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Montag, 15. Oktober 2012

Reise mit leichtem Gepäck

Für den zweiten Märchentag nun nicht wie ursprünglich beabsichtigt Catherynne M. Valentes Orphan's Tales, sondern ein kleines Büchlein einer großen Schrifstellerin   der leider etwas in Vergessenheit geratenen Naomi Mitchison (1897-1999).

Man kann sich kaum zwei gegensätzlichere Persönlichkeiten vorstellen als J.R.R. Tolkien und Naomi Mitchison. Auf der einen Seite der erzkonservative Katholik, für den der Sozialismus eine Verkörperung des "bösen Geistes"* und "Frauenrechte" Teil der 'kosmopolitischen Unkultur' waren, die die Welt zu überschwemmen drohe.** Auf der anderen Seite die freidenkerische Sozialistin und Feministin. Und dennoch verband die beiden in den 50er Jahren beinahe so etwas wie Freundschaft. Mitchison hatte im Auftrag von Allan & Unwin die ersten zwei Bände des Lord of the Rings probegelesen und eine begeisterte Rezension verfasst. In der Folge entwickelte sich ein reger Briefwechsel zwischen den beiden.
Zwar revidierte die Autorin später ihr überschwengliches Lob für Tolkiens Werk und äußerte sich ziemlich kritisch zu The Return of the King, trotzdem macht es Sinn, die beiden nebeneinander zu betrachten. Beide gehören zu dem, was man als die Gründergeneration der modernen Fantasy bezeichnen könnte. Eine Generation, deren Leben stark geprägt wurde von den gewaltigen Ereignissen, die Europa und die Welt von 1914 bis 1945 erschütterten: Der 1. Weltkrieg, die Oktoberrevolution, die europaweit äußerst heftigen Klassenkämpfe der Nachkriegszeit. der Aufstieg des Faschismus, die Weltwirtschaftskrise, die Konsolidierung des Stalinismus und schließlich die Hölle von 2. Weltkrieg und Holocaust.   
Freilich unterschied sich Naomi Mitchisons Reaktion auf diese Entwicklungen grundsätzlich von der Tolkiens. Der 'Professor' sah in ihnen bloß eine Bestätigung für seinen Hass auf die Moderne, was sein Verlangen verstärken musste, sich mit Mittelerde eine Art literarische Ersatzheimat zu schaffen. Mitchison hingegen reagierte auf sie, indem sie die bestehende Ordnung immer radikaler in Frage stellte. Was mit einer Kritik an der Sexualmoral und den Geschlechterrollen der edwardianischen Gesellschaft begann, führte sie schließlich zum Sozialismus und zum politischen Kampf. Wie ihr älterer Bruder, der berühmte Biologe J.B.S. Haldane, näherte sie sich zu Beginn der 30er Jahre der stalinistischen KP an. 1932 reiste sie zu einem Besuch in die Sowjetunion. 1934 war sie während des Februaraufstands der sozialdemokratischen Milizen gegen das katholisch-autoritäre Dollfuß-Regime als Korrespondentin in Wien, schmuggelte Hilfsgelder für die Kämpfer ins Land und half nach der Niederschlagung des Aufstands Sozialisten bei der Flucht aus Österreich. 1935 kandidierte sie erfolglos als linke Labour-Vertreterin für einen Sitz im Unterhaus. 1937 engagierte sie sich für die Antifaschisten im Spanischen Bürgerkrieg. Sie schrieb dazu:

There is no question for any decent, kindly man or women, let alone a poet or writer who must be more sensitive. We have to be against Franco and Fascism and for the people of Spain, and the future of gentleness and brotherhood which ordinary men and women want all over the world.
Als sie 1939 gemeinsam mit ihrem Ehemann in das schottische Carradale übersiedelte, war dies allerdings wohl bereits ein äußeres Anzeichen zunehmender Demoralisation. Zwar blieb sie Zeit ihres Lebens politisch aktiv, doch ihre Hoffnung auf eine grundlegende, revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft schwand mehr und mehr.
Ihre schriftstellerische Karriere begann Naomi Mitchison 1923 mit der Veröffentlichung ihres historischen Romans The Conquered. Das Thema des Buches – die Eroberung Galliens durch Julius Caesar und der erfolglose Aufstand des Vercingetorix – lässt bereits erahnen, dass ihr literarisches Schaffen  ganz gleich in welchem Genre sie schrieb  aufs engste mit den Fragen und Ideen verbunden war, die auch den Inhalt ihres politischen Aktivismus bildeten. Ihr vielleicht bedeutendstes Werk ist der 1931 erschienene historisch-phantastische Roman The Corn King and the Spring Queen (Kornkönig und Frühlingsbraut). Terri Windling nannte ihn einmal völlig zurecht "a lost classic". Bezeichnend ist allerdings, dass bereits in diesem relativ frühen, faszinierenden und vielschichtigen Werk das Scheitern revolutionärer Hoffnungen eine zentrale Rolle spielt. Einige motivische Anklänge an dieses epische Werk finden sich auch noch in der Geschichte, um die es jetzt gehen soll: Der 1951 erstmals erschienen Erzählung Travel Light, in deutscher Übersetzung unter dem Titel Eine Reise durch die Zeit veröffentlicht. Das Thema Revolution findet sich hier freilich nicht mehr, doch geblieben ist der humane und stets kritische Blick auf die Wirklichkeit sowie die Offenheit für das Neue und Andere.

Travel Light ist ein Märchen, und Naomi Mitchison gelingt es auf meisterliche Weise mit einer zugleich knappen und poetischen Sprache die entsprechende Atmosphäre heraufzubeschwören. Als Beispiel dafür mag die Eröffnung dienen:

Man erzählt, die neue Königin rief beim Anblick des neugeborenen Töchterchens der alten Königin: "Schafft mir das Balg vom Hals!" Der König, der die alte Königin inzwischen beinahe vergessen und sein Töchterchen kaum eines Blickes gewürdigt hatte, stimmte zu und dachte nicht weiter über die Sache nach. Das wäre das Ende des kleinen Mädchens gewesen, wenn ihre Amme Matulli nicht davon erfahren hätte. Die Amme stammte aber aus der Finnmark, und wie viele andere Leute aus dieser Gegend besaß sie die Fähigkeit, hin und wieder die Gestalt eines Tieres anzunehmen. Und so verwandelte sie sich auf der Stelle in eine schwarze Bärin, nahm das kleine Kind mitsamt der Decke ins Maul, verschwand brummend aus dem Frauengemach hinter der Halle des Königs und trottete durch den spärlichen Frühlingsschnee, der in der Umgebung der Halle bereits geschmolzen war, durch den Birkenwald und den Tannenwald in den tiefen dunklen Wald, wo die anderen Bären gerade aus dem Winterschlaf erwachten.

Nach einem Sommer unter den Bären wird die kleine Halla von dem Drachen Uggi adoptiert. Die Welt, in der sie aufwächst, ist eine nordische Märchenlandschaft, bevölkert von Drachen, Zwergen, Trollen. Grendels Familie hat einen kurzen Auftritt, und einmal schaut auch die Walküre Steinvor bei Uggis Höhle vorbei. Ihr wird Halla noch häufiger begegnen.
Von all dem erzählt Mitchison in einem humorvollen Ton, der das Märchenhafte zwar nie lächerlich macht, doch bestimmte Klischees (und die damit verbundenen Wertvorstellungen) satirisch untergräbt. So etwa wenn es von den Einhörnern heißt:
Hin und wieder kamen auch andere Geschöpfe aus dem Wald – darunter auch mehrere Einhörner, die Halla auf Schritt und Tritt folgten, ihr schmachtend den Kopf in den Schoß legten, und sie mit ihren großen goldenen Augen unverwandt ansahen. Sie hatten ziemlich schwere Köpfe, und deshalb war das lästig – ganz besonders, wenn es zwei gleichzeitig taten. Es machte auch längst nicht soviel Spaß, auf ihnen zu reiten wie auf den Drachen.
Das subversive Element der Geschicht ergibt sich jedoch vor allem dadurch, dass Halla die Welt aus der Perspektive eines Drachen zu sehen lernt. Sie denkt und empfindet wie ein Drache. Und was Drachen am allermeisten hassen, das sind Helden. Irgendwelche Königssöhne oder andere Schlagetots, die sich ein Vergnügen daraus machen, Drachen zu ermorden und deren mühsam zusammengetragene Schätze zu rauben. Und einer dieser Helden ist es schließlich auch, der Hallas unbeschwerte Kindheit beendet, indem er Uggi tötet. Der Begriff 'Held' behält die ganze Erzählung über seine negative Bedeutung.
Nur knapp der Vergewaltigung durch den Ersatzsiegfried entkommen (Mitchison wird nicht explizit, aber sie scheut auch nicht vor der Darstellung von Gewalt zurück), begegnet die verzweifelte Halla im Wald Allvater (Odin), dem Wanderer. Dieser schenkt ihr ein Stück seines Mantels und schickt sie auf eine Reise nach dem fernen Mickelgard (Konstantinopel). Zuvor hat er den Überrest von Uggis Hort, den Halla mit sich geschleppt hat, vergraben. "Mache dich unbeschwert auf den Weg mein Kind, so unbeschwert wie der Wanderer, und seine Liebe wird dich begleiten."
Damit beginnt Hallas eigentliches Abenteuer. Sie verlässt die Welt des Mythos und betritt die Welt menschlicher Geschichte. Sie schließt sich einer Gruppe von Männern aus der Schwarzmeerstadt Marob an, die beim Kaiser die Klagen ihres Volkes über einen tyrannischen Statthalter vorbringen wollen. Gemeinsam mit ihnen lernt sie das Intrigenspiel und die Korruption der byzantinischen Gesellschaft kennen, hilft ihnen, gegen alle Widerstände ihr Ziel zu erreichen, und reist schließlich zusammen mit einem der drei – Tarkan Der – weiter nach Nowgorod.

Man würde vielleicht erwarten, in Travel Light eine typische 'Coming of Age' - Geschichte zu finden, und Teile einer solchen sind auch tatsächlich vorhanden. Halla lernt auf ihren Reisen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Sie lernt die komplexe Vielfalt menschlicher Gefühle und Beziehungen kennen und entwickelt dadurch die Fähigkeit zu Mitgefühl und Freundschaft. Aber die Erzählung läuft nicht auf ihre Integration in die menschliche Welt hinaus. Das Ende des Buches ist nicht das Ende ihrer Reise.
Halla besitzt die Gabe, die Sprachen aller Menschen und Tiere zu verstehen und zu sprechen. Dadurch wird sie in die Lage versetzt, die Welt aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu betrachten. Sie lernt eine Vielzahl an Sichtweisen kennen, ohne eine von ihnen vorbehaltlos zu übernehmen. Ebensowenig lässt sie es zu, dass andere ihr eine Art des Lebens aufdrängen. Als Tarak Der wie selbstverständlich davon ausgeht, dass sie heiraten werden, ist sie davon keineswegs begeistert. Für ihn ist es vermutlich das Richtige, sich in der Nähe von Nowgorod eine neue Heimat aufzubauen und eine Familie zu gründen, aber nicht für sie!
Das ist wohl auch die Bedeutung von Allvaters Worten über das 'unbeschwerte' Reisen. Indem er den Rest von Uggis Hort vergräbt, hilft er ihr, sich von den Denkstrukturen zu lösen, die ihr als Kind von den Drachen beigebracht wurden. Nicht dass sie ihr 'Drachenerbe' über Bord werfen soll, aber sie muss (wie jeder Mensch) ihre eigene Position in der Welt finden. Dafür schickt er sie auf ihre Reise. Sie soll neue Erfahrungen sammeln und ungewohnte Sichtweisen kennenlernen, bis sie ihre eigene Identität gefunden bzw. entwickelt hat. Wie Allvater sagt: "Wer in Höhlen lebt, stirbt in Höhlen".
Man könnte das Buch als eine Warnung davor lesen, sich unkritisch auf eine Sicht der Wirklichkeit zu versteifen. Der alte Kiot aus Marob ist ein besonders frommer Christ. Doch der Besuch in Byzanz erschüttert ihn "bis in die Wurzeln seines Wesens". In seinen Augen war das Christentum stets eine Religion der Gerechtigkeit und des Mitgefühls, die sich für die Armen und Entrechteten einsetzt. Doch nun hat er erleben müssen, dass die Kirche längst zu einem Instrument der Mächtigen geworden ist, zerfressen von dergleichen Korruption wie der ganze byzantinische Staat. Hätte er nicht so vorbehaltslos geglaubt, hätte er nicht so bitter enttäuscht werden können.
Sicher enthält die Geschichte dieses Element. Sie fordert uns auf, altbekanntes immer wieder zu hinterfragen und stets offen für neues zu bleiben. Aber ich denke nicht, dass wir uns Hallas 'unbeschwertes Wandern' in seiner ganzen Radikalität zum Vorbild nehmen sollen. Denn es ist sehr deutlich, dass sie dadurch stets eine Fremde bleibt, selbst unter den Menschen, die sie liebt. Travel Light ist vor allem ein Buch für Kinder und Heranwachsende, und diesen will es sagen: Erkundet die Welt! Lernt unterschiedliche Perspektiven und Wertesysteme kennen! Probiert euch aus! Lasst euch nicht von anderen einen Lebensentwurf aufzwingen! Ich denke nicht, dass es uns sagen will, dass wir für immer in diesem Zustand des Wanderns verharren sollen. Früher oder später müssen wir unsere Position im Leben finden, ohne dass wir dadurch die Offenheit für das Neue und Fremde einbüßen müssten.

PS: Zum Schluss noch ein paar Artikel über Naomi Mitchison:
Nic Clarke: An Experimental Life: books by and about Naomi Mitchison.
Neil Ascherton: Naomi Mitchison - a queen, a saint and a shaman.
Reiner Luyken: Die Lady liebt den Kampf.
Raymond H. Thompson: Interview with Naomi Mitchison. (Hauptsächlich über ihren Artusroman To the Chapel Perilous {nebenbei bemerkt mein persönlicher Favorit unter den modernen Neubearbeitungen des Artusstoffes})


* Brief an Christopher Tolkien [30. Januar 1945]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 96. S. 148.
** Brief an Christopher Tolkien [9. Dezember 1943]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 53. S. 89.

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