein wurde zwar massivem Druck ausgesetzt, so konnte er z.B. seinen 1935 in Zusammenarbeit mit dem bald darauf hingerichteten Schriftsteller Isaak Babel begonnenen Film Die Beshinwiese nie fertigstellen, aber sein Leben scheint nie in unmittelbarer Gefahr gewesen zu sein. Möglicherweise hielt es Stalin für unklug, einen Mann ermorden zu lassen, der zu seinen Bekannten im Westen so bedeutende Künstler wie Charlie Chaplin und Marlene Dietrich zählte – vor allem in einer Zeit, als er sich um ein freundschaftliches Verhältnis zu den USA bemühte. Vielleicht auch war die öffentlich bekundete 'Selbstkritik' des Regisseurs kriecherisch genug, um ihn vor dem Henker zu bewahren. Doch auch wenn einem Eisenstein im Vergleich zu seinem ehemaligen Lehrmeister Meyerhold, der den von der Führung dekretierten "Sozialistischen Realismus" mutig als ein "erbärmliches und steriles Etwas" (9) bezeichnet hatte, feige und opportunistisch erscheinen mag, im Herzen wurde er nie zu einem Lakaien der Bürokratie. Sein letzter Film, der zweite Teil der nie fertiggestellten Trilogie Iwan der Schreckliche (1946), stellt ein klares künstlerisches Verdammungsurteil über den Stalinismus dar, weshalb er auch sofort in den Kellern der Zensurbehörde verschwand. Und vielleicht nicht zufällig ist auch er kein "realistischer" Historienfilm, sondern atmet viel von dem Geist des Symbolischen und Phantastischen, der den Regisseur seit den Tagen von Glumows Tagebuch nie ganz verlassen hatte. 


(1) Ganz spontan fallen mir dazu zwar nur Terry Gilliams Brazil und Woody Allens Bananas ein, aber tatsächlich dürfte die Zahl der Filme, die diese Sequenz zitieren oder parodieren, Legion sein.
(2) Vgl.: Andrew Sarris: The American Cinema. Directors and Directions 1929-1968. S. 68f.; 149f.
(3) Zit. nach: Lynn Mally: Culture of the Future. The Proletkult Movement in Revolutionary Russia. S. 38.
(4) Bogdanow war nebenbei bemerkt auch der Verfasser eines nicht uninteressanten utopischen Romans mit dem Titel Der rote Stern.
(5) "Man hat darunter ein darstellerisches Prinzip zu verstehen, das die rationellste und lapidarste Bewegung auf der Bühne und die Umsetzung seelischer Erlebnisse in körperliche Ausdrucksformen erstrebt. Jede Bewegung, jede Geste des Spiels wird mit mathematischer Gewissenhaftigkeit kalkuliert und hat symbolische Bedeutung. Soll eine Gestalt dargestellt werden, die von einem tragischen Schicksal betroffen ist, hat der Schauspieler das nicht durch Mimik, Rede, Stimmung auszudrücken, sondern durch sein äußeres Erscheinungsbild: Er läßt also die Schultern vornüberhängen, bewegt sich ruckartig, vernachlässigt seine Kleidung usw. Bei freudiger Erregung der darzustellenden Person vollführt der Schauspieler vielleicht ein Tänzchen. [...] Meyerhold entwickelte auf experimentellem Wege ein ganzes System von Bewegungssymbolen und Stilgriffen". (Jürgen Rühle: Theater und Revolution. S. 70.)
(6) Vgl: James von Geldern: Bolshevik Festivals, 1917-1920. S. 103-19.
(7) Jürgen Rühle: Theater und Revolution. S. 78.
(8) Sergej Tretjakow: Theater der Attraktionen. In: Ders.: Gesichter der Avantgarde. Porträts - Essays- Briefe. S. 69.
(9) Zit. nach: Jürgen Rühle: Theater und Revolution. S. 105.

Freitag, 26. Oktober 2012

Conan the Retiree

Nachdem sich  Marcus Nispels Conan-Reboot von 2011 nicht nur als eine der größten ungewollten Komödien der Kinogeschichte, sondern auch als ein gewaltiges finanzielles Desaster entpuppt hatte, war ich eigentlich überzeugt davon, dass man den Cimmerier für die absehbare Zukunft erst einmal in Frieden ruhen lassen werde. Doch weit gefehlt: Gestern durften wir über Deadline erfahren, dass Universal Pictures allen Ernstes einen weiteren Conan-Film plant – und diesmal soll tatsächlich Arnold Schwarzenegger noch einmal in die Rolle schlüpfen, mit der er vor dreißig Jahren zu internationaler Berühmtheit gelangte!
 
Ich bin sprachlos. Jeder Versuch, mir den Mittsechziger als lendenschurztragenden Barbaren vorzustellen, führt unweigerlich zu Ergebnissen, deren genaue Natur nur schwer zu beschreiben ist, die jedoch ganz sicher nichts mit Vorfreude zu tun haben. Dabei könnte ein Film über einen alten Conan sogar ganz interessant sein – vorausgesetzt man hätte ein intelligentes Drehbuch und einen zu differenziertem Spiel fähigen Hauptdarsteller bei der Hand. Doch damit ist man bei Chris Morgan (The Fast and the Furious III & IV; Wanted) und Arnie ganz sicher an der falschen Adresse. Crom stehe uns bei!

Donnerstag, 25. Oktober 2012

"Happy Day"

Nachdem mein Versuch, mich mit Merlin ausnahmsweise einmal einer verhältnismäßig aktuellen Produktion zu widmen, gescheitert ist,  bin ich erneut in die Archive der Vergangenheit hinabgestiegen, um mich dort nach etwas sehens- und berichtenswertem umzuschauen. Und glücklicherweise liegen dort noch genug Schätze, die nur darauf warten, entdeckt, abgestaubt und ans Tageslicht befördert zu werden.

In den 70er Jahren produzierte das britische Fernsehen offenbar eine ganze Reihe phantastischer Kinderserien, über die Stewart Lee in einer  Sendung für BBC Radio 4 so vielversprechende Dinge zu sagen hatte, wie: "Weird and wonderful [...] decadent, psychedelic madness [...] their outrageous and convoluted plot-lines seemed ridden with shaggy counter-cultural concerns". Das klingt doch nach einem lohnenswerten Feld für weitere Forschungen, oder?
Als Kronjuwel dieser Ära gilt die 1977 ausgestrahlte, siebenteilige Serie Children of the Stones, die im Rufe steht, eine der unheimlichsten Kindersendungen zu sein, die je produziert wurde. Und was das betrifft, kann ich nur sagen: Hätte ein paar Jahre später einer unserer heimischen Kanäle eine deutsche Fassung davon ausgestrahlt, meine Kindheit wäre ohne Zweifel um einige Alpträume reicher gewesen. Man braucht sich bloß Sidney Sagers bizarre Titelmusik anzuhören:*


Und zu diesen Klängen stelle man sich die Stehenden Steine von Avebury vor, aufgenommen aus besonders extremen, beunruhigenden und grotesken Winkeln. Allein dieser Vorspann hätte schon ausgereicht, um meine {zugegebenermaßen etwas überempfindliche} kindliche Psyche mit Grauen zu erfüllen.
Es wird berichtet, Regisseur Peter Graham Scott habe nach der Lektüre des Drehbuchs für die erste Episode ausgerufen: "And this is for children?" Grund hierfür war jedoch nicht allein das Unheimliche der Handlung, sondern mehr noch deren außergewöhnliche Komplexität. Auch verzichtet die Serie völlig auf den in Kindersendungen so verbreiteten leicht herablassenden, paternalistischen Tonfall. Die Geschichte wird ganz in Augenhöhe des jungen Publikums erzählt. Nach irgendeiner alles erklärenden, unfehlbaren Autoritätsperson hält man umsonst Ausschau.

Der Astrophysiker Adam Brake und sein Sohn Matthew kommen nach Milbury, einem Ort, der im Inneren eines megalithischen Steinkreises angelegt wurde. Brake will die physikalischen Eigenschaften der Stehenden Steine wissenschaftlich untersuchen. Schon am ersten Tag in dem neuen Zuhause wird Matthew von dem seltsamen Obdachlosen Dai, der in einem "das Heiligtum" ("Sanctuary") genannten ehemaligen Hügelgrab haust, vor einer ominösen Gefahr gewarnt, die ihm hier drohe und die etwas mit den Steinen zu tun habe. Tatsächlich weisen die Menhire scheinbar unerklärliche elektromagnetische Eigenschaften auf. Sehr viel beunruhigender ist jedoch das eigentümliche Verhalten der Dorfbewohner. Alle, die schon etwas länger hier leben, bilden eine verschworene Gemeinschaft, die von sich selbst als den "happy ones" spricht. Ihre Kinder zeichnen sich durch außergewöhnliche mathematische Talente aus. Sie selbst legen häufig eine irgendwie hohl wirkende Fröhlichkeit an den Tag. Ihr Oberhaupt ist der örtliche "Lord of the Manor" Rafael Hendrick; ein ehemaliger Astronom, der seinen Ruhm der Entdeckung eines Schwarzen Lochs im Sternbild Großer Bär verdankt, und der hierhergezogen ist, nachdem er erfahren hatte, dass die Stehenden Steine von Milbury auf eben jenen Punkt am Himmel ausgerichtet sind, an dem vor Jahrtausenden die Supernova zu sehen war, in der 'sein' Schwarzes Loch geboren wurde. Gemeinsam mit der gleichfalls erst vor kurzem zugezogenen Museumskuratorin Margaret und ihrer Tochter Sandra versuchen Adam und Mathhew, das Geheimnis von Milbury zu lüften und gleichzeitig zu verhindern, dass sie selbst zu "happy ones" werden.

Warum sich auch erwachsene Freundinnen & Freunde des Phantastischen dieses kleine Juwel unter den britischen Kinderserien auf keinen Fall entgehen lassen sollten? Dafür gibt es eine ganze Reiher guter Gründe.
Zuerst einmal hätten wir da eine Riege von zum Teil wirklich ausgezeichneten Schauspielern. Neben den Kinderdarstellern Peter Demin (Matthew), Katharine Levy (Sandra) und Gary Lock (Jimmo) wären da u.a. Gareth Thomas, der ein Jahr später die Titelrolle in der {nicht uninteressanten} SciFi-Serie Blake's 7 übernehmen sollte, als Adam Brake; der fantastische {wenn auch schwer verständliche} Freddie Jones als Dai; und in konkurrenzloser Spitzenposition Iain Cuthbertson, der der Figur des Rafael Hendrick eine ebenso unheimliche wie zwiespältige Ausstrahlung zu verleihen versteht.
Vor allem jedoch ist Children of the Stones im besten Sinne des Wortes "weird". Sagers gespenstische, dissonante Musik; eine kunstvolle Cinematografie; und eine streckenweise {vor allem in den Nachtszenen} leicht psychedelische Farbgebung verleihen der Serie eine intensive und beunruhigende Atmosphäre.
Die von Jeremy Burnham und Trevor Ray entwickelte Story weist sowohl Anklänge an den klassischen britischen SciFi-Horror (Village of the Damned; Quatermass) als auch an den sog. "Folk Horror" auf. Aus gutem Grund haben einige Kritiker der Serie den Spitznamen "The Wicker Man for Kids" verpasst. Wie in Robin Hardys genialem Film aus dem Jahre 1973 spielen auch in Children of the Stones folkloristische Motive eine wichtige Rolle. Am augenfälligsten sind die Morris-Tänze auf dem Dorfanger. Außerdem erwähnt Margaret an einer Stelle den alten Brauch des "Clipping the Church". Und auch auch bei den "Ley Lines" sollte man nicht nur an Esoterik denken, entstammt diese Vorstellung doch ursprünglich dem Bereich der Hobbyarchäologie, nicht des Mystizismus. Eine noch deutlichere Parallele zu The Wicker Man besteht darin, dass es in beiden Fällen um heidnische Kulte und ihre Wiederauferstehung geht. Rafael Hendrick und Lord Summerisle besitzen manches gemeinsam.
Trotz dieser Verwandtschaftsbeziehungen ist Children of the Stones ein höchst originelles Werk. In symbolischer Übereinstimmung mit dem Kreis der Stehenden Steine liegt der Geschichte die Vorstellung von einem Kreislauf sich ewig auf beinahe gleiche Weise wiederholender Ereignisse zugrunde, die sich in Milbury abspielen. Dieses Konzept wird jedoch nie im Detail ausgeführt, und nicht alle Ereignisse fügen sich ihm nahtlos ein oder finden in ihm seine Erklärung. Vieles bleibt mysteriös. War es wirklich nur ein Zufall, dass Matthew das eigenartige Gemälde des Steinkreises gefunden hat? Woher stammt das Bild? Warum verfügen die "happy ones" ausgerechnet über gesteigerte mathematische Fähigkeiten? Welche Rolle genau spielt Dai? Was hat es mit seinem Amulett auf sich und warum trägt einer der Steine dasselbe Schlangensymbol? Worin besteht seine Beziehung zu dem vor Jahrzehnten zu Tode gekommenen Bader? Solche offenen Fragen und lediglich angedeuteten Verbindungen verstärken noch den phantastischen, fast ein wenig alptraumhaften Charakter der Serie.
Children of the Stones ist verschiedentlich als eine Geschichte über Konformismus und Individualität, Aberglauben und Vernunft gedeutet worden. Auf den ersten Blick bietet sich eine solche Interpretation fraglos an. Doch bei genauerer Betrachtung kommen mir in dieser Hinsicht Zweifel. Ist Hendrick wirklich nur der Bösewicht? Ist seine Gemeinschaft der 'happy ones' tatsächlich der emotionslose Alptraumkult, den Adam und Matthew in ihm sehen? Und wenn dem so ist, warum bemühen sich die beiden nicht stärker darum, ihre Freundinnen Margaret und Sandra davon zu überzeugen, sie bei ihrer Flucht aus Milbury zu begleiten? In seiner Ambiguität unterstreicht das Ende noch einmal, was den besonderen Reiz dieser Serie ausmacht.
Hier muss jeder seine eigenen Antworten finden. Oder aber er verzichtet auf eindeutige Lösungen, was ich persönlich ja sehr viel reizvoller finde.

Ohne deshalb gleich einen Sermon darüber anstimmen zu wollen, dass früher sowieso alles besser gewesen sei, kann ich nicht umhin, mich zu fragen, ob das Fernsehen heutzutage noch phantastische Abenteuerserien für Kinder produzieren lassen würde, die sich durch ein so hohes Maß an künstlerischer Qualität und Intelligenz auszeichneten wie Children of the Stones. Ich fürchte, die Antwort müsste wohl "nein" lauten. Ein Grund mehr, einen kleinen Abstecher in die Vergangenheit zu unternehmen {und sich dabei von 70er Jahre - Klamotten und - Frisuren nicht abschrecken zu lassen}. Als kleiner Appetitanreger zum Abschluss deshalb die ersten zehn Minuten von Episode 1: "Into the Circle":


Und so bleibt mir nichts weiter übrig als zu sagen:
Happy Day, Ladies and Gentlemen!


* Dass mit den Ambrosian Singers einer der berühmtesten Chöre Londons für die Musik verpflichtet wurde, zeigt einmal mehr, welch hohe künstlerische Standards im britischen Fernsehen jener Zeit herrschten.

Montag, 22. Oktober 2012

Schlockfest auf Camelot (III)

Ich fühle mich gerade ein bisschen so wie Artus' prahlerischer Seneschall Keie, der in so vielen Artusromanen des Mittelalters bei einem Ausritt dem eigentlichen Helden der Geschichte begegnet und diesen mit hochfahrenden Reden zum Kampf herausfordert, nur um auf besonders demütigende Weise bezwungen zu werden.
Vor zwei Wochen habe ich hier vollmundig verkündet, ich werde mich aufmachen und mir alle vier Staffeln von Merlin in einer Art Megamarathon reinziehen. Doch dann – ich befand mich grade im letzten Drittel der dritten Staffel – begegnete mir der Schwarze Ritter von FremantleMedia und bereitete meiner Aventiure ein ebenso jähes wie unrühmliches Ende. Eine Warnung, sich nicht leichtfertig mit den Fürsten des Copyright anzulegen? Magische Vergeltung für eine kurze Pause, die ich trotz all meiner Reden über "am Stück anschauen" eingelegt hatte? Strafe dafür, dass ich die Serie als Trash und Schlock bezeichnet hatte, was ihr in der Tat nicht gerecht wird, wenn man sie mit echtem TV-Schlock wie Sinbad, Beastmaster oder Lost World vergleicht? Wie auch immer, die Sælde war jedenfalls nicht mit mir auf dieser Ritterfahrt.
Nach diesem brutalen Ende meiner Aventiure hätte ich ehrlich gesagt gut Lust, kein weiteres Wort mehr über Merlin zu verlieren. Gerade weil ich  mich von der Serie sehr gut unterhalten gefühlt habe. Es ist halt irgendwie frustrierend zu wissen, dass ich bis auf Weiteres keine Möglichkeit haben werde, mitzuerleben, wie es weitergehen wird mit Merlin, Arthur, Gaius, Gwen, Uther und Morgana. Ein paar der Gedanken, die mir beim Anschauen der zweiten und dritten Staffel gekommen sind, will ich dennoch rasch zum Besten geben.

Wie ich bereits das letzte Mal erklärt habe, bildet die Beziehung zwischen Merlin und Arthur das Herz der Serie. Diese Beziehung  nimmt spätestens im Verlauf der zweiten Staffel mehr und mehr die Züge einer Screwball-Comedy an, was keineswegs negativ gemeint ist. Das Zusammenspiel und die Dialoge von Colin Morgan und Bradley James sind oft die Höhepunkte einer Episode. Dass die Beziehung zwischen Prinz und Diener dabei einen – vermutlich unbeabsichtigten, aber nichtsdestoweniger deutlichen – homoerotischen Unterton erhält, ist zumindest für mich kein Grund zur Kritik. Dennoch zeigt sich genau an dieser zentralen Stelle sehr bald auch die grundlegende Problematik der Serie. Sie basiert auf einer Figurenkonstellation, die bereits ganz zu Beginn der ersten Staffel eingeführt wurde und nicht mehr grundsätzlich verändert werden darf. Jede tiefgreifendere Veränderung der Beziehung zwischen dem Prinzen und seinem Leibdiener würde das Fundament zerstören, auf dem die ganze Geschichte aufbaut. Damit sind einer wirklichen Entwicklung der Charaktere sehr enge Grenzen gesetzt. Außerdem erscheint es schon bald immer unrealistischer, dass Arthur nichts davon bemerken soll, dass Merlin mehr ist, als er zu sein vorgibt. Im Grunde muss nach jeder Episode, ganz gleich wie episch die in ihr erzählten Ereignisse waren, der Status quo ante wieder hergestellt werden. Das erinnert ein wenig an die Gesetze der alten TV-Serien episodischen Stils wie etwa Star Trek TOS und (mit einigen Abstrichen) TNG. An sich kein Problem, wenn man weiß, mit welcher Art Serie man es zu tun hat. Doch Merlin will zugleich epische, episodenübergreifende Handlungsbögen aufbauen, und deshalb wirkt das, was in einem anderen Kontext einfach als erzählerisches Gesetz hingenommen werden würde, als ein immer deutlicher ins Auge springender innerer Widerspruch. Ob sich dieser im Verlauf der vierten Staffel nur noch deutlicher aufdrängt oder in irgendeiner Weise abgeschwächt wird, kann ich ja nun leider nicht mehr in Erfahrung bringen. Da sich Merlin jedoch selbst zu Beginn der gerade angelaufenen fünften Staffel noch nicht als Zauberer geoutet hat, vermute ich, dass dies ein Problem bleiben wird.

Abgesehen davon nun noch einige knappe Impressionen:
  • Die mit S02E02 "The Once and Future Queen" beginnende Liebesgeschichte zwischen Arthur und Guinevere unterstreicht zwar noch einmal die Ständeproblematik, verleiht dieser aber keine zusätzliche Tiefe.
  • Die kritische Sicht auf das Thema Schicksal und Auserwähltsein wird leider nicht konsequent ausgebaut.
  • S02E05&06 "Beauty and the Beast" und S03E03 "Goblin's Gold" sind zwar alle recht amüsant, bestätigen aber auch, dass Fürze für sich genommen nicht wirklich witzig sind.
  • Morganas Übergang zur 'dunklen Seite der Macht' wirkt zwar rucklig und sprunghaft, einmal abgeschlossen, gibt sie jedoch eine großartige Gegenspielerin ab. Katie Mc Grath versteht es, ein wunderbar böses Lächeln auf ihre hübschen Lippen zu zaubern.
  • Dass Uther in S03E01&02 "The Tears of Uther Pendragon" nicht von irgendwelchen beliebigen Halluzinationen, sondern von seinen nur zu verständlichen Schuldgefühlen in Bezug auf seine verstorbene Ehefrau und die von ihm im Zuge der großen Hexenjagd Ermordeten gequält wird,  als Morgause und Morgana ihn in den Wahnsinnn zu treiben versuchen, gibt den beiden Episoden und seinem Charakter zusätzliche Tiefe. Auch ist das erste Erscheinen von Igraines Geist im Burgbrunnen echt gruselig.
  • Dass Gwaine in S03E04 "Gwaine" und S03E08 "The Eye of the Phoenix" als eine Art sympathischer Schurke mit einer Liebe zu Alkohol, Glücksspiel und schönen Mädchen sowie einer tiefen Aversion gegen Adel und Autorität auftritt, hat mir als altem Fritz Leiber - Fan natürlich sehr gut gefallen. Auch finde ich es ansprechend, dass die beiden größten Ritter der späteren Tafelrunde (Lancelot & Gawain) als Außenseiter dargestellt werden.
Und damit verabschiede ich mich vorerst von Merlin. Ich glaube, ich werde mich jetzt mal nach Richard Thorpes Knights of the Round Table umschauen. Denn ich denke, auch über diesen Versuch des Hollywoods der 50er Jahre, sich die Artusgeschichte anzueignen, gäbe es einiges interessantes zu sagen  ...

Samstag, 20. Oktober 2012

Die revolutionäre Vergangenheit des Grafen

Heute vor einhundertunddreißig Jahren, am 20. Oktober 1882, wurde in Lugos (Lugoj im heutigen Rumänien) der Mann geboren, der wie kein zweiter das Kinobild des Vampirs geprägt hat. Als Kind des ungarischen Geschäftsmanns István Blaskó und seiner Frau  Paula de Vojnitsch wurde er auf den Namen  Béla Ferenc Dezső getauft. In die Filmgeschichte eingegangen ist er als Bela Lugosi.

In krassem Gegensatz zu dem monströsen Grafen Orlok aus Murnaus Nosferatu (1922) spielte Lugosi den transylvanischen Untoten in Tod Brownings klassischer Dracula-Verfilmung von 1931 als distinguierten Aristokraten mit düsterem Charme. In Gestus, Sprache und Aussehen (das schwarze Cape!) oft kopiert und karrikiert, ist es seine Interpretation des adeligen Blutsaugers, die den Leinwandvampir zu einer romantischen Gestalt machte – sexy, verführerisch, tragisch.
Mancher findet den Expressionismus von Brownings Film und Lugosis Spiel heute vielleicht überzogen und etwas lächerlich. Allen, die so empfinden, möchte ich raten, sich Dracula noch einmal anzuschauen und dabei auf eine Szene besonders zu achten. Unmittelbar bevor der Graf eines seiner weiblichen Opfer beißt, sehen wir für einen kurzen Augenblick eine Naheinstellung seines Gesichtes, auf dem sich auf faszinierende Weise Gier und Ekel paaren. In ihrer Subtilität ist diese Szene für mich nicht nur der schlagendste Beweis für die Qualität von Brownings Film (1), sondern macht zugleich verständlich, warum Bela Lugosi das Mienenspiel für die Essenz der Schauspielkunst hielt {weshalb er auch die Rolle von Frankensteins Monster ablehnte und damit ungewollt Boris Karloff den Weg zum Ruhm ebnete}.

Leider habe ich momentan nicht die Möglichkeit, meine Bekanntschaft mit den wichtigsten Lugosi-Filmen aus der goldenen Ära des Universal-Horrors (Dracula, The Mark of the Vampire, The Raven) aufzufrischen, weshalb ich auch gar nicht erst versuchen werde, den Beitrag des großen Bela zum Genre ausführlicher zu würdigen. In diesem Zusammenhang möchte ich lediglich auf zwei vielleicht etwas weniger bekannte Werke verweisen:
Da wäre zum einen Victor Halperins White Zombie aus dem Jahre 1932. Auch wenn die meisten Mitwirkenden – mit Ausnahme Lugosis natürlich – schauspielerisch miserable Leistungen abliefern, verdient der Film als Urvater der Zombie-Flicks alter Schule {Südsee, Voodoo, Trommelklänge} auf jedenfall Beachtung. Auch wollen manche aufgrund seiner leicht surrealen Atmosphäre in ihm einen Vorläufer des Val Lewton - Horrors der 40er Jahre sehen.
Zum anderen möchte ich allen Freundinnen und Freunden des klassischen Grauens Edgar G. Ulmers The Black Cat von 1934 empfehlen. Mit Edgar Allan Poes berühmter Kurzgeschichte hat der Streifen freilich so gut wie nichts zu tun. Auch hinterlässt er einen eigentümlich inkonsistenten Eindruck {so als habe man einige Szenen herausgeschnitten}. Dennoch bleibt diese erste Zusammenarbeit von Bela Lugosi und Boris Karloff eine der faszinierendsten Produkte der für Horrorfans so reichen 30er Jahre. (2) Dass das Gemetzel des 1. Weltkriegs den eigentlichen Hintergrund für die Geschichte abgibt, verdient besondere Beachtung, da Lugosi in diesem Punkt auf sehr eindrückliche persönliche Erfahrungen zurückgreifen konnte.

Damit nähern wir uns einem Abschnitt aus Belas Leben, der oft entweder als nebensächlich abgetan oder in verzerrter Weise dargestellt wird.
In dem an sich ganz netten biographischen Eintrag in der Vampyrbibliothek lesen wir darüber:
Zu der Zeit, als die österreichisch-ungarische Monarchie zusammenbrach und es für kurze Zeit zu einem blutigen kommunistischen Regime kam, war er einer der führenden Schauspieler Budapests. Lugosi hatte bei der Gründung einer Schauspielergewerkschaft mitgewirkt und führte ihre Protestmärsche bis 1919 an, als er sich aus Angst um sein Leben schließlich gezwungen sah, nach Deutschland zu flüchten.
Es widerstrebt mir, irgendjemandem ohne stichfeste Belege bewusste Geschichtsfälschung zu unterstellen, und so will ich diesen Abschnitt lieber als eine Mischung aus ungeschickter Formulierung und historischer Ignoranz betrachten. Der uninformierte Leser muss auf jedenfall den Eindruck gewinnen, als sei Lugosi vor den Schrecken des "blutigen kommunistischen Regimes" geflohen, gegen das er zuvor Protestmärsche angeführt habe. Und damit hätte man die tatsächlichen Ereignisse von 1919 auf den Kopf gestellt.

Bela Lugosi gehörte zu den Zehntausenden ungarischer Soldaten, die in der Armee des K.u.K. - Reiches in den Karpathen und in Russland hatten kämpfen und leiden müssen. Wie so viele seiner Kameraden, die 1918/19 nach Ungarn zurückkehrten und eine von wirtschaftlichem Kollaps, Hunger und der Spanischen Grippe verwüstete Heimat vorfanden, richtete auch er seinen Hass gegen diejenigen, die die Völker Europas in das Schlachthaus des Weltkriegs gehetzt hatten. Offenbar gehörte er zu den politisch Aufgeklärteren, die verstanden, dass es nicht ausreichte, ein paar Könige und Fürsten zum Teufel zu jagen, sondern dass es notwendig war, den Kapitalismus mit Stumpf und Stiel auszurotten und durch eine sozialistische Ordnung zu ersetzen. Die deutsche Wikipedia behauptet, er habe sich der Kommunistischen Partei angeschlossen. Da der Artikel keinerlei Belegstellen dafür anführt, wäre ich mir da nicht so sicher. Im Grunde ist das aber auch gar nicht so wichtig.
Das Ungarn, in das Lugosi und seine Kameraden von der Front zurückkehrten, war bereits in revolutionären Umwälzungen  begriffen. Die Massenstreiks vom Januar 1918 hatten die Regierung dazu gezwungen, das allgemeine Wahlrecht einzuführen. Und auch wenn die Führer der sozialdemokratischen MSzDP und der Gewerkschaften alles versuchten, um eine weitere Radikalisierung der Massen einzudämmen, war die Bewegung nicht mehr aufzuhalten. Den Sommer über konnten einzelne Soldatenrevolten und Arbeiterdemonstrationen zwar noch mit brutaler Gewalt niedergeschlagen werden, doch nachdem eine Massendomstration am 28. Oktober mit einem weiteren Polizeimassaker beantwortet worden war, kam es zum revolutionären Aufstand der Arbeiter und Soldaten in Budapest. Ungarn wurde zur Republik ausgerufen und der aus linksbürgerlichen Politikern und rechten Sozialdemokraten bestehende Nationalrat unter Führung von Graf Károlyi übernahm die Staatsgewalt. Parallel zu dieser neuen Regierung bildeten sich allerortens Arbeiter- und Soldatenräte. Károlyi und seine Minister bebabsichtigten selbstverständlich keine soziale Umwälzung. Vielmehr bemühten sie sich, Truppen aufzustellen, um die revolutionäre Bewegung niederzuwerfen, derweil sie mit leeren Versprechungen über eine geplante Agrarreform, die bäuerliche Bevölkerung auf ihre Seite zu bringen versuchten. Die Gewerkschaftsführer und Sozialdemokraten ihrerseits beschworen die Arbeiter, im Namen der nationalen Einheit auf den Klassenkampf zu verzichten, wie sie es bereits den ganzen Krieg über getan hatten. Wen wundert es, dass die Massen sich in Scharen von ihnen abwandten? Im November wurde durch den Zusammenschluss militanter Budapester Arbeiter und einer von Bela Kun angeführten Gruppe aus Sowjetrussland zurückgekehrter Kriegsgefangener die Kommunistische Partei gegründet, die sehr schnell Zehntausende von Anhängern zu gewinnen vermochte. Dies war die Zeit, als Lugosi an der Spitze von Protestzügen durch die Straßen von Budapest marschierte. Die Regierung wusste sich nicht anders zu helfen als mit nackter Gewalt. Hunderte revoltierender Bauern, Arbeiter und Soldaten wurden ermordet. Als man schließlich die Führer der KP am 20. Februar 1919 verhaftete und kurz darauf Nachrichten über ihre Folterung durch die Polizei an die Öffentlichkeit drangen, führte dies nur zu einer weiteren Radikalisierung der Massen. Der Streik der Drucker von Budapest, der am 20. März begann und sich beinahe augenblicklich in einen Generalstreik verwandelte, leitete das Ende der bürgerlichen Regierung ein. Károlyi trat zurück, die Sozialdemokraten begannen Verhandlungen mit den inhaftierten Kommunisten, MSzDP und KP vereinigten sich und die Räterepublik wurde proklamiert.

Es ist hier kaum der richtige Ort, um die Geschichte der 133 Tage Räteungarns und die Gründe für seinen Sturz zu beschreiben. Es sei jedoch festgehalten, dass es sich keineswegs um das "blutige Regime" aus den Schauermärchen antikommunistischer Propagandisten handelte. Dem "roten Terror" fielen insgesamt 129 Menschen zum Opfer. Eine überraschend geringe Zahl, verglichen sowohl mit den Opfern der Károlij-Regierung als vor allem mit denen des  "weißen Terrors", der dem Fall der Rätemacht und dem Einmarsch rumänischer Truppen im August folgte. Zwischen dem 15. und 31. August wurden rund 5000 Menschen von den Söldnern der Konterrevolution ermordet. Dieses Wüten der Verteidiger von Ordnung, Eigentum und Religion war es, vor dem Bela Lugosi gemeinsam mit seiner Familie nach Wien flüchtete. Es ist anzunehmen, dass sein Name auf den Todeslisten der Weißen stand.

Die Räteregierung bemühte sich in der kurzen Zeit ihres Bestehens auch auf dem Gebiet von Kunst und Kultur um eine grundlegende Revolutionierung und Demokratisierung:
Die beiden Bildungskommissare Kunfi und [Georg] Lukács schufen Bedingungen für einen bis dahin einmaligen Aufschwung von Kultur. 80 Prozent der Grund- und Mittelschulen, die der Kirche unterstanden, wurden nationalisiert. Obligatorischer Schulbesuch bis zum 14. Lebensjahr, Hochschulstudium, Museums- und Parkbesuche waren kostenlos. Lukács bestand darauf, daß sich alle künstlerischen Richtungen entfalten können, daß der Staat nicht in die Angelegenheiten von Kultur und Wissenschaften hineinreden dürfe. Zwar habe die Rätemacht alle institutionellen Mittel in Besitz genommen, die zur Verbreitung der Kultur notwendig seien. Daß Kunstschätze, Theater, Schulen, Museen im Staatsbesitz seien, »schaffe aber nur die Möglichkeit der neuen Kultur, der tatsächlichen Besitzergreifung, jener Epoche, in der alle Werte der Kultur zum inneren Besitz aller Arbeiter werden«. Denn das »Bild, das Buch, die Schule gehören nicht denen, derer tatsächlicher oder rechtmäßiger Besitz sie sind, sondern denen, die aus ihr Freude und Erbauung schöpfen können« [G. Lukács: Die tatsächliche Inbesitznahme der Kultur]. (3)
Eine ganze Reihe bedeutender Künstler und Intellektueller wie Béla Bartók, Sándor (Alexander) Korda und Béla Balász arbeiteten begeistert für das Volkskommissariat für Bildung. Lugosi befand sich hier wirklich in bester Gesellschaft. Einem seiner revolutionären Genossen würde er später in Hollywood wiederbegegnen: Dem Filmemacher Mihály Kertesz, besser bekannt unter seinem amerikanischen Namen Michael Curtiz – Regisseur so großartiger Filme wie Casablanca, Captain Blood, Kid Galahad, Angels with Dirty Faces, The Private Life of Elizabeth and Essex, The Sea Hawk, Mildred Pierce und Flamingo Road. (4)

Ich will keineswegs behaupten, dass Bela Lugosis revolutionäre Vergangenheit für sich genommen einen entscheidenden Einfluss auf sein späteres schauspielerisches Werk gehabt hätte. Nichts spricht dafür, und in den USA vermied er aus verständlichen Gründen peinlichst, auf diese Zeit zu sprechen zu kommen. Auch wüsste ich nicht, dass er in den 30er oder 40er Jahren zu den damals einflussreichen linken Kreisen Hollywoods gehört hätte. Dennoch halte ich all dies nicht für eine belanglose Anekdote. Wie so viele Größen der Goldenen Zeit von Hollywood war auch Bela Lugosi das Produkt eines ausgesprochen kultivierten Milieus, in dem die Revolte gegen die bürgerliche Ordnung in mehr oder weniger bewusster Form eine zentrale Rolle spielte. Verglichen mit den meisten, die heute in der Filmwelt Rang und Namen haben, verfügte er über einen unvergleichlich weiteren kulturellen wie politischen Horizont, war geprägt durch eine Ära der Massenkämpfe und revolutionären Umwälzungen. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass dies auch auf seine künstlerische Arbeit Einfluss haben musste, wenn auch nicht in direkter und offensichtlicher Form. Es ist die Intensität seines Spiels, in der wir etwas von der Intensität seines Lebens und seiner Epoche wiederfinden. Und ist sie es nicht letztlich, die ihn zu einer Ikone des Horrorfilms gemacht hat? So gesehen führt vielleicht doch ein verborgener Weg von der Räterepublik zu Graf Dracula.   



(1) Es wird behauptet, dass Kameramann Karl Freund (Der Golem, Der letzte Mann, Metropolis; später: The Seventh Cross, Key Largo) bei Dracula oft die Rolle des Regisseurs übernommen habe. Dass er dazu fähig war, zeigt sein im darauffolgenden Jahr entstandener Boris Karloff - Streifen The Mummy. Möglich also, dass Freund und nicht Browning für diese Szene verantwortlich war.
(2) Für weitere Informationen verweise ich auf The Black Cats of Poe I, die einundvierzigste Episode von Jim Moons Hypnobobs.
(3) Karl-Heinz Gräfe: Von der Asternrevolution zur Räterepublik. Ungarn 1918/19. S. 896f.
(4) Vgl. David Walsh: Film, history and socialism. Part two.

Freitag, 19. Oktober 2012

Monsterjagd in Swinging London

Wir schreiben das Jahr des Herrn 1971. Uralte finstere Mächte – lange schlafend und beinahe vergessen – sind wieder erwacht, um Chaos und Zerstörung über die Stadt an der Themse zu bringen. Doch es gibt Hoffnung. Um der Bedrohung entgegenzutreten, gründet der ebenso exzentrische wie mysteriöse Sir Maxwell House ein Zwei-Mann-Team wie es noch keines gegeben hat. Roy Steel – professioneller Alkoholiker, Draufgänger, Frauenheld und zweitgrößter Großwildjäger der Welt – und Lorrimer Chesterfield – Professor an Londons London University, Koryphäe des Okkulten und bis 1957 Bewohner eines Luftschutzbunkers – vereinigen ihre so unterschiedlichen Talente um Swinging London vor dem Ansturm des Bösen zu bewahren. Gemeinsam sind sie
Unbedingt hörenswert!

Donnerstag, 18. Oktober 2012

Schlockfest auf Camelot (II)

Dô der künic Artûs gesach
daz im diu werlt des lobes jach,
des fröute er sich sêre
und gelobte dur ir êre,
er wolde vasten alle tage,
unz er von sehene ald von sage
vernæme ein niuwez mære
dâvon ze sagene wære.

Der Stricker, Daniel von dem Blühenden Tal (75-82)*


In den Artusromanen des Mittelalters ist es üblich, dass die Ritter nach jeder bestandenen Aventuirefahrt an den Königshof zurückkehren und dort von ihren Erlebnissen erzählen.  Wie angekündigt, werde ich es bei meiner eigenen Queste durch die Fährnisse der vier Staffeln von Merlin ähnlich halten und nach jeder bestandenen Teiletappe vor meine Hofgesellschaft treten, um ihr von meinen Abenteuern zu berichten. So lauscht denn, edle Damen und ruhmreiche Ritter, und erfahrt, was mir auf meiner ersten Aventuire begegnet ist.**

Zu Beginn sei noch einmal betont, dass die Welt, in der Merlin spielt, weder das mittelalterliche Britannien noch der Kosmos der mittelalterlichen Artusdichtung ist, sondern eine Provinz von Fantasyland, vergleichbar dem Universum von Xena oder Sinbad. Deshalb ist es auch völlig in Ordnung, dass in Uthers Reich Schwarze wie Weiße leben, Tee getrunken wird, die christliche Religion scheinbar keine Rolle spielt, die künftige Königin Guinevere die Tochter eines Schmieds und Kammerdienerin ist, und Morgana mit dem Schwert umzugehen versteht. Jede Kritik, die sich gegen solche 'unrealistischen' Züge der Serie richtet, basiert auf falschen Voraussetzungen. Merlin will nichts anderes sein als Fernseh-Fantasy für die ganze Familie. Als solche ist die Serie vielleicht kein Meisterwerk, erweist sich in der ersten Staffel aber als unterhaltend, sympathisch und leidlich intelligent.

Die Grundidee ist – wenn auch von Smallville inspiriert – recht originell.*** Statt einmal mehr die Geschichte von der Tafelrunde zu erzählen, widmet sich die Serie der Jugendzeit von Merlin und Arthur, bevor letzterer den Thron von Camelot bestiegen hat. Irgendwelche Rücksichten auf die authentische Artusüberlieferung werden dabei nicht genommen, gewisse Grundkenntnisse jedoch vorausgesetzt. Wenn ein kleiner Junge Mordred heisst, sollte z.B. klar sein, dass von ihm nichts gutes zu erwarten ist. Eher ein Witz für die Eingeweihten ist es hingegen, wenn der Hofgenealoge den Namen Geoffrey of Monmouth trägt. Neckisch auch der Einfall, ganz nebenbei einige der bekanntesten Ritter der Tafelrunde wie Bedivere und Owein über die Klinge springen zu lassen – lange bevor es eine Tafelrunde überhaupt gibt.
Für alle, die die Serie gar nicht kennen, eine kurze Zusammenfassung der Grundidee: 
Arthurs tyrannischer Vater Uther Pendragon herrscht über ein Reich, in dem das Praktizieren von Zauberei unter Androhung der Todesstrafe verboten ist. Merlin, der von dem Hofmedikus Gaius unter seine Fittiche genommen wird, ist deshalb gezwungen, sein angeborenes magisches Talent verborgen zu halten. Gleichzeitig versuchen ihn sowohl Gaius als auch ein in einer Höhle unter Camelot gefangen gehaltener Drache davon zu überzeugen, es sei sein Schicksal, dafür zu sorgen, dass Arhur eines Tages ganz Albion unter seiner gerechten Herrschaft vereinigt. Nachdem er das Leben des arroganten Kronprinzen gerettet hat, wird Merlin zu dessen Leibdiener ernannt und befindet sich damit in der idealen Position, um ihn und das Reich vor immer neuen Anschlägen diverser Feinde zu bewahren. Hauptgegenspielerin in der ersten Staffel ist dabei die Zauberin Nimue, die in gewisser Weise für den Tod von Arthurs Mutter und damit auch für Uthers blindwütigen Hass auf alle Magie verantwortlich ist.

Die Serie lebt in erster Linie von ihren charismatischen Hauptdarstellern Colin Morgan als Merlin und Bradley James als Arthur, die offenbar mit viel Spaß bei der Sache waren, was sich auch auf die Zuschauer überträgt. Die Beziehung dieser beiden Charaktere bildet das Herz von Merlin. Arthur wirkt zu Beginn wie der typische eingebildete Adelssprössling, und wir können nur zu gut verstehen, dass unser Held sein angebliches Schicksal und seine Rolle als Leibdiener keineswegs begeistert umarmt. Allerdings wird ihm relativ bald bewusst, dass der Prinz neben seinen unerträglichen Eigenschaften auch sehr positive Anlagen besitzt: Er verfügt über ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein und einen scharfen Sinn für Gerechtigkeit. Auch verbirgt sich unter seiner extremen Arroganz ein mitfühlendes Herz. Und so entwickelt Merlin schon bald ein Gefühl ehrlicher Freundschaft für Arthur. Auch der Prinz sieht in ihm nach und nach mehr einen Vertrauten als einen bloßen Lakaien. Dennoch bleibt die kuriose 'Herr - Diener' - Beziehung, in der der 'Diener' zugleich der magische Schutzengel des 'Herren' ist, das Kernelement der Serie. Auf ihr basiert ein Großteil des Humors von Merlin.
Was die übrigen Darsteller und Darstellerinnen angeht, so ist es stets ein Vergnügen, Anthony Head (Buffys Giles) in Aktion zu erleben, dessen Uther die wohl komplexeste Figur der Serie ist: Gequält von Trauer und Schuldgefühlen, oft selbstherrlich und leicht erzürnbar, meist unfähig, seine wahren Gefühle für die ihm nahestehenden Menschen zu zeigen, wirkt er zugleich hassenswert und mitleidserregend. Angel Coulby als Morganas Kammerdienerin und Vertraute "Gwen" Guinevere sowie Richard Wilson als Merlins humorvoll-väterlicher Mentor Gaius hinterlassen gleichfalls einen im Großen und Ganzen positiven Eindruck. Am schlechtesten schneidet in der ersten Staffel eindeutig Katie McGrath als Morgana ab, was aber nicht allein ihre Schuld, sondern auch die der Drehbuchschreiber sein könnte, denen es schwergefallen zu sein scheint, dem Charakter der künftigen großen Gegenspielerin, die hier noch ganz Sympathieträgerin ist, eindeutige Gestalt zu verleihen.

Von Anfang an besonders gut gefallen hat es mir, dass Merlin im Unterschied zu so vielen Vertretern der 08/15-Fantasy die Realitäten einer feudalen Ständegsellschaft nicht einfach ignoriert. Auch wenn die Darstellung naiv und ziemlich oberflächlich ist, lässt sie doch keinen Zweifel an der Ungerechtigkeit dieser Ordnung und an der von ihr hervorgerufenen Verzerrung zwischenmenschlicher Beziehungen. Im Falle von Merlin und Arthur löst sich dieser Konflikt meist in humorvollen Wortgeplänkeln auf, doch bei jemandem wie Lanzelot, dessen ganzer Lebensinhalt darin besteht, ein Ritter zu werden, was ihm als einem Mann aus einfachen Verhältnissen unter den gegebenen Umständen für immer verwehrt bleiben muss, werden auch ernstere Töne angeschlagen (Ep. 5: "Lancelot"). Und auch wenn wir mit Arthur den kommenden 'guten König' vor uns haben, erleben wir ihn doch vor allem als hochmütigen jungen Mann, der ganz selbstverständlich erwartet, dass alle Welt seinen Launen gehorchen und ihm stets zu Diensten sein muss. Außerdem sitzt mit Uther nach wie vor ein wahrer Despot auf dem Thron von Camelot, der scheinbar bedenkenlos Tausende von Menschen während seines Kreuzzugs gegen die Zauberei in den Tod geschickt hat. Das gibt auch den meisten Bösewichtern eine zumindest im Ansatz nachvollziehbare Motivation. So wenn Nimue Uther gegenüber erklärt, sie habe unzählige geliebte Personen von seiner Hand sterben sehen, nun werde sie dafür sorgen, dass er mit Arthur den Menschen verliert, der ihm am meisten bedeutet (Ep. 13: "Le Morte d'Arthur"). Ebenso werden Morganas erste Schritte auf dem Weg zur Gegenspielerin von ihrem berechtigten Abscheu vor der Härte und Grausamkeit des Königs motiviert. Ihr erster, noch halbherziger und letztlich von ihr selbst abgebrochener Versuch, ihren Vormund zu ermorden, geschieht in Reaktion auf die Hinrichtung von Gwens Vater, der ungerechtfertigterweise des Hochverrats und der Konspiration mit Zauberern angeklagt wurde (Ep. 12: "To Kill the King").

Gleichfalls recht ansprechend fand ich den Umgang der ersten Staffel mit dem Motiv von Schicksal und Vorherbestimmung. Merlin ist zwar der typische auserwählte Fantasyheld, der eine Bestimmung zu erfüllen hat, die die Weisen bereits vor Jahrhunderten in den Sternen, ihren Kristallkugeln oder im Kaffeesatz vorhergesehen haben, aber er sperrt sich sehr deutlich dagegen, seine Entscheidungen in allen Fällen von diesem angeblichen Schicksal abhängig zu machen. Gaius und der Drache spielen die klassische Rolle des Mentoren, dessen Autorität in der 08/15-Fantasy für gewöhnlich so gut wie unangreifbar ist. Doch immer dann, wenn sie etwas von ihm verlangen, was seinem Gewissen oder seinen eigenen Wertvorstellungen widerspricht, verweigert Merlin ihnen den Gehorsam. Am offensichtlichsten wird dies, wenn der Drache von ihm verlangt, nicht das Leben des kleinen Druidenjungen Mordred zu retten, da dieser eines Tages für den Tod Arthurs verantwortlich sein werde. Dem hält Merlin entgegen, dass die Zukunft nicht in Stein gemeißelt sei, und er nicht tatenlos mit ansehen könnee, wie ein unschuldiges Kind ermordet wird (Ep. 8: "The Beginning of the End"). Wir als Zuschauer wissen natürlich, dass Mordred wohl auch in dieser Version der Artusgeschichte tatsächlich einen entscheidenden Beitrag zum Untergang Camelots leisten wird, doch sollte man daraus nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass der Drache in diesem und ähnlichen Punkten recht hat. Würde Merlin seinen Befehlen folgen, so hätte dies Auswirkungen, die möglicherweise viel verheerender wären als alles, was ein Mordred in Zukunft anstellen kann. Merlins Charakter würde sich tiefgreifend verändern. Er würde von einem mitfühlenden Menschen zu einem bloßen Werkzeug des 'Schicksals', und wie könnte er dann noch seine eigentliche Aufgabe erfüllen, dem von Standesdünkeln verblendeten Arthur die Augen für den Wert echter Menschlichkeit zu öffnen? Ob der hier gegebene Ansatz zu einer kritischen Behandlung des in der Fantasy so verbreiteten Motivs des Auserwähltseins im weiteren Verlauf der Serie ausgebaut wird oder nicht, werden wir noch sehen.

Trotz dieser positiven Eindrücke, besitzt die erste Staffel auch ziemlich deutliche Schwächen. Im Einzelnen genommen sind die Episodenabenteuer soweit in Ordnung. Okay, die miese Tricktechnik vergällt einem das Vergnügen an dem Greif in Ep. 5: "Lancelot", und ich persönlich empfinde eine tiefe Abneigung gegen alle Rip-Offs von Akira Kurosawas Die sieben Samurai wie in Ep. 10: "The Moment of Truth". Doch davon einmal abgesehen, besitzen sie alle ihren Unterhaltungswert. Das Problem liegt eher in der Gesamtstruktur der Staffel. Mein erster Eindruck war der, dass die Drehbuchschreiber sich nicht sicher gewesen wären, ob es noch eine zweite geben würde, und deshalb möglichst viel bereits in diese hineinstopfen wollten. So werden uns alle möglichen Ansätze zu epischen Handlungsbögen geliefert ("Lancelot", "The Beginning of the End", Excalibur", "The Moment of Truth", "To Kill the King"), die sich jedoch entweder als bloße Red Herrings erweisen oder nicht konsequent weitergeführt werden. Im Ganzen gesehen hinterlässt die erste Staffel deshalb den Eindruck einer äußerst ruckligen Fahrt. Immer wieder wird aufs Gaspedal getreten, nur um im nächsten Augenblick die Bremse zu ziehen. Man könnte dies für das nicht seltene Erste Staffel - Anfänger - Syndrom halten. Oft dauert es ja ein bisschen, bis eine TV-Serie den richtigen Rhytmus gefunden hat. Doch wie wir bald schon sehen werden, hat man darin wohl eher die ersten Anzeichen für ein sehr viel grundsätzlicheres Problem zu sehen, das in der Struktur von Merlin selbst angelegt ist. Darüber will ich mich ausführlicher jedoch erst im nächsten Post äußern.

* "Als König Artus sah, dass ihn die Welt dafür [für die Gründung der Tafelrunde] rühmte, freute er sich sehr und gelobte um ihrer [der Ritter] Ehre Willen, stets zu fasten, bis er mit eigenen Augen oder durch Erzählungen eine Neuigkeit erfahre, von der zu erzählen es wert wäre."
** Um ehrlich zu sein, ich bin bereits in der dritten Staffel, doch ich möchte es bei der ursprünglichen Idee 1 Staffel = 1 Post belassen. 
*** Dass irgendeiner der Macher die 1980 ausgestrahlte ZDF-Serie Merlin mit Tommi Ohrner gekannt hat, scheint mir unwahrscheinlich.  Genaueres hierüber zu erfahren, wäre aber sehr interessant.

Montag, 15. Oktober 2012

Reise mit leichtem Gepäck

Für den zweiten Märchentag nun nicht wie ursprünglich beabsichtigt Catherynne M. Valentes Orphan's Tales, sondern ein kleines Büchlein einer großen Schrifstellerin   der leider etwas in Vergessenheit geratenen Naomi Mitchison (1897-1999).

Man kann sich kaum zwei gegensätzlichere Persönlichkeiten vorstellen als J.R.R. Tolkien und Naomi Mitchison. Auf der einen Seite der erzkonservative Katholik, für den der Sozialismus eine Verkörperung des "bösen Geistes"* und "Frauenrechte" Teil der 'kosmopolitischen Unkultur' waren, die die Welt zu überschwemmen drohe.** Auf der anderen Seite die freidenkerische Sozialistin und Feministin. Und dennoch verband die beiden in den 50er Jahren beinahe so etwas wie Freundschaft. Mitchison hatte im Auftrag von Allan & Unwin die ersten zwei Bände des Lord of the Rings probegelesen und eine begeisterte Rezension verfasst. In der Folge entwickelte sich ein reger Briefwechsel zwischen den beiden.
Zwar revidierte die Autorin später ihr überschwengliches Lob für Tolkiens Werk und äußerte sich ziemlich kritisch zu The Return of the King, trotzdem macht es Sinn, die beiden nebeneinander zu betrachten. Beide gehören zu dem, was man als die Gründergeneration der modernen Fantasy bezeichnen könnte. Eine Generation, deren Leben stark geprägt wurde von den gewaltigen Ereignissen, die Europa und die Welt von 1914 bis 1945 erschütterten: Der 1. Weltkrieg, die Oktoberrevolution, die europaweit äußerst heftigen Klassenkämpfe der Nachkriegszeit. der Aufstieg des Faschismus, die Weltwirtschaftskrise, die Konsolidierung des Stalinismus und schließlich die Hölle von 2. Weltkrieg und Holocaust.   
Freilich unterschied sich Naomi Mitchisons Reaktion auf diese Entwicklungen grundsätzlich von der Tolkiens. Der 'Professor' sah in ihnen bloß eine Bestätigung für seinen Hass auf die Moderne, was sein Verlangen verstärken musste, sich mit Mittelerde eine Art literarische Ersatzheimat zu schaffen. Mitchison hingegen reagierte auf sie, indem sie die bestehende Ordnung immer radikaler in Frage stellte. Was mit einer Kritik an der Sexualmoral und den Geschlechterrollen der edwardianischen Gesellschaft begann, führte sie schließlich zum Sozialismus und zum politischen Kampf. Wie ihr älterer Bruder, der berühmte Biologe J.B.S. Haldane, näherte sie sich zu Beginn der 30er Jahre der stalinistischen KP an. 1932 reiste sie zu einem Besuch in die Sowjetunion. 1934 war sie während des Februaraufstands der sozialdemokratischen Milizen gegen das katholisch-autoritäre Dollfuß-Regime als Korrespondentin in Wien, schmuggelte Hilfsgelder für die Kämpfer ins Land und half nach der Niederschlagung des Aufstands Sozialisten bei der Flucht aus Österreich. 1935 kandidierte sie erfolglos als linke Labour-Vertreterin für einen Sitz im Unterhaus. 1937 engagierte sie sich für die Antifaschisten im Spanischen Bürgerkrieg. Sie schrieb dazu:

There is no question for any decent, kindly man or women, let alone a poet or writer who must be more sensitive. We have to be against Franco and Fascism and for the people of Spain, and the future of gentleness and brotherhood which ordinary men and women want all over the world.
Als sie 1939 gemeinsam mit ihrem Ehemann in das schottische Carradale übersiedelte, war dies allerdings wohl bereits ein äußeres Anzeichen zunehmender Demoralisation. Zwar blieb sie Zeit ihres Lebens politisch aktiv, doch ihre Hoffnung auf eine grundlegende, revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft schwand mehr und mehr.
Ihre schriftstellerische Karriere begann Naomi Mitchison 1923 mit der Veröffentlichung ihres historischen Romans The Conquered. Das Thema des Buches – die Eroberung Galliens durch Julius Caesar und der erfolglose Aufstand des Vercingetorix – lässt bereits erahnen, dass ihr literarisches Schaffen  ganz gleich in welchem Genre sie schrieb  aufs engste mit den Fragen und Ideen verbunden war, die auch den Inhalt ihres politischen Aktivismus bildeten. Ihr vielleicht bedeutendstes Werk ist der 1931 erschienene historisch-phantastische Roman The Corn King and the Spring Queen (Kornkönig und Frühlingsbraut). Terri Windling nannte ihn einmal völlig zurecht "a lost classic". Bezeichnend ist allerdings, dass bereits in diesem relativ frühen, faszinierenden und vielschichtigen Werk das Scheitern revolutionärer Hoffnungen eine zentrale Rolle spielt. Einige motivische Anklänge an dieses epische Werk finden sich auch noch in der Geschichte, um die es jetzt gehen soll: Der 1951 erstmals erschienen Erzählung Travel Light, in deutscher Übersetzung unter dem Titel Eine Reise durch die Zeit veröffentlicht. Das Thema Revolution findet sich hier freilich nicht mehr, doch geblieben ist der humane und stets kritische Blick auf die Wirklichkeit sowie die Offenheit für das Neue und Andere.

Travel Light ist ein Märchen, und Naomi Mitchison gelingt es auf meisterliche Weise mit einer zugleich knappen und poetischen Sprache die entsprechende Atmosphäre heraufzubeschwören. Als Beispiel dafür mag die Eröffnung dienen:

Man erzählt, die neue Königin rief beim Anblick des neugeborenen Töchterchens der alten Königin: "Schafft mir das Balg vom Hals!" Der König, der die alte Königin inzwischen beinahe vergessen und sein Töchterchen kaum eines Blickes gewürdigt hatte, stimmte zu und dachte nicht weiter über die Sache nach. Das wäre das Ende des kleinen Mädchens gewesen, wenn ihre Amme Matulli nicht davon erfahren hätte. Die Amme stammte aber aus der Finnmark, und wie viele andere Leute aus dieser Gegend besaß sie die Fähigkeit, hin und wieder die Gestalt eines Tieres anzunehmen. Und so verwandelte sie sich auf der Stelle in eine schwarze Bärin, nahm das kleine Kind mitsamt der Decke ins Maul, verschwand brummend aus dem Frauengemach hinter der Halle des Königs und trottete durch den spärlichen Frühlingsschnee, der in der Umgebung der Halle bereits geschmolzen war, durch den Birkenwald und den Tannenwald in den tiefen dunklen Wald, wo die anderen Bären gerade aus dem Winterschlaf erwachten.

Nach einem Sommer unter den Bären wird die kleine Halla von dem Drachen Uggi adoptiert. Die Welt, in der sie aufwächst, ist eine nordische Märchenlandschaft, bevölkert von Drachen, Zwergen, Trollen. Grendels Familie hat einen kurzen Auftritt, und einmal schaut auch die Walküre Steinvor bei Uggis Höhle vorbei. Ihr wird Halla noch häufiger begegnen.
Von all dem erzählt Mitchison in einem humorvollen Ton, der das Märchenhafte zwar nie lächerlich macht, doch bestimmte Klischees (und die damit verbundenen Wertvorstellungen) satirisch untergräbt. So etwa wenn es von den Einhörnern heißt:
Hin und wieder kamen auch andere Geschöpfe aus dem Wald – darunter auch mehrere Einhörner, die Halla auf Schritt und Tritt folgten, ihr schmachtend den Kopf in den Schoß legten, und sie mit ihren großen goldenen Augen unverwandt ansahen. Sie hatten ziemlich schwere Köpfe, und deshalb war das lästig – ganz besonders, wenn es zwei gleichzeitig taten. Es machte auch längst nicht soviel Spaß, auf ihnen zu reiten wie auf den Drachen.
Das subversive Element der Geschicht ergibt sich jedoch vor allem dadurch, dass Halla die Welt aus der Perspektive eines Drachen zu sehen lernt. Sie denkt und empfindet wie ein Drache. Und was Drachen am allermeisten hassen, das sind Helden. Irgendwelche Königssöhne oder andere Schlagetots, die sich ein Vergnügen daraus machen, Drachen zu ermorden und deren mühsam zusammengetragene Schätze zu rauben. Und einer dieser Helden ist es schließlich auch, der Hallas unbeschwerte Kindheit beendet, indem er Uggi tötet. Der Begriff 'Held' behält die ganze Erzählung über seine negative Bedeutung.
Nur knapp der Vergewaltigung durch den Ersatzsiegfried entkommen (Mitchison wird nicht explizit, aber sie scheut auch nicht vor der Darstellung von Gewalt zurück), begegnet die verzweifelte Halla im Wald Allvater (Odin), dem Wanderer. Dieser schenkt ihr ein Stück seines Mantels und schickt sie auf eine Reise nach dem fernen Mickelgard (Konstantinopel). Zuvor hat er den Überrest von Uggis Hort, den Halla mit sich geschleppt hat, vergraben. "Mache dich unbeschwert auf den Weg mein Kind, so unbeschwert wie der Wanderer, und seine Liebe wird dich begleiten."
Damit beginnt Hallas eigentliches Abenteuer. Sie verlässt die Welt des Mythos und betritt die Welt menschlicher Geschichte. Sie schließt sich einer Gruppe von Männern aus der Schwarzmeerstadt Marob an, die beim Kaiser die Klagen ihres Volkes über einen tyrannischen Statthalter vorbringen wollen. Gemeinsam mit ihnen lernt sie das Intrigenspiel und die Korruption der byzantinischen Gesellschaft kennen, hilft ihnen, gegen alle Widerstände ihr Ziel zu erreichen, und reist schließlich zusammen mit einem der drei – Tarkan Der – weiter nach Nowgorod.

Man würde vielleicht erwarten, in Travel Light eine typische 'Coming of Age' - Geschichte zu finden, und Teile einer solchen sind auch tatsächlich vorhanden. Halla lernt auf ihren Reisen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Sie lernt die komplexe Vielfalt menschlicher Gefühle und Beziehungen kennen und entwickelt dadurch die Fähigkeit zu Mitgefühl und Freundschaft. Aber die Erzählung läuft nicht auf ihre Integration in die menschliche Welt hinaus. Das Ende des Buches ist nicht das Ende ihrer Reise.
Halla besitzt die Gabe, die Sprachen aller Menschen und Tiere zu verstehen und zu sprechen. Dadurch wird sie in die Lage versetzt, die Welt aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu betrachten. Sie lernt eine Vielzahl an Sichtweisen kennen, ohne eine von ihnen vorbehaltlos zu übernehmen. Ebensowenig lässt sie es zu, dass andere ihr eine Art des Lebens aufdrängen. Als Tarak Der wie selbstverständlich davon ausgeht, dass sie heiraten werden, ist sie davon keineswegs begeistert. Für ihn ist es vermutlich das Richtige, sich in der Nähe von Nowgorod eine neue Heimat aufzubauen und eine Familie zu gründen, aber nicht für sie!
Das ist wohl auch die Bedeutung von Allvaters Worten über das 'unbeschwerte' Reisen. Indem er den Rest von Uggis Hort vergräbt, hilft er ihr, sich von den Denkstrukturen zu lösen, die ihr als Kind von den Drachen beigebracht wurden. Nicht dass sie ihr 'Drachenerbe' über Bord werfen soll, aber sie muss (wie jeder Mensch) ihre eigene Position in der Welt finden. Dafür schickt er sie auf ihre Reise. Sie soll neue Erfahrungen sammeln und ungewohnte Sichtweisen kennenlernen, bis sie ihre eigene Identität gefunden bzw. entwickelt hat. Wie Allvater sagt: "Wer in Höhlen lebt, stirbt in Höhlen".
Man könnte das Buch als eine Warnung davor lesen, sich unkritisch auf eine Sicht der Wirklichkeit zu versteifen. Der alte Kiot aus Marob ist ein besonders frommer Christ. Doch der Besuch in Byzanz erschüttert ihn "bis in die Wurzeln seines Wesens". In seinen Augen war das Christentum stets eine Religion der Gerechtigkeit und des Mitgefühls, die sich für die Armen und Entrechteten einsetzt. Doch nun hat er erleben müssen, dass die Kirche längst zu einem Instrument der Mächtigen geworden ist, zerfressen von dergleichen Korruption wie der ganze byzantinische Staat. Hätte er nicht so vorbehaltslos geglaubt, hätte er nicht so bitter enttäuscht werden können.
Sicher enthält die Geschichte dieses Element. Sie fordert uns auf, altbekanntes immer wieder zu hinterfragen und stets offen für neues zu bleiben. Aber ich denke nicht, dass wir uns Hallas 'unbeschwertes Wandern' in seiner ganzen Radikalität zum Vorbild nehmen sollen. Denn es ist sehr deutlich, dass sie dadurch stets eine Fremde bleibt, selbst unter den Menschen, die sie liebt. Travel Light ist vor allem ein Buch für Kinder und Heranwachsende, und diesen will es sagen: Erkundet die Welt! Lernt unterschiedliche Perspektiven und Wertesysteme kennen! Probiert euch aus! Lasst euch nicht von anderen einen Lebensentwurf aufzwingen! Ich denke nicht, dass es uns sagen will, dass wir für immer in diesem Zustand des Wanderns verharren sollen. Früher oder später müssen wir unsere Position im Leben finden, ohne dass wir dadurch die Offenheit für das Neue und Fremde einbüßen müssten.

PS: Zum Schluss noch ein paar Artikel über Naomi Mitchison:
Nic Clarke: An Experimental Life: books by and about Naomi Mitchison.
Neil Ascherton: Naomi Mitchison - a queen, a saint and a shaman.
Reiner Luyken: Die Lady liebt den Kampf.
Raymond H. Thompson: Interview with Naomi Mitchison. (Hauptsächlich über ihren Artusroman To the Chapel Perilous {nebenbei bemerkt mein persönlicher Favorit unter den modernen Neubearbeitungen des Artusstoffes})


* Brief an Christopher Tolkien [30. Januar 1945]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 96. S. 148.
** Brief an Christopher Tolkien [9. Dezember 1943]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 53. S. 89.

Sonntag, 14. Oktober 2012

Der Mann, der uns die Monsterspinne gab

Und schon wieder haben wir einen Geburtstag zu feiern -- diesmal sogar einen runden hundertsten. Am 14. Oktober 1912 nämlich wurde Jack Arnold, einer der absoluten Großmeister des phantastischen B-Movies der 50er Jahre, geboren. Sein Einfluss auf spätere Generationen von Genre-Regisseuren ist kaum zu unterschätzen. Auch wenn seine besten Filme vermutlich It Came From Outer Space (nach einer Geschichte von Ray Bradbury) und The Incredible Shrinking Man sein dürften, wird für mich persönlich sein Name (aufgrund lebhafter Kindheitserinnerungen) stets in erster Linie mit Tarantula verbunden bleiben. 
Arnold verstand es meisterlich, aus einer ausgestorbenen Wüstenlandschaft einen bedrohlichen Ort verborgener Schrecken zu machen. Und verdammt noch mal -- ich finde die Art, in der Spinnen sich fortbewegen, noch heute unheimlich:


PS: Wer etwas mehr über Jack Arnold erfahren will, findet hier einen recht interessanten Blogeintrag.

Samstag, 13. Oktober 2012

"Pickman's Model"

Im April 1926 kehrte H.P. Lovecraft nach zwei glücklosen Jahren in New York in seine Heimatstadt Providence zurück. Im darauffolgenden Jahr schrieb er an Clark Ashton Smith:
What I absolutely must have - & that is about the only thing really essential to me - is a general atmosphere exactly like that of my youth - the same scenes, the same kind of faces & voices & thoughts & opinions around me - the same type of sounds & impressions. I did not realise my dependence on these things till I tried living in New York, but then I was very soon made to see my essential attachment to them. I discovered that the cosmic & cosmopolitan element in me is the thinnest of veneers, & that I am actually - so far as all the deeper emotions & springs of action are concerned - an extremely localised New Englander of the most pronounced type. In New York my mental processes were virtually atrophied for want of contact with the impressions which form their exclusive nourishment - I was an unassimilated alien there, & always would have been. Only the return home liberated & resuscitated my faculties, such as they are. [...] That ethereal sense of identity with my own native & hereditary soil & institutions is the one essential condition of intellectual life - & even of a sense of complete existence & waking reality - which I cannot do without. Like Antaeus of old, my strength depends on repeated contact with the soil of the Mother Earth that bore me.
Der Vergleich mit Antaeus war nicht ganz unberechtigt. Im Laufe des Jahres 1926/27 schrieb Lovecraft u.a. The Silver Key, The Dream-Quest of Unkown Kadath, The Case of Charles Dexter Ward, Pickman's Model, The Call of Cthulhu und The Colour Out of Space. Daneben beendete er seine 1925 begonnene Studie über die Geschichte der Horrorliteratur Supernatural Horror in Literature. Es war die vielleicht produktivste Phase seines Lebens und ein wichtiger Wendepunkt in seiner Entwicklung als Schriftsteller.  Mit Supernatural Horror vergewisserte er sich seiner Position innerhalb einer literarischen Tradition, die mit der gothic novel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren Anfang genommen hatte, und konkretisierte zugleich seine Vorstellung von der ‘kosmischen Angst’ als dem eigentlichen Thema der Horrorliteratur. Obwohl Lord Dunsany in dem ausführlichen Essay immer noch eine herausragende Stellung einnimmt, endete Lovecrafts eigene an Dunsany orientierte Phase der ‘Traumland-Geschichten’ mit The Silver Key und The Dream-Quest.  Der bizarre und farbenfrohe Exotismus des irischen Dichters wird ersetzt durch ein neues, sehr viel nüchterneres ästhetisches Ideal, das seine Verkörperung in dem exzentrischen Maler makabrer und phantastischer Szenerien in Pickman's Model gefunden hat:
Pickman war - gemessen an Beobachtung und Ausführung - in jeder Beziehung ein durch und durch genauer, ja fast wissenschaftlich vorgehender Realist.
Die Kurzgeschichte enthält nicht nur viel von Lovecrafts eigenen Gedanken über phantastische Kunst, sondern ist zugleich auch eine seiner wirklich gelungenen Horrorstories. Um so erfreulicher, dass uns Mr. Jim Moon in der jüngsten Ausgabe von Hypnobobs mit einer Lesung von Pickman's Model beglückt. Freunde und Freundinnen des gepflegten Grauens, gießt euch einen guten Port ein, macht es euch bequem und lauscht der sanften Stimme von Darlingtons Bibliothekar der Träume!