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Sonntag, 28. Oktober 2012

Eisensteins erster Film

Sergej Eisenstein gehört unbestritten zu den Titanen der Filmgeschichte. Insbesondere dank Panzerkreuzer Potemkin ist er der wohl bekannteste Vertreter des jungen sowjetischen Films, an dessen Spitze er zuammen mit Wsewolod Pudowkin und Dsiga Wertow stand. Das Massaker auf der großen Treppe von Odessa dürfte eine der am häufigsten zitierten Szenen der Kinogeschichte sein. (1) Der große amerikanische Filmkritiker Andrew Sarris, der dem Einfluss Eisensteins auf das westliche Kino äußerst kritisch gegenüberstand, sah in ihm nichtsdestoweniger neben F.W. Murnau den zweiten stilprägenden Regisseur des frühen Films. (2) Und auch wenn sich letztenendes nicht Eisensteins 'dialektische Montage', sondern Murnaus 'bewegte Kamera'  als die dominierende ästhetische Technik durchsetzte, ändert dies nichts an der überragenden Bedeutung des sowjetischen Regisseurs.

Vor einiger Zeit bin ich bei Youtube auf Eisensteins erstes filmisches Werk gestoßen, ein kurzes Filmchen mit dem Titel Glumows Tagebuch, das als Einspielung bei der legendären Aufführung von Alexander Ostrowskis Komödie Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste diente, die der spätere Filmemacher 1923 in Zusammenarbeit mit dem futuristischen Dramatiker Sergej Tretjakow am I. Arbeitertheater des Proletkult inszenierte. Der Clip eröffnet uns einen unmittelbaren Einblick in die Anfänge von Eisensteins künstlerischem Schaffen. Und meiner Ansicht nach ist die Kenntnis dieser Wurzeln auch für das richtige Verständnis seines späteren Werkes unerlässlich.

  
Obwohl seine Familie strikt antibolschewistisch eingestellt war (sein Vater schloss sich den Weißen an und endete in der Emigration), begrüßte Eisenstein die Oktoberrevolution voller Begeisterung und trat 1918 in die Rote Armee ein. Die unmittelbare Konfrontation mit den Realitäten des Bürgerkriegs war für ihn, wie für viele spätere Größen des sowjetischen Films (Pudowkin, Wertow, Eduard Tisse), prägend.  Erste künstlerische Erfahrungen sammelte er bei den Agit-Zügen an der Front. 1920 schloss er sich in Moskau der "Bewegung für Proletarische Kultur" (Proletkult) an.
Der Proletkult hatte sich offiziell zum Ziel gesetzt, eine alle Lebensbereiche umfassende proletarisch-sozialistische Kultur zu schaffen. Wie die Redaktion seiner führenden Zeitschrift Proletarskaja Kul'tura verkündete: "In questions of culture we are immediate socialists. We demand that the proletariat start right now, immediately, to create its own socialist forms of thought, feeling, and daily life , independent of alliances or combinations of political forces." (3) Für eine kritische Begutachtung der ideologischen Grundlagen der Bewegung, die von Alexander Bogdanow geschaffen worden waren (4), ist hier ebensowenig Platz, wie für einen auch nur knappen Überblick über die vielfältigen Aktivitäten der ihr angeschlossenen Gruppen. Es muss genügen, zu erklären, dass der Proletkult nur eine der Erscheinungsformen einer vielgestaltigen kulturellen Blüte im jungen Sowjetrussland war, die von der bolschewistischen Regierung und ihrem Volkskommissar für Kultur und Bildung Anatoli Lunatscharski nach Kräften gefördert wurde. Im Bereich des Theaters nahm diese so unterschiedliche Formen an wie Nikolai Foreggers "Maschinenballett", Jewgeni Wachtangows Improvisationsarbeiten am Künstlertheater (MCHAT) oder Alexei Granowskis jiddisches Theater, für das Marc Chagall die Bühnenbilder anfertigte. Eisenstein schloss sich Wsewolod Meyerhold an. Der rebellische Exschüler von Altmeister Stanislawski war die überragende Künstlerpersönlichkeit des konstruktivistischen Theater-Oktober und einer der größten Innovatoren der Bühne im 20. Jahrhundert.
Für seine eigene Arbeit am I. Arbeitertheater in Moskau ließ sich Eisenstein nicht nur von Meyerholds Methode der "Biomechanik" (5) beeinflussen, sondern griff auch ganz im Sinne seines Lehrers (6) auf die Darstellungsformen von Zirkus und Jahrmarkt zurück, integrierte Akrobatik, Clownerie, Groteske und Buffonade in seine Inszenierungen. Jürgen Rühle schreibt etwas spöttisch: 
Die Proletkult-Bühne stellte sich ganz darauf ein, die alte Volkskunst der Narrenpossen und Jahrmarktsakrobatik zu erneuern. Da wurde denn Theater gespielt und Agitation getrieben, indem die Artisten herumrannten und herumsprangen, turnten, kletterten, jonglierten, balancierten und auf dem Kopf standen. (7)
Zur Aufführung von Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste gehörte u.a. eine spektakuläre Nummer auf dem Hochseil.
Und wie es Eisensteins Art war, entwickelte er auch sofort ein theoretisches Gerüst für seine künstlerische Arbeit: das "Theater der Attraktionen". Davon ausgehend, dass es die Aufgabe eines revolutionären Theaters sei, das Publikum auf zielgerichtete Weise emotional zu formen, gelangte er zu einem Konzept, bei dem eine Inszenierung als eine Montage sog. "Attraktionen" aufgefasst wurde. Was man unter diesem Begriff zu verstehen hat, beschrieb Eisensteins Mitarbeiter Tretjakow wie folgt: 
Eine Attraktion [...] ist jede berechnete Einwirkung auf Aufmerksamkeit und Emotion des Zuschauers, jede szenische Kombination, die in der Lage ist, die Emotion des Zuschauers in die von der Aufführung diktierte Richtung zu lenken. Von diesem Standpunkt aus ist eine Aufführung beileibe nicht die mehr oder minder wahrhaftige Demonstration von Ereignissen, Charakteren oder plastischen Kombinationen, sondern der Aufbau einer Kette von szenischen Situationen, die, entsprechend dem Auftrag, das Publikum bearbeiten. Die Attraktion erfaßt die Aufmerksamkeit des Auditoriums, komprimiert und entlädt die Emotion. Ergebnis der Vorstellung: der Zuschauer ist entsprechend "aufgeladen" (8)
Eine "Attraktion" im Sinne Eisensteins ist also eine Bühnenaktion, die die Zuschauer zu überraschen, zu fesseln und mit einer ganz bestimmten, vom Regisseur 'vorausberechneten' Emotion zu erfüllen vermag. Als solche konnten so unterschiedliche Elemente dienen wie ein Hochseilakt, eine Slapstick-Nummer, ein Liedchen oder eben ein kurzer Film wie Glumows Tagebuch.

Nachdem er 1924 mit Gasmasken nach Der Gescheiteste und Tretjakows Hörst du, Moskau? sein drittes Stück am Proletkult-Theater inszeniert hatte, wandte Eisenstein sich von der Bühne ab und endgültig dem Film zu. Doch die Ideen, die er erstmals im "Theater der Attraktionen" formuliert hatte, bildeten den Ausgangspunkt für das, was einmal seine berühmte Montagetechnik werden sollte. Und auch das Interesse an Groteske, Buffonade und Exzentrik – sprich an Elementen des Phantastischen – ging dem künftigen Schöpfer monumentaler Revolutionsepen nie ganz verloren. Bei seinem ersten Kinfofilm Streik (1925), der noch unter Mithilfe des Proletkultisten Walerian Pletnjew sowie des Kollektivs vom I. Arbeitertheater entstand, ist dies besonders offensichtlich, aber auch in späteren Werken lassen sich mehr oder weniger deutliche Spuren davon finden. Man betrachte sich z.B. Oktober aus dem Jahre 1927. Übergehen wir für den Moment die Tatsache, dass der Film auf Befehl Stalins und seiner Anhänger mehrfach umgeschnitten werden musste und in seiner heutigen Form nicht den Intentionen des Regisseurs entspricht, so bleibt vor allem der oft gehörte Vorwurf, Eisenstein habe die Ereignisse des Oktoberaufstands von 1917 nicht so dargestellt, wie sie sich in Wirklichkeit abgespielt hatten. Stattdessen habe er ein pathetisches Propagandaspektakel auf die Leinwand gezaubert. Diese Form der Kritik geht meiner Ansicht nach von einer völlig falschen Voraussetzung aus. Eisenstein war nie ein "Realist". Ein Film wie Oktober will überhaupt keine Nachstellung konkreter historischer Ereignisse sein. Er versucht vielmehr auf symbolische Art darzustellen, was die Machteroberung durch die Bolschewiki geschichtlich bedeutet hatte. Dazu bedient er sich in großem Umfang der Mittel von Groteske, Satire und Symbolismus.  Man nehme z.B. die Szene, in der Alexander Kerenski – Oberhaupt der bürgerlichen Provisorischen Regierung – vor dem Eingangsportal zu den Zarengemächern steht, und plötzlich ein metallener Pfau – Sinnbild der Eitelkeit – zum Leben erwacht:


Kein Wunder, dass der Film von vielen Stalinisten (aber auch von den Vertretern der avantgardistischen LEF [Linke Kunstfront]) als formalistisch, symbolüberfrachtet und der "werktätigen Bevölkerung" nicht zugänglich verdammt wurde. Die Stalinisten haben "den Pöbel" stets verachtet. Wie George Orwell seinen archetypischen Parteiintellektuellen Symes in 1984 erkären lässt: "The proles are not human beings."

Viele von Eisensteins künstlerischen Mitstreitern überlebten die Ära des Großen Terrors nicht, als die stalinistische Bürokratie alles auszurotten versuchte, was in der Sowjetunion noch an die Ideale der Oktoberrevolution erinnerte, und eine ganze Generation von Revolutionären und radikalen Intellektuellen vor die Mauserpistole oder in den Gulag schickte. Sowohl Wsewolod Meyerhold als auch Sergej Tretjakow wurden 1939 ermordet. Eisenstein wurde zwar massivem Druck ausgesetzt, so konnte er z.B. seinen 1935 in Zusammenarbeit mit dem bald darauf hingerichteten Schriftsteller Isaak Babel begonnenen Film Die Beshinwiese nie fertigstellen, aber sein Leben scheint nie in unmittelbarer Gefahr gewesen zu sein. Möglicherweise hielt es Stalin für unklug, einen Mann ermorden zu lassen, der zu seinen Bekannten im Westen so bedeutende Künstler wie Charlie Chaplin und Marlene Dietrich zählte – vor allem in einer Zeit, als er sich um ein freundschaftliches Verhältnis zu den USA bemühte. Vielleicht auch war die öffentlich bekundete 'Selbstkritik' des Regisseurs kriecherisch genug, um ihn vor dem Henker zu bewahren. Doch auch wenn einem Eisenstein im Vergleich zu seinem ehemaligen Lehrmeister Meyerhold, der den von der Führung dekretierten "Sozialistischen Realismus" mutig als ein "erbärmliches und steriles Etwas" (9) bezeichnet hatte, feige und opportunistisch erscheinen mag, im Herzen wurde er nie zu einem Lakaien der Bürokratie. Sein letzter Film, der zweite Teil der nie fertiggestellten Trilogie Iwan der Schreckliche (1946), stellt ein klares künstlerisches Verdammungsurteil über den Stalinismus dar, weshalb er auch sofort in den Kellern der Zensurbehörde verschwand. Und vielleicht nicht zufällig ist auch er kein "realistischer" Historienfilm, sondern atmet viel von dem Geist des Symbolischen und Phantastischen, der den Regisseur seit den Tagen von Glumows Tagebuch nie ganz verlassen hatte. 


(1) Ganz spontan fallen mir dazu zwar nur Terry Gilliams Brazil und Woody Allens Bananas ein, aber tatsächlich dürfte die Zahl der Filme, die diese Sequenz zitieren oder parodieren, Legion sein.
(2) Vgl.: Andrew Sarris: The American Cinema. Directors and Directions 1929-1968. S. 68f.; 149f.
(3) Zit. nach: Lynn Mally: Culture of the Future. The Proletkult Movement in Revolutionary Russia. S. 38.
(4) Bogdanow war nebenbei bemerkt auch der Verfasser eines nicht uninteressanten utopischen Romans mit dem Titel Der rote Stern.
(5) "Man hat darunter ein darstellerisches Prinzip zu verstehen, das die rationellste und lapidarste Bewegung auf der Bühne und die Umsetzung seelischer Erlebnisse in körperliche Ausdrucksformen erstrebt. Jede Bewegung, jede Geste des Spiels wird mit mathematischer Gewissenhaftigkeit kalkuliert und hat symbolische Bedeutung. Soll eine Gestalt dargestellt werden, die von einem tragischen Schicksal betroffen ist, hat der Schauspieler das nicht durch Mimik, Rede, Stimmung auszudrücken, sondern durch sein äußeres Erscheinungsbild: Er läßt also die Schultern vornüberhängen, bewegt sich ruckartig, vernachlässigt seine Kleidung usw. Bei freudiger Erregung der darzustellenden Person vollführt der Schauspieler vielleicht ein Tänzchen. [...] Meyerhold entwickelte auf experimentellem Wege ein ganzes System von Bewegungssymbolen und Stilgriffen". (Jürgen Rühle: Theater und Revolution. S. 70.)
(6) Vgl: James von Geldern: Bolshevik Festivals, 1917-1920. S. 103-19.
(7) Jürgen Rühle: Theater und Revolution. S. 78.
(8) Sergej Tretjakow: Theater der Attraktionen. In: Ders.: Gesichter der Avantgarde. Porträts - Essays- Briefe. S. 69.
(9) Zit. nach: Jürgen Rühle: Theater und Revolution. S. 105.

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