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Freitag, 26. April 2019

Murrain

Noun
1 [mass noun] Redwater fever or a similar infectious disease 
   affecting cattle or other animals.
2 [archaic] A plague, epidemic, or crop .blight.
Oxford Dictionary   

Ich habe mich inzwischen damit abgefunden, dass die meisten meiner vor langer Zeit abgebrochenen Artikel-Serien wohl für immer Fragmente bleiben werden. Eine von ihnen hoffe ich jedoch nach wie vor irgendwann einmal fortzusetzen und in aller Form abzuschließen, auch wenn der letzte Beitrag bald fünf Jahre zurück liegt: Meine Tour durch Leben und Werk von Nigel Kneale (1922-2006). Halte ich den britischen Drehbuchautoren doch nachwie vor für einen der großartigsten Vertreter der filmischen Phantastik, die ich kenne. Und wenn ich mich nicht irre, ist sein Oeuvre hierzulande auch unter Genre - Freundinnen & Freunden bedauerlicherweise ziemlich unbekannt.

Meine alten Aufsätze beschäftigten sich mit der BBC-Adaption von George Orwells Nineteen Eighty-Four (1954), der ursprünglichen Quatermass - Trilogie The Quatermass Experiment (1953), Quatermass II (1955) und Quatermass and the Pit (1958/59), dem Yeti-Streifen The Abominable Snowman (1957) sowie Nigel Kneales Arbeiten der 60er Jahre, u.,a. dem Folk Horror - Film The Witches (1966). Der letzte Beitrag war zugleich als Einleitung zu einer ausführlichen Besprechung seiner Dystopie The Year of the Sex Olympics (1968) gedacht, die ich dann aber leider nie geschrieben habe. Und ich werde sie auch heute nicht nachliefern. Stattdessen überspringen wir ein paar Jahre und Werke und wenden uns dem 1975 ausgestrahlten Fernsehspiel Murrain zu. Das habe ich mir nämlich vor kurzem auf dem Supernatural Tales Blog angeschaut.

In den frühen 70ern schrieb Nigel Kneale seine letzten Scripts für die BBC. Das bedeutendste davon war sicher das Drehbuch für The Stone Tape (1972). Ich habe den Film vor einer halben Ewigkeit hier schon einmal kurz besprochen, will mich ihm aber irgendwann noch einmal etwas eingehenderer widmen. Kneales 1971 ausgestrahlter Beitrag zur vierten Staffel der SF-Anthologie-Serie Out Of The Unknown die Episode The Chopper  klingt auch recht interessant, scheint aber für immer verloren zu sein, auch wenn es das Gerücht gibt, in den 70er Jahren sei eine Kopie in Dubai gelandet und dort verschollen.  
It's a long time ago. I don't really remember it very clearly. It was a ghost story, yet again, and this time it was about a garage where they converted Harley-Davidsons and heavy-duty motorbikes into choppers: they chopped them down. And the ghost was a tearaway youth who'd got himself killed on the M4 and came back to haunt the place. He was a very noisy ghost indeed and pretty unpleasant and destructive. It was again mostly a character play.
Kneale stand den kulturellen Umwälzungen der Swinging Sixties nicht besonders positiv gegenüber, wie ich in meinem letzten veröffentlichten Beitrag zur Tour bereits kurz ausführte. Es lässt sich vermuten, dass in The Chopper davon einiges zu spüren gewesen wäre. Dasselbe gilt auch für die beiden angepeilten Projekte, deren letztliches Scheitern viel dazu beigetragen haben dürfte, warum er der BBC schließlich den Rücken kehrte: Der Fernsehfilm The Big Giggle über eine Epidemie von Selbstmorden unter Jugendlichen, und seine vierte Quatermass - Miniserie, die ein halbes Jahrzehnt später dann von ITV produziert werden sollte:    
It was written in 1973 and they decided for various reasons, mainly cost, not to go ahead with it. I think it was commissioned by Ronnie Marsh, who was then in charge of serials, and Joe Waters was going to be the producer. It lingered through the summer and slowly died as a project.
1974 steuerte Kneale noch Jack and the Beanstalk zu den Bedtime Stories bei, einer Reihe moderner Neuninterpetationen klassischer Märchenstoffe, dann trennte er sich endgültig von "Auntie".

Schon ein Jahr später konnte er mit Murrain seinen Einstand bei ITV feiern. Das nicht ganz einstündige Fernsehstück war Teil der etwas arg prätentiös betitelten Serie Against the Crowd, die sich mit unterschiedlichen Formen gesellschaftlichen Außenseitertums beschäftigen sollte.

Der Veterinär Alan Crich (David Simeon) befindet sich auf dem Weg zum Hof des Schweinezüchters Mr. Beeley (Bernard Lee). An der Straßenkreuzung vor dem Ortseingang des kleinen und recht ärmlich und heruntergekommen wirkenden Dorfes haben sich ein paar Männer aus unerfindlichen Gründen mit Besen zu schaffen gemacht. Die Blicke, die man Crich zuwirft, lassen vermuten, dass er nicht unbedingt willkommen ist. Das ändert sich auch nicht, als er Beeleys großes Gehöft erreicht. Der Grund für das frostige und maulfaule Willkommen ist allerdings nicht recht klar. 
Freilich bringt er keine sonderlich guten Neuigkeiten. Die Analyse der Blutproben einiger erkrankter Schweine hat bislang zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt. Die bekannteren Krankheiten könnten allerdings ausgeschlossen werden, und es bestehe kein Grund, den Ausbruch einer Epidemie zu befürchten.
Auf den bulligen Beeley wirkt dies jedoch alles andere als beruhigend. Er zeigt Crich zuerst eine ausgetrocknete Wasserleitung. Die örtliche Quelle scheint versiegt zu sein und nun muss der Schweinezüchter sein Wasser auf kostspielige Weise vom Fluss heraufpumpen. Der Veterinär ist verständlicherweise verwirrt. Wo soll da der Zusammenhang zu den erkrankten Tieren bestehen? Zusammen mit einer kleinen Rotte seiner Knechte schleift Beeley ihn daraufhin zum örtlichen Tante Emma - Laden. Der Sohn der Besitzerin Mrs. Leach (Marjorie Yates) liegt seit Monaten mit einer unbekannten Krankheit im Bett. Erneut versteht Crich nicht, was man eigentlich von ihm will. Will Beeley andeuten, der kleine Junge habe sich bei den Schweinen angesteckt oder umgekehrt?
Doch schließlich dämmert es dem Veterinär. Beeley glaubt, alle diese Unglücksfälle hätten einen übernatürlichen Auslöser. Und es wundert Crich dann auch nicht mehr groß, dass er denselben in einer allein lebenden, etwas wunderlichen alten Frau ausgemacht hat. Beeley hält die greise Mrs. Clemson (Una Brandon-Jones) allen Ernstes für eine Hexe! Und offenbar teilt das ganze Dorf inzwischen diese Überzeugung. Wobei der Umstand, dass der Schweinezüchter der wohlhabendste Mann am Orte und der wichtigste Arbeitgeber ist, sicher auch eine Rolle spielt.
Als Mann der Wissenschaft fühlt sich Crich von diesem kruden Aberglauben abgestoßen. Statt Beeleys Forderung nachzukommen, an einer Art Exorzismus teilzunehmen, stattet er der verhassten "Hexe" einen Besuch ab. Er will der alten Frau, die von der Dorfgemeinschaft ausgestoßen, verfolgt {ihre Katze wurde bereits ermordet} und quasi ausgehungert wird, helfen, verspricht, Kontakt zum Sozialamt aufzunehmen und Lebensmittel für sie zu organisieren.
Bei seinem zweiten Besuch wird die gute Mrs. Clemson allerdings auch ihm langsam etwas unheimlich. Er entdeckt zwischen ihren Sachen eine simpel geschneiderte Puppe. Sollte das am Ende eine der "mummies" {"Voodoo-Puppen"} sein, von denen einer von Beeleys Knechten gefaselt hatte? Wohl eher nicht. Mrs. Clemson erzählt, sie habe sie für ein Mädchen aus dem Dorf gemacht, das sie früher regelmäßig besuchen gekommen sei. Doch irgendwann sei das Mädchen nicht mehr bei ihr aufgetaucht. Sie selbst habe ja keine Kinder und ihr Mann habe sie auch irgendwann verlassen, doch dieses Mädchen sei für sie wie eine Tochter gewesen. Auch das habe das Dorf ihr genommen. Während ihrer Erzählung steigert sich die alte Frau allmählich in eine Art hysterischen Anfall hinein, während sie die Puppe zu zerpflücken beginnt. Der peinlich berührte Crich weiß nicht, wie er mit dieser Situation umgehen soll, und sucht das Weite. Doch derweil hat der Hexenwahn Beeley und seine Männer so hochgepuscht, dass sie zu einem regelrechten Lynchmob zu werden drohen.

Der Konflikt zwischen aufgeklärter Vernunft und abergläubischer Irrationalität ist eines der Leitmotive von Nigel Kneales Gesamtwerk. So gesehen ist Murrain wohl ein ziemlich typischer Film. Und wie stets wird dabei Rationalität mit Humanität verknüpft. Doch ist die Story durchaus etwas komplexer als das. 
Crichs Hilfsversuche sind zwar ohne Zweifel gut gemeint, aber zugleich wird überdeutlich, dass er sich nicht wirklich in die Lage der alten Mrs. Clemson einfühlen kann.  Sein Verhalten hat etwas distanziert paternalistisches. Er glaubt, mit einem Anruf beim Sozialamt sei es getan.
Wir erfahren nicht, wie und warum die alte Frau in der Position der misstrauisch beäugten und schließlich allgemein gefürchteten Außenseiterin gelandet ist. Aber ihr unzusammenhängender Monolog lässt zumindest erkennen, dass das ein sich über Jahre erstreckender, schleichender Prozess gewesen sein muss. Die ambivalente Schlussszene lässt gar die Möglichkeit offen, dass Mrs. Clemson tatsächlich über übernatürliche Kräfte verfügen könnte. Wir können also nicht ausschließen, dass zumindest einige der Unglücksfälle, für die auch Crich keine gänzlich überzeugenden rationalen Erklärungen liefern kann, auf ihr Konto gehen. Ihr Hass auf die Dorfgemeinschaft wäre sicher stark genug, um diese mit ein paar Flüchen oder Schadenszaubern zu belegen. Verantwortlich wäre dafür letztenendes aber das Dorf selbst, und vor allem Mr. Beeley, der seine dominante Stellung in der kleinen Gemeinschaft dazu ausnutzt, alle gegen die alte Frau aufzuhetzen.                        
Letztenendes ist Murrain weniger ein Stück über Aberglaube und Vernunft, als vielmehr über die verheerenden psychologischen Folgen, die entstehen, wenn eine kleine, von materieller und kultureller Armut sowie starken ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen geprägte Gemeinschaft beschließt, einen der ihren zum Pariah zu erklären. Heraus kommt eine unheimliche Mischung aus Hass und Hysterie. 

Murrain ist sicher eines von Nigel Kneales kleineren Werken, und ich würde es nicht unbedingt als Einstieg in das Schaffen des Autors empfehlen. Sehenswert ist der Streifen aber auf jedenfall. Auch darf er als unmittelbarer Vorläufer zu Kneales ITV-Miniserie Beasts (1976) gelten.
Auf Video gedreht, was zu dieser Zeit schon allein aus Kostenersparnis groß in Mode war, ist Murrain visuell nicht unbedingt überwältigend. Der Drehort des leicht heruntergekommenen Dorfes besitzt allerdings seinen Reiz und bildet den idealen Hintergrund für das Geschehen. Obwohl der Flick nicht einmal eine Stunde lang ist, entwickelt sich die Handlung ziemlich gemächlich, was aber für die Atmosphäre eines sich allmählich steigernden Wahnsinns eher zuträglich ist. Unter den Schauspielern ragen vor allem Una Brandon-Jones und Bernard Lee hervor, der vielen möglicherweise als James Bonds Boss "M" bekannt sein dürfte, den er von Dr. No (1962) bis Moonraker (1979) verkörperte.

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