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Dienstag, 31. Oktober 2023

"Randalls Round" und die Ursprünge des Folk Horror

Anfang des Jahres erreichte mich nach Monaten des Wartens endlich der von Richard Wells zusammengestellte und illustrierte Band Damnable Tales - A Folk Horror Anthology. Er enthält dreiundzwanzig Geschichten, die jeweils  mit einem wirklich exquisiten Linolschnitt versehen sind. Allein schon für letztere lohnt sich die Anschaffung.
 
Allerdings drängt sich beim Herumblättern die Frage auf, durch was genau sich diese Stories als "Folk Horror" qualifizieren, finden sich unter ihnen doch u.a. solche Klassiker wie Edith Nesbits Man-Size in Marble, Arthur Machens The Shining Pyramid, M.R. James' The Ash-Tree, Sakis The Music on the Hill und Walter de la Mares All Hallows. Das Vorwort von Benjamin Myers ist in dieser Hinsicht wenig hilfreich. Ausgehend von einem demoralisiert-dystopischen Bild der Gegenwart interpretiert es das wiedererwachte Interesse am "Folk Horror" als einen Ausdruck nostalgischer Sehnsucht nach einer "simpleren Zeit". Dabei versucht es gar nicht erst, eine klare Definition für das Subgenre zu liefern. Einzig eine besondere Beziehung zur "ländlichen Welt" wird vage angedeutet:
They take place in worlds we recognize as once-removed from our realities. These are settings of our ancestors, and therefore are still carried somwhere deep within us now: remote villages and darkened lanes, lonely woodlands, obscure country houses and crumbling cemeteries. Places where the crepusculuar light is eternally fading and in which the inanimate or the dormant is slowly stirring.   
Allerdings muss ich gestehen, dass es mir selbst sehr schwerfällt, konkret zu beschreiben, was "Folk Horror" in meinen Augen eigentlich genau ist. Mein spontanes Gefühl spricht zwar dagegen, dem Subgenre Werke des "goldenen Zeitalters" der viktorianischen und edwardianischen Geistergeschichte hinzuzuzählen, aber ich schließe nicht aus, dass das ein unbegründetes Vorurteil ist.


Der Begriff "Folk Horror" tauchte allem Anschein nach das erste Mal 1970 in einem kurzen Artikel von Rod Cooper über die Dreharbeiten zu Piers Haggards The Blood on Satan's Claw (zu diesem Zeitpunkt noch The Devil's Touch genannt) auf, der in dem britischen Magazin Kine Weekly erschien. Ob Cooper ihn selbst geprägt oder irgendwo anders aufgeschnappt hatte, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Weitere Verbreitung fand er jedenfalls vorerst nicht. Allerdings benutzte Haggard selbst ihn 2004 in einem Interview mit Fangoria.  Und von dort dürfte er auch in den zweiten Teil von Mark Gatiss' 2010 ausgestrahlter BBC4-Doku A History of Horror gelangt sein. Hiervon ausgehend begann er sich dann rasch in Genre- und Filmkreisen auszubreiten.
 
Gatiss benutzte den Begriff zur Charakterisierung einer Handvoll britischer Horrorfilme der späten 60er und frühen 70er, deren Gemeinsamkeiten er so beschrieb: "Amongst these are a loose collection of films which we might call folk horror. They shared a common obsession with the British landscape, its folklore and superstitions." Konkret ging es dabei um Michael Reeves' Witchfinder General (1968), Piers Haggards The Blood on Satan's Claw (1971) und Robin Hardys The Wicker Man (1973), die deshalb bis heute gerne als die "Unholy Trinity" des Genres bezeichnet werden. Folk Horror erschien damit zu Anfang nicht nur als ein primär filmisches, sondern auch als ein genuin britisches Phänomen. Zudem als eines, das erst in den späten 60er Jahren entstanden war.
 
Gatiss war es nicht darum gegangen, ein neues Subgenre zu prägen. Doch einmal in Verwendung war es naheliegend, den Begriff "Folk Horror" auf eine Reihe von britischen TV-Produktionen der selben Ära anzuwenden, die klare motivische Ähnlichkeiten mit der "Ur-Trio" aufweisen, wie die Alan Garner - Adaption The Owl Service (1969/70), Robin Redbreast (1970), Children of the Stones (1976), das Doctor Who - Serial The Dæmons (1971) oder einige der klassischen M.R. James - Adaptionen der BBC wie Jonathan Millers Whistle And I'll Come To You (1968) oder Lawrence Gordon Clarks A Warning to the Curious (1972) und The Ash Tree (1975). Ähnliches galt für einige weitere Kinofilme wie Cry of the Banshee (1970) und The Witches (1966). So weit war das alles noch relativ unproblematisch. Doch bereits die Aufnahme von  J. Lee Thompsons The Eye of the Devil (1966) in den "Kanon" verletzt einige der ursprünglichen Kriterien. Die motivischen Parallelen zu The Wicker Man und Robin Redbreast sind zwar offensichtlich, doch obwohl auch dieser Film eine britische Produktion war, spielt die Handlung in Südfrankreich. Einige der Szenen wurden zwar in England gedreht, aber die zentrale Rolle, die der Weinbau in der Geschichte spielt, gibt ihm ein dezidiert "unenglisches" Flair.
 
Je gebräulicher der Begriff wurde, desto "offener" wurde er auch. Man denke nur an das sog. "Folk Horror Revival" der letzten zehn Jahre. Ben Wheatleys A Field in England (2013) fügt sich noch relativ gut dem ursprünglichen Konzept ein. Doch andere bekannte Beispiele wie Robert Eggers' The Witch (2015), Lukas Feigelfelds Hagazussa (2017), David Bruckners The Ritual (2017) oder Ari Asters Midsommar (2019) verlassen gänzlich den Boden Englands und seiner Folklore. Es braucht also eine allgemeiner gefasste Definition, wenn der Begriff nicht völlig verschwommen und beliebig werden soll.
 
Schon im September 2014 hatte Adam Scovell auf der ersten "Folk Horror Conference" an der Queens University in Belfast in einem Vortrag ein solches Definitionsmodell vorgestellt. Er nannte es die "Folk Horror Chain". Vier miteinander verknüpfte und aufeinander aufbauende motivische Elemente, die zusammengenommen das Phänomen "Folk Horror" beschreiben sollten, aber zugleich als eine Art Skala dienen konnten, um den Grad der Verwandtschaft einzelner Werke zum Subgenre zu bestimmen.
  1. Die Bedeutung von Landschaft und ländlichem Setting;
  2. Sich daraus ableitend die Isoliertheit einer dort ansässigen menschlichen Gemeinschaft;
  3. Aus dieser ergibt sich wiederum ein in dieser Gemeinschaft herrschendes eigenartiges und "moralisch verzerrtes" ("morally skewed") Wertesystem;
  4. Dieses Wertesystem findet seinen Ausdruck schließlich in einer dramatischen "Manifestation", bei der es sich  um eine blutige Gewalttat, ein Opferritual oder die Beschwörung übernatürlicher Mächte handeln kann.
Diese weitergespannte Definition erlaubt es ihm, auch Werke aus anderen Kulturkreisen, wie etwa Kaneto Shindos Filme Onibaba (1964) und Kuroneko (1968), unter den Begriff "Folk Horror" zu fassen. Und selbst einige völlig unerwartete Kandidaten wie Tobe Hoppers The Texas Chainsaw Massacre (1974) könnte man auf diese Weise dem Subgenre zurechnen.
 
Wie schon gesagt, bin ich mir selbst unsicher, wie man "Folk Horror" am besten definieren könnte. Scovells Ansatz scheint mir zwar ganz gut geeignet, dennoch frage ich mich, ob es wirklich soviel Sinn macht, Filme wie The Texas Chainsaw Massacre oder The Blair Witch Project (1999) durch die Folk Horror - Linse zu betrachten. Eröffnet sich dadurch tatsächlich ein neuer Zugang zu diesen Werken, der mit einem Erkenntnisgewinn verbunden ist? Ich bin mir nicht sicher.  
 
Eine weitergefasste Definition des Subgenres ist sicher notwendig. Dennoch muss es nicht falsch sein, die "ursprünglichen" Folk Horror - Werke auch und vor allem im britischen Kontext ihrer Zeit zu betrachten. Dann erweisen sie sich nämlich als Teil einer sehr viel allgemeineren kulturellen Strömung. Einer verstärkten Hinwendung zu ländlichen Szenarien und der in ihr manifestierten (oder begrabenen) Geschichte, die man vor allem in den 70er Jahren beobachten kann. In seinem Artikel The pattern under the plough verknüpft Rob Young diese Tendenz mit dem Begriff des "old, weird Britain". Der Folk Horror lässt sich damit in ein filmisches Umfeld einfügen, das so unterschiedliche Werke umfasst wie Derek Jarmans A Journey to Avebury (1972), Alan Clarke & David Rudkins Penda's Fen (1974), Peter Halls Akenfield (1974), David Gladwells Requiem for a Village (1975), Kevin Brownlows Winstanley (1975) und sogar die HTV-Serie Arthur of the Britons (1972/73) mit ihrer erdig-dörflichen Version der Artussage.
 
Die Konfrontation zwischen Stadt und Land war vor dem Hintergrund des Modernisierungsschubs der Nachkriegszeit und der damit einhergehenden immer weiteren Zersetzung traditioneller ländlicher Lebensformen und Gemeinschaften natürlich schon seit längerem ein Thema nicht nur in der filmischen Kunst gewesen. Wenn dieser Motivkomplex in den 70er Jahren eine besondere Intensität erreichte, lag dies an den politischen Entwicklungen der Zeit. 
Die 60er Jahre waren eine Ära der Reformen gewesen. Der Lebensstandard breiterer Schichten der arbeitenden Bevölkerung hatte sich merklich verbessert. Doch das Versprechen einer "zweiten industriellen Revolution", die anders als ihre Vorgängerin im Dienste der Allgemeinheit stehen sollte, wie es Labour-Führer Harold Wilson 1963 in Scarborough exemplarisch formuliert hatte, war nicht in Erfüllung gegangen. Das Jahrzehnt endete vielmehr mit einem Ausbruch gewaltiger Klassenkämpfe, die ihren Höhepunkt 1974 mit dem Sturz der Tory-Regierung von Edward Heath erreichten. Was folgte war keine radikale gesellschaftliche Umwälzung, sondern eine sich qualvoll dahinschleppende allgemeine Krise. Wie es David Evans-Powell in seinem Artikel Ghosts from the past, ghosts from the future: Haunted landscapes in 1970s British Television beschreibt: "It saw the country beset by strikes, industrial malaise, states of emergency, and anxieties about social permissiveness. Concerns about the sustainability of society and culture – the basic elements of fuel, food, heat and light – were raised by rampant inflation and rolling blackouts." Labour verwaltete das ganze Elend und war offensichtlich unfähig, einen progressiven Ausweg zu eröffnen. Die dadurch hervorgerufene Verunsicherung fand ihren Ausdruck nicht allein in der Stärkung konservativer Tendenzen, die dann in der Thatcher-Ära zu ihrer ebenso vollen wie hässlichen Blüte gelangen sollten. Auch unter vielen von denen, die der bürgerlichen Ordnung kritisch gegenüberstanden, machte sich eine immer tiefere Skepsis gegenüber der Moderne, Technik, Industrie und "Fortschritt" breit. Unter diesen Umständen war es naheliegend, dass viele Künstler*innen ihren Blick vermehrt auf die (untergehende) Welt des ländlichen England richteten. Was nicht notwendigerweise ein nostalgisch geprägtes Ausweichen vor den Herausforderungen der Gegenwart bedeuten musste.          
Brownlows Winstanley über den frühkommunistischen Vordenker der Englischen Revolution und die Digger-Bewegung sticht in seinerm offenen Radikalismus sicher besonders hervor. Er steht noch ganz in der Tradition der rebellischen Counter Culture der 60er Jahre. Bezeichnenderweise wird der Anführer der anarchistischen Ranter von Aktivist Sid Rawle, dem "König der Hippies", gespielt. Aber der Film stellt keine einsame Ausnahme dar. Don Taylors The Exorcism (1972) und John Bowens A Photograph (1977) lassen sich meines Erachtens zwar nicht wirklich dem Folk Horror zurechnen, aber in beiden spielt das Aufeinandertreffen städtischer und ländlicher Welt eine wichtige Rolle, wobei ganz offen Klassenfragen thematisiert werden. Eher lehrstückhaft geht es in Stargazy on Zummerdown (1978) von Michael Furgeson & John Fletcher zu. Und Dorothea Brookings Kinderserie The Moon Stallion (1978), die sich ausgiebigst in Mythos und Folklore bedient, macht gleichfalls keinen Hehl aus ihrer politischen Botschaft. Das in meinen Augen gelungenste und faszinierendste Beispiel, das ich kenne, ist jedoch sicher David Rudkin & Alan Clarkes vielschichtige Phantastik-Meisterwerk Penda's Fen (1974).
 
Natürlich kann man nicht alle Vertreter dieser kulturellen Strömung über einen Kamm scheren. Aber auf die eine oder andere Weise scheinen sie mir alle etwas von der gesellschaftlichen Verunsicherung der Zeit widerzuspiegeln. Und es macht Sinn, die ursprünglichen Folk Horror - Filme ebenfalls unter diesem Blickwinkel zu betrachten. Adam Scovells Essay Rurality in Folk Horror and the Films of David Gladwell enthält diesbezüglich einige sehr interessante Ideen und Beobachtungen. Wenn derselbe Scovell allerdings über Witchfinder General schreibt, "Matthew Hopkins’ vile actions" seien "only really [...] possible in small communities isolated by the vast East Anglian broads", scheint mir das eine einseitige Fokussierung im Interesse seines Definitionsmodells der "Folk Horror Chain" zu sein. Die ländliche Isoliertheit ist sicher ein wichtiges Element, aber meiner Ansicht nach wird das blutige Geschehen in Reeves' Film vor allem in den Kontext des Englischen Bürgerkriegs gestellt. Wie ich vor Jahren schon einmal in einem Blogpost etwas ausführlicher dargelegt habe, halte ich es nicht für einen Zufall, dass sowohl Witchfinder General als auch Blood on Satan's Claw im 17. Jahrhundert angesiedelt sind:
In der Geschichte Englands war dieses Jahrhundert eine Ära tiefer Umwälzungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – von Ökonomie, Politik und Religion bis hin zu Essgewohnheiten und Kleidermoden. Wie Christopher Hill in seinem Buch The Century of Revolution sehr anschaulich dargelegt hat, vollzog sich in ihm die Geburt des modernen bürgerlichen England mit vielen seiner charakteristischen Züge. Und wie jede Epoche revolutionärer Kämpfe und Konvulsionen war auch diese eine Zeit großer Verunsicherung, in der Institutionen und Wertvorstellungen, die für Jahrhunderte als unantastbar gegolten hatten, quasi über Nacht umgestürzt wurden. Coleridge sprach von der "grand crisis of morals, religion and government". Um bloß das offensichtlichste Beispiel zu nennen: Die Hinrichtung eines Königs von Gottes Gnaden im Januar 1649 bedeutete den blutigen Bruch mit einer uralten politischen und religiösen Tradition. Die Welt schien aus dem Lot geraten, und eine neue gesellschaftliche, moralische und geistige Ordnung musste sich erst allmählich herausbilden und stabilisieren.
Wie bewusst diese Verbindung den Machern der beiden Filme war, kann ich nicht sagen, aber dass viele Menschen im Großbritannien der späten 60er und der 70er Jahre das Gefühl hatten, in einer vergleichbar chaotischen Umbruchszeit zu leben, ist sicher nicht von der Hand zu weisen und scheint mir wichtig zum besseren Verständnis des ursprünglichen Folk Horror.
 
Auf welche Weise das Gefühl gesellschaftlicher Verunsicherung auch im dritten Bestandteil der "Unholy Trinity", dem in der Gegenwart angesiedelten Wicker Man, zum Ausdruck kommt, ist eine Frage, die ich vielleicht ein andermal ausführlicher diskutieren werde. Wie oft bei Kunstwerken, für die ich eine tiefe persönliche Bewunderung empfinde, schrecke ich auch bei Robin Hardys Film davor zurück, ihn hier im Detail zu besprechen. Zu groß ist die Befürchtung, ihm dabei nicht gerecht zu werden oder nicht ausreichend gut vermitteln zu können, was ich an ihm so großartig finde. Doch auf jedenfall ist The Wicker Man das vielleicht eindrücklichste Beispiel für ein Element, das sich zwar nicht in allen Folk Horror - Filmen findet, mir aber doch eine weitere äußerst wichtige Facette des Subgenres zu sein scheint: Der Rückgriff auf authentische (oder zumindest authentisch wirkende) folkloristische Elemente, wobei stets die Überzeugung mitschwingt, dass in diesem Brauchtum die Riten und Wertvorstellungen einer fernen Vergangenheit fortleben würden.* 
 
Damit knüpfen Filme wie The Wicker Man oder auch Robin Redbreast an ältere, hauptsächlich literarische Traditionen an.** Das älteste mir bekannte Beispiel dafür ist die 1929 erschienene Kurzgeschichte Randalls Round von Eleanor Scott. Aus mehreren Gründen lohnt es sich, einen Blick in diesen "Urtext" des Folk Horror zu werfen.


Für Jahrzehnte war die Geschichte (wie auch das Gesamtwerk der Autorin) ziemlich in Vergessenheit geraten und nur schwer zugänglich. Bloß Hugh Lamb hatte sie 1975 noch  einmal in seiner Anthologie The Thrill of Horror abgedruckt. Das hat sich inzwischen erfreulicherweise geändert. Neuausgaben des gleichnamigen Sammelbandes von 1929 sind bei Ash-Tree Press, Oleander Press und im Rahmen der British Library Tales of the Weird erschienen. Außerdem ist die Story auch Teil der anfangs erwähnten Damnable Tales. Und im letzten Jahr ist sogar eine deutsche Übersetzung unter dem Titel Der Volkstanz in Fantastic Pulp 3 und Zwielicht #17 erschienen.***      

Die Geschichte beginnt mit einem Gespräch zwischen zwei Oxford-Studenten über Folklore und Folkloristik. Heyling hält das ganze "folk-song and dance business" für "pretty complete rot". Doch sein Kumpel Mortlake wendet ein, dass vielleicht doch etwas mehr dahinter stecken könnte: "People who know say that it's the remains of a religious cult -- sacrificial rites and that."
 
Diese Eröffnungsszene verdeutlicht sofort dreierlei.
 
Zuerst einmal, dass die Geschichte vor dem Hintergrund des wiedererwachten Interesses an allerlei Formen des Brauchtums entstanden ist, die man in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Großbritannien beobachten kann. Mortlake benutzt ganz ausdrücklich den Begriff "revival". An einer späteren Stelle werden dann die "Headington Mummers" erwähnt, womit vermutlich die Headington Quarry - Morris-Tänzer aus Oxford gemeint sind, die eine wichtige Rolle in der Frühphase der Bewegung gespielt hatten. Es war eine ihrer Aufführungen am Boxing Day 1899 gewesen, die Cecil Sharp dazu inspirierte, mit dem Sammeln und Aufzeichnen der alten Melodien und Tanzfiguren zu beginnen, wobei ihm deren Musiker William Kimber anfangs als Hauptquelle diente. Ab 1905 bemühte Sharp sich dann zusammen mit Mary Neal auch um eine aktive Wiederbelebung der Volkstanz-Traditionen. Zwei Jahre später erschien der erste Band seines Morris Book. Nachdem er sich mit Neal überworfen hatte, war er 1911 führend an der Gründung der English Folk Dance Society beteiligt.
 
Mortlakes Kommentar verknüpft das Ganze außerdem mit der Idee, dass in Morris-Tänzen, Mummery und anderen Arten des Brauchtums uralte, vorchristliche Kultformen fortleben würden. Eine Vorstellung, die ursprünglich zwar kein fester Bestandteil der Revival-Bewegung gewesen war, sich jedoch bald sehr großer Beliebtheit erfreute. Ihr Ursprung liegt in Edward Tylers 1871 erschienenem Buch Primtive Culture. Zu größerer Popularität gelangte sie aber vor allem durch James George Frazers monumentale Studie  The Golden Bough (1890/1900/1915). In der ersten Auflage des Morris Book hatte Sharp den Ursprung der Volkstänze noch auf das 14. Jahrhundert und die Ära Edwards III. zurückgeführt. In der zweiten vertrat er dann die Ansicht, ihre Wurzeln lägen vielmehr in "one of the seasonal pagan observances prevalent amongst primitive communities". Ein Grund für diese Übernahme frazer'schen Gedankenguts könnte gewesen sein, dass diese Sichtweise Sharps eigenen, extrem nationalistischen Zielsetzungen  entgegenkam. Er sah im Brauchtum vor allem einen Ausdruck unverfälschter "Englishness" und wollte mit dessen Wiederbelebung zur Stärkung eines "gesunden Nationalbewusstseins" (in einer Ära verstärkter imperialistischer Konflilkte am Vorabend des 1. Weltkrieges) beitragen. Da musste es gelegen erscheinen, wenn man die Geburt der Morris-Tänze in eine nebulöse "Urzeit" zurückverlegen konnte, statt in ihnen mittelalterliche Importe aus Frankreich, Spanien oder Marokko zu sehen. Doch wie dem auch sei, für den Folk Horror ist diese Verbindung jedenfalls von zentraler Bedeutung, umgibt sie die andernfalls wohl bloß "quaint" wirkenden Tänze und Festtagsbräuche doch mit einer Art numinosen Aura. The Wicker Man enthält zahlreiche Motive aus The Golden Bough und in Robin Redbreast wird das Buch sogar ganz ausdrücklich erwähnt. Eleanor Scott bezieht sich zwar nicht explizit auf Frazer. Aber das "very famous book on folklore", das Heyling im Verlauf seiner Abenteuer zu Rate zieht, weist eine klare Verrwandtschaft mit The Golden Bough auf: "There were many accounts of village games and 'feasts', all traced in a sober and scholarly fashion to some barbaric, primitve rite." Vor allem in dieser Hinsicht qualifiziert sich Randalls Round damit als ein "Urtext" des Folk Horror.
 
Hinzu kommt noch, dass mit dem einleitenden Gespräch auch der soziale Hintergrund des Protagonisten Heyling etabliert wird. Wenn er sich wenig später in das kleine Dorf Randalls in den Cotswolds  aufmacht, erscheint er damit als Urtyp der im Subgenre so geläufigen Figur einer aus der urbanen Welt stammenden Person, die in eine "hinterwäldlerische" Gemeinde kommt und Zeuge des dortigen unheimlichen Treibens wird.
 
Mortlake hatte bereits angedeutet, dass man in in dem Dorf angeblich einen ganz eigentümlichen Brauch oder Tanz zelebriere, der "Randalls Round" genannt werde. Und tatsächlich dauert es nicht lange und Heyling, der sich in dem örtlichen Wirtshaus The Flaming Hand einquartiert hat, vernimmt von der Gasse her die Stimmen singender Kinder: 
He reflected that Guy Fawkes’ Day was not due yet, and that in any case the tune they sang was not the formless huddle usually produced on that august occasion. This was a real melody -- rather an odd, plaintive air, ending with an abrupt drop that pleased his ear. Little as he knew of folk-lore, and much as he despised it, Heyling could not but recognise that this was a genuine folk air, and a very attractive one.
Wenig später ertönt die selbe Melodie auf einer Flöte gespielt, derweil sich die erwachsenen Einwohner auf dem Dorfplatz zu versammeln scheinen. Neugierig geworden beobachtet Heyling durch das Fenster seines Zimmers die Geschehnisse: In der Mitte des Platzes hat man einen Pfahl aufgepflanzt, der zwar an einen Maibaum denken lässt, aber einen deutlich andersgearteten Schmuck trägt: 
[I]nstead of garlands and ribbons, this pole had flung over it the shaggy hide of some creature like an ox. Heyling could just see the blunt heavy head with its short thick horns.
Eine Gruppe von Tänzern tritt auf. Und auch wenn wir an dieser Stelle eindeutig an Morris-Tänze denken sollen, besitzt das Ganze doch eine leicht gespenstische und unheildrohende Atmopshäre:
They took hands in a ring, facing outwards; then, with their hands lifted, they began to move slowly round, counter-clockwise. Memory stirred faintly, [...[ „That’s the Back Ring. It’s supposed to be symbolic of death – a survival of a time when a dead victim lay in the middle and the dancers turned away from him.“ 
Dieser Eindruck verstärkt sich noch, als zwei weitere Personen in den Kreis der Tänzer treten. Ein Mann in einer Stiermaske und eine von Kopf bis Fuß in weiße Leinentücher gehüllte Gestalt unbestimmbaren Geschlechtes. Das Ritual erreicht seinen Höhepunkt und abrupten Abschluss, als der Maskenträger an dem Pfahl rüttelt und das daran befestigte "Totem" auf den oder die Verhüllte herabfällt.
It gave a horrid impression – as if the creature hanging limp on the pole had suddenly come to life, and with one swift, terrible movement had engulfed and devoured the helpless victim standing passively before it.  
Einen Augenblick lang ist Heyling ernsthaft schockiert, doch findet er sehr schnell zu seinem blasierten Selbst zurück. Allerdings ist seine Neugier nun endgültig geweckt. Er sucht in dem schon erwähnten Folkloristik-Buch, das ihm Mortlake mitgegeben hat, nach Informationen über "Randalls Round". Der entsprechende Eintrag ist kurz und ungenau, stellt aber eine Verbindung zwischen dem Volkstanz und einem nahe gelegenen steinzeitlichen Hügelgrab her. Dort soll das Ritual ursprünglich zelebriert worden sein. Ein Besuch der örtlichen "Guildhall" fördert weitere Informationen zu Tage. In den alten Aufzeichnungen findet Heyling einen knappen Bericht über einen Gerichtsprozess aus dem frühen 17. Jahrhundert, in dem ein gewisser Jonathan Beale Anklage wegen Hexerei gegen einige Mitglieder der Dorfgemeinde erhebt, nachdem sein Sohn an Halloween spurlos verschwunden ist. 
Jno. Beale didd openlie declare and state that ye sd. Son Frauncis hadd been led away by Warlockes in y Daunce (for his Ring, ye wh. he hadd long wome, was found in ye Fielde wh. ye wot of) and hadd by them beene done to Deathe in y r Abhominable Practicinges. 
Zu irgendwelchen Verurteilungen kam es offenbar nie. Ein späterer Eintrag aus der Zeit des Commonwealth (also der republikanischen Regierung von Oliver Cromwell) berichtet davon, dass die Regierung gegen "ye Lewd Games and Dauncyng, ye wh. are Service to Sathanas and a moste strong Abhominatioun to ye Lorde" vorgegangen sei.  
Das auch hier das 17. Jahrhundert als Bezugspunkt herangezogen wird, ist zwar auffällig, hat meines Erachtens aber andere Gründe als bei den späteren Folk Horror - Filmen. Zum einen wird damit eine Verbindung zur Hochzeit des Hexenwahns geschlagen, zum anderen war das Regime Cromwells in der Tat berüchtigt dafür, allerlei volkstümliche Festivitäten als "unchristlich" und "götzendienerisch" unterdrückt zu haben. 
Jedenfalls realisiert Heyling erst an diesem Punkt in der Geschichte, dass er zufälligerweise genau an Halloween in Randalls angekommen ist. Weitere Schlüsse zieht er allerdings nicht aus seiner Recherche. Vielmehr kommt er auf die verwegene Idee, dem Hügelgrab einen Besuch abzustatten, um dort ein bisschen "Hobbyarchäologie" (wir würden heute Raubgrabung dazu sagen) zu betreiben. Und da ihm der Wirt des "Flaming Hand", der sich auch als Besitzer des betreffenden Landstücks entpuppt, sehr deutlich zu verstehen gibt, dass ein derartiges Unternehmen nicht den Segen der Dorfbewohner bekommen wird, beschließt er, seine Expedition nächtens durchzuführen.
Unglücklicherweise tauchen zu genau dem Zeitpunkt, als er sich hinausschleichen will, eine Reihe von Männern in dem Wirthaus auf, nur um es etwas später mit geschwärzten Gesichtern wieder zu verlassen. Auch das hält ihn nicht dauerhaft von seinem Vorhaben ab. Hätte ihm aber eigentlich verraten müssen, was ihn schließlich an dem nächtlichen Hügelgrab erwartet: Die "authentische" Version von "Randalls Round" und die grausige Erkenntnis, für was das bizarre "Stiertotem" in Wahrheit steht. 
Nach dieser Nacht dürfte Heyling wohl für immer von seiner herablassenden Haltung gegenüber Volksbräuchen geheilt sein.
 
Der (ziemlich effektive, weil bloß andeutungsweise beschriebene) Auftritt eines leibhaftigen Ungeheuers auf dem Höhepunkt der Handlung, unterscheidet Randalls Round deutlich von späteren Folk Horror - Werken wie The Wicker Man oder Robin Redbreast, die ganz ohne irgendwelche übernatürlichen Zutaten auskommen. Aber davon einmal abgesehen, enthält Eleanor Scotts Geschichte in der Tat bereits erstaunlich viele Elemente des Subgenres. Ihre besondere Stärke besteht in der von Anfang an leicht verstörenden Atmosphäre des abgelegenen Dorfes und in der engen Anlehnung an Versatzstücke realer Folklore. Selbst die geschwärzten Gesichter sind tatsächlichen Morris-Tanz - Traditionen entnommen, und das Stier-Motiv könnte auf den "The Broad" genannten volkstümlichen Brauch zurückgehen, der in Teilen der Cotswolds bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein gepflegt wurde -- wenn auch an Weihnachten und nicht an Halloween. 
Was Randalls Round neben dem Monster noch vom späteren Folk Horror abhebt, ist, dass der Protagonist nicht unmittelbar in die unheimlichen Ereignisse verstrickt wird. Heyling endet nicht selbst als das Opfer wie Sergeant Howie in The Wicker Man oder wird zum ungewollten Mitwirkenden der Opferzeremonie wie Norah in Robin Redbreast. Er bleibt bloßer Beobachter und kommt am Ende zumindest physisch ungeschoren davon. Damit einher geht auch, dass Heyling eine reichlich blasse Gestalt bleibt. Er ist zwar als Karrikatur eines bornierten "Rationalisten" angelegt, doch eigentlich hat die Geschichte nicht wirklich etwas zu diesem Thema zu sagen. Während spätere Folk Horror - Werke vergleichbare Szenarien dazu benutzen werden, um sich (auch) mit sozialen/kulturellen/moralischen Fragen auseinanderzusetzen, bleibt Randalls Round in dieser Hinsicht relativ substanzlos. Dennoch gebührt der Geschichte ganz sicher ein Ehrenplatz in den Annalen des Subgenres.

Mit The Cure enthält Eleanor Scotts Sammelband von 1929 noch eine weitere Story, die man als frühen Folk Horror charakterisieren könnte. Auch wenn die Parallelen dort nicht ganz so augenfällig sind. Ob Randalls Round einen direkten Einfluss auf die spätere Entwicklung hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Dem Vorwort zur Ausgabe der British Library entnehme ich, dass dem Büchlein seinerzeit kein großer kommerzieller Erfolg beschieden war. Ungefähr ein Jahrzehnt später würde H.R. Wakefield mit The First Sheaf eine weitere Geschichte veröffentlichen, die man zu den frühen Vorläufern des Subgenres zählen kann. Vielleicht lagen diese Motive in den 20er/30er Jahren also einfach irgendwie "in der Luft"? Ganz so wie später in den 60er/70er Jahren?
 
Mein letztes Wort zum Thema Folk Horror wird dieser Blogpost sicher nicht sein. Auch möchte ich bei Gelegenheit noch einen kurzen Beitrag über die restlichen Spukgeschichten von Eleanor Scott nachliefern, in dem ich dann auch etwas genauer auf die Schriftstellerin selbst eingehen werde. Doch für heute ist erst einmal schluss. Schließlich soll das hier an Halloween erscheinen -- wie sich's gehört.

 

 
* Mit dem wunderbaren Soundtrack von Paul Giovanni ist The Wicker Man auch der einzige der drei Filme, der direkt an das musikalische Folk Revival der Zeit anknüpft.  
 
** Immer mal wieder stößt man auf die These, Benjamin Christensens Häxan aus dem Jahre 1922 ließe sich als "Urfilm" des Folk Horror betrachten. Dem kann ich mich nicht so recht anschließen, wie man auch meiner alten Besprechung des dänischen Stummfilms entnehmen kann.
 
*** Wer sie sich lieber vorlesen lassen will, sei auf Episode 63 von Jim Moons From the Great Library of Dreams verwiesen.   

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