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Montag, 30. September 2013

Das Necronomicon-Experiment

Eins vorweg: Von The Rats in the Walls findet sich in Necronomicon (auch bekannt als H.P. Lovecraft's Necronomicon, Necronomicon: Book of the Dead und Necronomicon: To Hell and Back) nichts außer dem Namen De La Poer. Aber sehr viel mehr hatte ich ehrlich gesagt auch nicht erwartet.

Der 1993 auf den amerikanischen Videomarkt gelangte Episoden-Horrorfilm ist eine Kooperation von drei Regisseuren.
Der Allgemeinheit heute am bekanntesten dürfte Christophe Gans sein, schuf dieser doch acht Jahre später den kommerziell äußerst erfolgreichen phantastischen Historienstreifen Le Pacte des loups (Pakt der Wölfe). Aus einer Reihe von Gründen halte ich selbst allerdings nur wenig von dem auf der Geschichte der Bestie von Gévaudan basierenden Film und würde ihm sogar Gans' allgemein wenig geschätzte Silent Hill - Adaption aus dem Jahre 2006 vorziehen. Aber damit stehe ich vermutlich ziemlich alleine da. 
Shusuke Kaneko hingegen war mir bisher völlig unbekannt. Doch scheint er sich vor allem im Kaiju-Genre ausgezeichnet zu haben (u.a. Gamera 1 - 3), und da ist mein Wissen – zumindest was Namen angeht – eher kümmerlich. 
Initiator und Produzent von The Necronomicon war der Dritte im Bunde – Brian Yuzna. Genrefans dürfte der Mann u.a. als Produzent von Stuart Gordons Klassikern Re-Animator (1985) und From Beyond (1986) bekannt sein. Später drehte er mit Bride of Re-Animator (1990) und Beyond Re-Animator (2003) zwei Sequels zu dem berühmten Film seines Freundes. Zu seinem Oeuvre zählen daneben u.a. Initiation: Silent Night, Deadly Night 4 (1990), Return of the Living Dead III (1993), The Dentist (1996) und Faust: Love of the Damned (2000). Mit Rottweiler (2004) drehte er außerdem einen der letzten Filme, in denen Paul Naschy mitwirkte.

In einem Interview mit Artechock erzählt Yuzna über The Necronomicon:
Ehrlich gesagt finde ich nicht, dass NECRONOMICON als Film an sich so wahnsinnig gut funktioniert, und es ist immer schwierig für ein Publikum, drei verschiedene Geschichten zu haben. Filmemacher lieben es, solche Anthologie-Filme zu machen, aber das Publikum schaut sie nicht gerne an. Es ist ein uneinheitlicher Film. Aber das macht mir nichts aus, denn als ich anfing, ihn zu machen, da habe ich das als Experiment getan. Das Experiment war, einen Regisseur aus Europa, einen aus Asien und einen aus Amerika zu nehmen und jeden einen Lovecraft-Film machen zu lassen, und sich die Mixtur anzusehen. Denn für mich sind das die drei Teile der cineastischen Welt zur Zeit. Und ich wollte einfach sehen, wie die Mischung aussehen würde.
Das klingt erst einmal recht spannend, doch ist das Ergebnis dieses Experimentes ähnlich interessant? Schaun wir mal.


Das meiste, was in diesem Trailer gesagt wird, ist natürlich totaler Bullshit, aber hat irgendwer etwas anderes erwartet?!?

In der Rahmenhandlung erleben wir, wie sich H.P. Lovecraft (Jeffrey Combs)* in der Bibliothek irgendeiner okkultistischen Sekte Zugang zum Necronomicon verschafft und einige Passagen aus dem verbotenen Buch kopiert. Er tut dies, weil das "Schicksal der Menschheit" davon abhänge. Bei den folgenden drei Geschichten handelt es sich um den Inhalt besagter Passagen.

Christophe Gans' The Drowned erzählt wie der eigentlich in Schweden lebende Edward De La Poer (Bruce Payne) ein altes Hotel an der Küste von Neuengland erbt, das sich zuvor im Besitz seines Onkels Jethro (Richard Lynch) befand. In einem Brief an seinen Erben berichtet Jethro, wie er sich nach einem Schiffsunglück, bei dem seine Frau und sein Sohn ums Leben kamen, von Gott abwandte, nur um in derselben Nacht von einem eigentümlichen Fischmenschen besucht zu werden, der ihm das Necronomicon gebracht habe. Mit Hilfe des Buches habe er versucht, seine Liebsten ins Leben zurückzuholen, doch diese hätten sich dabei in teuflische Ungeheuer verwandelt, woraufhin er beschlossen habe, sich das Leben zu nehmen. Edward, der seine eigene Frau Clara (Maria Ford) bei einem Autounfall verloren hat, macht sich sofort auf die Suche nach dem Grimoire und wiederholt den fatalen Fehler seines Onkels. Tatsächlich kehrt Clara zu ihm zurück, doch muss er miterleben, wie sich ihr Körper vor seinen Augen in den widerlichen Tentakel eines gigantischen Ungeheuers verwandelt, das aus einem tiefen Schacht unter dem Hotel heraufzusteigen beginnt.
Mit Rats in the Walls, der "offiziellen" Vorlage, hat die Episode so gut wie nichts zu tun. Motivisch knüpft sie eher an The Shadow over Innsmouth und The Call of Cthulhu an. Doch im Grunde handelt es sich bloß um eine lovecraftianisch angehauchte Variante des altehrwürdigen Teufelspaktes. Nichts wirklich originelles also. Visuell allerdings ist sie nicht ohne Reiz. Und vielleicht ließen sich darin tatsächlich Spuren einer genuin europäischen Horrorfilmtradition erkennen, insbesondere der der italienischen Meister wie Dario Argento oder Lucio Fulci. Einige Szenen besitzen beinah poetische Qualität, und wenn wir die halbnackte Clara sehen, deren Unterleib in einen riesigen Tentakel übergeht, wirkt dies wie eine perverse Karrikatur auf das Bild der Meerjungfrau und hinterlässt in der Tat einen leicht verstörenden Eindruck. Doch nichts davon vermag die Episode über das Mittelmaß hinauszuheben. Die Story ist zu banal und zu unlogisch und wird zudem auf übermäßig "dramatische" und pathetische Weise erzählt, wobei die musikalische Untermalung besonders enervierend wirkt. Auf anderthalb Stunden ausgedehnt und mit einem dadurch möglich gewordenen schrittweisen Aufbau einer unheimlichen Atmosphäre hätte man möglicherweise etwas Passables aus ihr machen können. So aber ... 
           
Shusuke Kanekos The Cold ist in meinen Augen der eindeutig stärkste Part des Films. Inwieweit sich in ihm Eigenheiten des japanischen Horrors widerspiegeln, kann ich nicht beurteilen, da mir, abgesehen von einigen international erfolgreichen Flicks à la Ringu, das cineastische Grauen aus dem Land der Aufgehenden Sonne weitgehend unbekannt ist. Kaneko erzählt seine Geschichte auf merklich ruhigere Art, und im Unterschied zum Rest des Necronomicon besitzt sie fast so etwas wie menschliche Tiefe. Auch enthält sie eine deutlich größere Portion ihrer literarischen Vorlage Cold Air. Als eine echte "Verfilmung" von Lovecrafts Kurzgeschichte ließe freilich auch sie sich nur schwerlich bezeichnen. 
Die junge Emily (Bess Meyer) bezieht eine neue Wohnung in Boston. Vermieterin Lena (Millie Perkins) gibt ihr sehr deutlich zu verstehen, dass sie den ein Stockwerk über ihr wohnenden Dr. Madden auf gar keinen Fall stören dürfe. Doch als eines Abends ihr Stiefvater Sam bei ihr aufkreuzt und sie zu vergewaltigen versucht, flieht sie die Treppe hinauf, und auf ihr verzweifeltes An-die-Tür-Hämmern hin öffnet der eigenartig bleich wirkende Doktor (David Warner)** und verteidigt sie mit einem Skalpell. Emily fällt in Ohnmacht. Als sie erwacht, findet sie sich in Maddens eisig kalter Wohnung wieder und Sam ist verschwunden. In der Folge kommt es zu einer Reihe unheimlicher Ereignisse. Emily erfährt, was mit Sam tatsächlich passiert ist und was es mit Dr. Maddens "Krankheit" und seiner eigentümlichen Langlebigkeit auf sich hat. Und schließlich kommen auch noch Liebe, Sex, Eifersucht und eine Schwangerschaft mit ins Spiel ...

Über den Inhalt von Brian Yuznas Whispers werde ich nichts genaueres sagen. Nicht weil die Story so komplex oder originell wäre, sondern weil das, was die schwangere Polizistin Sarah (Signy Coleman) auf der Jagd nach dem "Butcher" in den Kellern unter einem Lagerhaus in Philadelphia erlebt, ein Alptraum ist. Und Alpträume wie dieser lassen sich kaum sinnvoll zusammenfassen. Es mag genügen zu erzählen, dass sie dabei einem gruseligen alten Paar (Judith Drake & Don Calfa***) begegnet, und die Ereignisse bald schon eine sehr unappetitliche Wendung nehmen. 
Yuzna hat in einem Interview einmal gesagt:
Horror ist physisch, hat mit Fleisch zu tun. Für Science Fiction verwenden wir Metall. Bei Horror muss Blut fließen, muss Fleisch im Spiel sein, Fleisch, das sich verändert, zerschnitten oder geöffnet wird.
Ob amerikanische Künstler tatsächlich eine größere Vorliebe für "Body Horror" besitzen? Wenn ich an Clive Barker denke, scheint mir das eher unwahrscheinlich. In Yuznas Beitrag zu The Necronomicon jedenfalls spielen Fleisch und Körper eine zentrale Rolle. Das Ergebnis ist hysterisch, eklig und nicht uninteressant. Freilich kippt es streckenweise vom Grotesken ins Lächerliche um.

Was bleibt am Ende zu sagen? The Necronomicon ist kein guter Film, und wirklich lovecraftianisch ist nichts an ihm. Freunden & Freundinnen des filmischen Horrors mag er jedoch einen unterhaltsamen Abend bescheren können, wenn diese gerade keinen besseren Flick zur Hand haben.


* Herbert West in Re-Animator; Crawford Tillinghast in From Beyond; John Reilly in Castle Freak; Edgar Allan Poe in The Black Cat; Weyoun & Brunt in Deep Space 9.
** Michael Kohlhaas in Volker Schlöndorffs Michael Kohlhaas - der Rebell; Keith Jennings in The Omen; Rosaleens Vater in Company of Wolves; Chancellor Gorkon in Star Trek VI.
*** Ernie Kaltenbrunner in Return of the Living Dead; Ralph Willum in Chopper Chicks in Zombietown

Samstag, 28. September 2013

Servio Tulio singt Songs von Kurt Weill & Bert Brecht

Da bin ich heute doch ganz zufällig über diese äußerst charmante Version des Bilbao Songs gestolpert:


Die Aufführung war Teil eines Bertolt Brecht - Abends im MAC, dem Museu de Arte Contemporânea in der brasilianischen Stadt Niterói am 13. August 2006. Interpret ist der Sänger, Komponist und Multimediakünstler Servio Tulio aus Rio de Janeiro, der neben zahlreichen anderen Projekten, über die man sich hier informieren kann, zusammen mit dem Pianisten Glauco Baptista 2001 das Ensemble Kabarett Berlin gegründet hat. "The Ensemble performs german, french, english, north-american and brazilian chansons and melodies extracted from revues, cafe-concerto and varietè, as well as musical numbers from theater plays and movies, works composed mostly in the first half of the XX Century." Und dazu gehören natürlich auch eine ganze Reihe von Brecht-Weill-Songs, u.a.

Die Moritat von Mackie Messer:


Der Kanonensong aus der Dreigroschenoper:


Und der Alabama Song aus Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny:


Weitere Musikstücke von Servio Tulio finden sich hier. Und da wir gerade bei Brecht & Weill sind: Hier kann man sich anhören, wie es klingt, wenn Lotte Lenya und Louis Armstrong gemeinsam die englische Version von Mackie Messer singen.

Strandgut der Woche

Freitag, 27. September 2013

Die Macht der Kinobilder

Als vor einigen Monaten im Blog der Bibliotheka Phantastika Simone Heller ("Mistkaeferl") und Maike Claußnitzer ("Wulfila") einige ihrer Gedanken über Peter Jacksons Tolkien-Adaptionen darlegten, stellten sie dabei u.a. die Frage: "[W]er kann sich jetzt noch von den omnipräsenten Filmbildern freimachen? Wer eigene, neue finden (oder sich noch an die alten erinnern, die man vor den Filmen hatte)?
In der sich anschließenden Debatte gehörte ich zu denen, die diese scheinbare Allmacht der Kinobilder anzweifelten, und auch heute würde ich da keine andere Meinung vertreten. Allerdings ist mir diese Woche ein wirklich frappierendes Beispiel für den immensen Einfluss der Jacksonschen Interpretation über den Weg gelaufen. Und zwar nirgendwo anders als in den geheiligten Hallen der Deutschen Tolkiengesellschaft. 
Auf deren Website kann man sich seit einigen Tagen ein Interview mit der neu gewählten Schriftführerin des Vereins Susanne Antoinette Rayermann durchlesen. Eine der von Werner Menke gestellten Fragen lautet: "Mit welcher Figur aus Mittelerde kannst du dich am ehesten identifizieren?" Worauf Frau Rayermann antwortet: "Hmmm… ich denke mit dem zweifelnden Aragorn, der lieber Waldläufer als Herrscher sein möchte."
Ich weiß gar nicht, wie oft ich den Herr der Ringe in den letzten gut zweieinhalb Jahrzehnten gelesen habe. Und nicht ein einziges Mal hatte ich dabei den Eindruck, dass Aragorn "lieber Waldläufer als Herrscher" sein möchte. Das Bild des zweifelnden Streichers, der fürchtet, der Versuchung der Macht zu erliegen, wenn er die Krone Gondors für sich beansprucht, stellt meiner Ansicht nach vielmehr eine der offensichtlichsten Veränderungen dar, die Peter Jackson an seiner literarischen Vorlage vorgenommen hat. Um so erstaunlicher, dass ein führendes Mitglied der DTG offenbar nicht mehr zwischen dem Werk des "Professors" und dem des australischen Blockbuster-Regisseurs zu unterscheiden vermag.

Donnerstag, 26. September 2013

"Why shouldn't rats eat a de la Poer as a de la Poer eats forbidden things?"

Gleich was man über die literarischen Qualitäten oder den weltanschaulichen Gehalt von H.P. Lovecrafts Erzählungen denken mag, es lässt sich nicht leugnen, dass der Gentleman von Providence wie kaum ein zweiter phantastischer Autor des 20. Jahrhunderts andere Künstler & Künstlerinnen schöpferisch inspiriert hat. Und das gilt nicht nur für Schriftsteller, sondern auch für Maler, Musiker, Filmemacher. Sein Werk besitzt ohne Zweifel einen ganz eigenen, finsteren* Zauber, dem man sich nur schwer entziehen kann, sobald man seine Macht einmal gespürt hat.
Es ist wenig mehr als einen Monat her, da habe ich hier über Julie Hoversons Hörspiel-Fassung von The Rats in the Walls berichtet. Nun bin ich erneut auf eine interessante Adaption dieser klassischen Erzählung von Degeneration und Verfall gestoßen: Ein "multimediales Projekt" des tschechischen Künstlers Petr Augustin, in dem dieser Passagen aus Lovecrafts Text mit den Ausdrucksformen von Malerei, Film, Musik und Hörspiel zu einem recht beeindruckenden und atmosphärischen Ganzen verschmelzt. Das Gesamtwerk besteht aus fünfzehn kurzen Kapiteln, doch der folgende "Trailer" vermittelt einen ziemlich guten Eindruck:





Der Filmabteilung der Miskatonic University zufolge, ist The Rats in the Walls erstaunlicherweise noch nie verfilmt worden. Es existiert nicht einmal eine jener berüchtigten "Based on a story by H.P. Lovecraft" - Flicks zu dieser Erzählung. Einzig The Necronomicon (1993) von Christophe Gans, Shusuke Kaneko & Brian Yuzna enthält angeblich einige Elemente aus ihr. Ich werde mir diesen Episoden-Horror heute Nacht mal zu Gemüte führen, um Morgen hoffentlich näheres über ihn berichten zu können.


* Schriebe ich in Englisch, ich würde das Wort "eldritch" verwenden ...

Montag, 23. September 2013

That is not dead which can eternal lie



Wie wir hier sehen können ist Mr. Stuart Ashen ein ausgesprochen mutiger Mann, der nicht einmal davor zurückschreckt, sich mit den Horror und Wahnsinn verbreitenden Abgesandten der Großen Alten anzulegen. Doch daneben erweist er sich außerdem als ein äußerst amüsanter Zeitgenosse, wenn er uns auf seiner Couch solch wunderbare Kuriositäten vorführt wie "Knock-off He-man" - und "Bootleg Star Wars" - Figuren, halb versteinerte Dino-Fruchtgummis oder beunruhigend bizarre Spielzeuge aus den 80er Jahren. Und das ist bloß der Anfang ... Ich habe schon lange nicht mehr so ausgiebig und herzhaft gelacht.

Samstag, 21. September 2013

J.R.R. Tolkien und das Erbe der Englischen Romantik (3)

{Der dritte Teil meiner Ausführungen über den romantischen Antikapitalismus fällt etwas sehr kurz aus, aber es war mir wichtig, meiner Leserschaft und mir selbst zu beweisen, dass dieses Projekt nicht im Sande verlaufen soll.}



Es gibt unzählige Interpretationen von Robert Brownings berühmtem Gedicht Childe Roland to the Dark Tower Came. (1) Für mich sind diese faszinierenden und unheimlichen, 1855 geschriebenen Verse vor allem ein Ausdruck des Scheiterns der romantischen Revolte.
Wieder einmal hatte sich die Macht der Poesie als zu schwach erwiesen, um im Alleingang die finstere Festung der existierenden gesellschaftlichen Ordnung zu schleifen. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte vielmehr einem ungebremsten Triumphzug des industriellen Kapitalismus geglichen. Und als sich um die Jahrhundertmitte eine neue Generation von Künstlern und Künstlerinnen anschickte, noch einmal gegen die Realität des bürgerlichen England aufzubegehren, waren die Spuren dieser Niederlage deutlich auszumachen. Ihre Bewegung war weniger von kämpferischer Leidenschaft als vielmehr von einer verträumten, mitunter verzweifelten Melancholie beseelt.

1848 – das Jahr der europäischen Revolution. Barrikaden in Paris, Wien, Berlin, Prag, Neapel, Rom. Aufstand in Ungarn. Die Ordnung der Restauration, der Heiligen Allianz scheint in sich zusammenzubrechen wie ein Kartenhaus. In Frankreich wird die Republik ausgerufen. In der Paulskirche tagt die deutsche Nationalversammlung. Nur in England bleibt es vergleichsweise ruhig. Der von den Chartisten vorbereitete Aufstand wird niedergeschlagen, bevor es überhaupt zu offenen Massenkämpfen gekommen ist. Seine Anführer landen im Gefängnis oder werden nach Australien deportiert.
Im selben Jahr gründeten sieben junge Männer in London die Präraffaelitische Bruderschaft. Die bedeutendsten von ihnen waren der Dichter und Maler Dante Gabriel Rossetti sowie die Maler Everett Millais und William Holman Hunt. Zum engeren Kreis gehörten außerdem die Dichterin Christina Rossetti – Dante Gabriels Schwester – und der etwas ältere Maler Ford Madox Brown. Nachdem die von ihnen 1849 und 50 ausgestellten Gemälde einen Sturm der Entrüstung in offiziellen Kritikerzirkeln ausgelöst hatten, trat John Ruskin zu ihrer Verteidigung an "and adopted a position of qualified patronage." (2)
In ihrer ursprünglichen Gestalt war der Gruppe freilich nur ein kurzes Leben beschieden. Die von ihr herausgegebene Zeitschrift The Germ: Thoughts towards Nature in Poetry, Literature and Art gelangte nicht über die ersten vier Ausgaben hinaus, und bereits 1853 befand sich die "Bruderschaft" in offener Auflösung, was Christina Rossetti mit folgenden spöttischen Versen kommentierte:
The P.R.B.

1

The two Rossettis (brothers they)
And Holman Hunt and John Millais,
With Stephens chivalrous and bland,
And Woolner in a distant land --
In these six men I awstruck see
Embodied the  great P.R.B.
D.G. Rossetti offered two
Good pictures to the public view;
Unnumbered ones great Millais,
And Holman more than I can say,

William Rossetti, calm and solmn,
Cuts up his brethren by the column.

2

The P.R.B. is in its decadence:
For Woolner in Australia cooks his chops,
And Hunt is yearning for the land of Cheops;
D.G. Rossetti shuns the vulgar optics;
While William M. Rossetti merely lops
His B's in English disesteemed as Coptic;
Calm Stephens in the twilight smokes his pipe,
But long the dawning of his public day;

And he at last the champion great Millais,
Attaining academic opulence,
Winds up his signature with A.R.A.
So rivers merge in the perpetual sea;
So luscious fruit must fall when overripe;
And so the consummated P.R.B. (3)
Man könnte in diesem frühen Auseinanderfallen der Bewegung ein Indiz für ihre innere Schwäche sehen. Ganz falsch würde man damit vermutluch auch nicht liegen.

Die Rebellion der Präraffaeliten richtete sich in erster Linie gegen die "akademische" Kunst ihrer Zeit. Derartige Revolten der Jungen gegen die Alten, der Avantgarde gegen die Akademie erleben wir spätestens seit der Romantik in regelmäßigen Abständen in der europäischen – später dann in der internationalen – Kunst- und Literaturwelt. Und jede dieser ästhetischen Emeuten endet für gewöhnlich damit, dass die Rebellen früher oder später selbst ins künstlerische Establishment aufgenommen werden.
So gesehen sind sie zuerst einmal Ausdruck des Bemühens einer neuen Generation, sich einen Platz in der immer stärker von den Kräften des Marktes dominierten Kunstwelt zu erkämpfen. Wie es Leo Trotzki in seinem Essay über den russischen Futurismus beschrieben hat:
Die Schicht der Intelligenzler ist äußerst heterogen. Jede anerkannte Schule ist zugleich eine gutbezahlte Schule, an deren Spitze Mandarine mit vielen Ehrenknöpfchen stehen. Die Kunstmandarine bringen die Manier ihrer Schule in der Regel bis zum höchsten Raffinement, verschießen aber zugleich ihren gesamten Pulvervorrat. Dann bringt irgendeine objektive Veränderung, eine politische Erschütterung oder ein kleiner gesellschaftlicher Zugwind die literarische Bohème auf die Beine, die Jugend, diese Genies im wehrpflichtigen Alter, die ihre Verwünschungen der satten und abgeschmackten bürgerlichen Kultur gewöhnlich mit dem heimlichen Wunsch nach einigen, möglichst vergoldeten Knöpfchen verbinden. (4) 
Doch zugleich findet sich in den meisten dieser Revolten auch ein Element des ehrlichen Abscheus vor den unmenschlichen gesellschaftlichen, psychologischen, moralischen und "ästhetischen" Verhältnissen, von denen sich die Künstlerinnen & Künstler umgeben sehen. Wie bewusst dies geschieht, ist von Fall zu Fall sehr unterschiedlich, aber letztlich enthält jede echte Kunst ein Element des Protestes. Was keineswegs bedeuten soll, dass sie stets einen offen "sozialkritischen" oder "politischen" Charakter tragen müsste. Die Formen, die dieser Protest annimmt, sind vielmehr von einer Vielzahl individueller, kultureller und historischer Faktoren abhängig. Unter bestimmten Umständen kann sie sogar in der Gestalt des radikalen Gegensatzes zu einer "sozial verantwortlichen" Kunst auftreten – als "l'art pour l'art". Nur der oberflächliche Betrachter wird in dieser "Kunst um der Kunst willen" automatisch eine dekadente Weltflucht sehen. Es steckt viel Wahres in Oscar Wildes Worten:
Jener Appell an die Kunst, sich mehr dem modernen Fortschritt und der modernen Zivilisation anzupassen und sich zum Sprachrohr für die Stimme der Menschheit zu machen, jener Appell an die Kunst, "eine missionarische Aufgabe" zu erfüllen, ist ein Appell, der sich an das Publikum richten sollte. Eine Kunst, welche die Bedingungen der Schönheit erfüllt, hat alle Bedingungen erfüllt: es ist die Aufgabe des Kritikers, die Menschen zu lehren, wie sie in der Stille solcher Kunst den höchsten Ausdruck ihrer eigenen stürmischen Leidenschaft finden können.  (5)
Nicht zufällig äußerte Wilde diesen Gedanken in einem Vortrag, der den Präraffaeliten und ihrer Bedeutung für die englische Kunst gewidmet war.

Für eine ausführliche Charakterisierung und Würdigung des Präraffaelitismus fehlt mir momentan die Zeit und Muße {was die Malerei betrifft, auch das nötige Wissen}, zumal man dazu erst einmal etwas genauer auf John Keats und sein Prinzip der Schönheit eingehen müsste. Ein faszinierendes Thema, mit dem ich mich vielleicht ein andermal etwas genauer beschäftigen werde. Für den Moment soll es genügen, festzuhalten, dass die Kunst der Präraffaeliten in klarer Abgrenzung von der gesellschaftlichen Realität ihrer Zeit entstand. Der Hässlichkeit und dem Schmutz der britischen Industriestädte, der satten Selbstzufriedenheit, dem platten Utilitarismus und der nackten Profitgier der viktorianischen Bourgeoisie stellten die jungen Künstler elegische Traumwelten und von allegorischen Bezügen durchtränkte religiöse Szenerien entgegen. In gewisser Weise setzten sie damit die romantische Revolte fort, doch fehlte ihnen im Großen und Ganzen der leidenschaftliche Kampfgeist ihrer Vorgänger. Nicht dass es ihnen an Ernsthaftigkeit gemangelt hätte. Dante Gabriel Rossetti etwa empfand nichts als Verachtung für das bürgerliche Publikum. Was ihnen fehlte war der Glaube an den Sieg. Die Sehnsucht nach einer schöneren, edleren und menschlicheren Existenz war – zumindest bei den besten von ihnen – tiefempfunden und ehrlich. Aber da sie in der Realität ihrer Zeit keinen Ansatz zu ihrer Verwirklichung finden konnten, richteten sie ihr Verlangen mehr und mehr auf eine unwirkliche Traumwelt, in die sie sich vor der unerträglichen Hässlichkeit und Banalität der Gegenwart zurückziehen konnten. Diese Empfindung hat selten einen so schönen Ausdruck gefunden wie in Christina Rossettis Gedicht Dream-Land:
Where sunless rivers weep
Their waves into the deep,
She sleeps a charmèd sleep:
  Awake her not.
Led by a single star,
She came from very far
To seek where shadows are
  Her pleasant lot.

She left the rosy morn,
She left the fields of corn,
For twilight cold and lorn
  And water springs.
Through sleep, as through a veil,
She sees the sky look pale,
And hears the nightingale
  That sadly sings.

Rest, rest, a perfect rest
Shed over brow and breast;
Her face is toward the west,
  The purple land.
She cannot see the grain
Ripening on hill and plain;
She cannot feel the rain
  Upon her hand.

Rest, rest, forevermore
Upon a mossy shore;
Rest, rest at the heart's core
  Till time shall cease:
Sleep that no pain shall wake,
Night that no morn shall break,
Till joy shall overtake
  Her perfect peace.
(6)
Thomas Dixon, ein Arbeiter aus Sunderland, erfasste den Geist des Präraffaelitismus sehr gut, als er über The Germ sagte:
Why is it these pictures and essays being so realistic, yet produce on the mind such a vague and dreamy sensation, approaching as it were the Mystic Land of a Bygone Age? ... There is in them the life which I long for, and which to me never seems realizable in this life. (7)  
Es wäre falsch, wollte man für diese Neigung zu einer melancholisch-verträumten Weltflucht in erster Linie die individuellen Künstler und Künstlerinnen verantwortlich machen. Aus sich selbst heraus kann eine Bohème-Revolte nicht die Kraft schöpfen, um für längere Zeit einen ernsthaften Kampf gegen die herrschende Ordnung zu führen. Die Chance dazu eröffnet sich ihr nur, wenn sie sich an mächtigere gesellschaftliche Bewegungen anlehnen kann, die sich gleichfalls im Aufstand gegen die herrschenden Verhältnisse befinden. Doch für die Präraffaeliten gab es diese Möglichkeit nicht. Zwar fiel die Gründung ihrer "Bruderschaft" in ein Jahr der Revolution – wenn schon nicht in England, so doch auf dem Kontinent –, aber es dauerte nicht lang, und allenthalben konnte die Reaktion erneut triumphierend ihr Haupt erheben. In Großbritannien selbst folgte auf den Zusammenbruch des Chartismus eine lange Phase des wirtschaftlichen Wachstums und "sozialen Friedens". Erst gegen Ende der 1880er Jahre sollte der bürgerlichen Ordnung mit den sog. "Neuen Gewerkschaften" erneut ein ernstzunehmender Gegner erwachsen.

Und so ist es letzlich kein Wunder, dass die Präraffaeliten am Ende das Schicksal so vieler anderer Rebellen der Kunst teilen mussten: Sie wurden zu Lieblingen der von ihnen verhassten Spießbürger, und was als Revolte begann endete als Modeströmung.

Doch bevor bürgerliche "Mäzene" wie der steinreiche Börsenspekulant Thomas Plint begannen, Künstlern wie Rossetti oder Ford Madox Brown vorzuschreiben, was sie zu malen hatten, wenn sie ihre Bilder verkaufen wollten, erlebte der Präraffaelitismus 1856/57 noch einmal eine Art zweiten Frühling, als sich Algernon Charles Swinburne, William Morris und Edward Burne-Jones der Bewegung anschlossen.

Fortsetzung folgt ...


(1) Vgl.: Selections from the Poems and Plays of Robert Browning. S.  189.
(2) E. P. Thompson: William Morris. Romantic to Revolutionary. S. 42.
(3) In: Gisela Hönnighausen (Hg.): Die Präraffaeliten. Dichtung, Malerei, Ästhetik, Rezeption. S. 299f. 
(4) Leo Trotzki: Die zeitgenössische Literatur. IV: Der Futurismus. In: Ders.: Literatur und Revolution. S. 108. 
(5) Oscar Wilde: Die englische Renaissance der Kunst. In: Hönnighausen: Die Präraffaeliten. S. 125. 
(6) Christina Rossetti: Poems. S. 24f.
(7) Zit. nach: E. P. Thompson: William Morris. Romantic to Revolutionary. S. 57.

Strandgut der Woche

Freitag, 20. September 2013

Ein düsteres Filmgedicht

Prosagedichte, wie sie z.B. Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire oder Clark Ashton Smith geschrieben haben, sind keine kurzen Short Stories. Auch dann, wenn sie eine Handlung besitzen, besteht ihr eigentliches Ziel nicht darin, eine Geschichte zu erzählen. Vielmehr wollen sie vor allem eine Stimmung heraufbeschwören. Dazu bedienen sie sich poetischer Stilmittel wie Melodie, Rhythmus und Klang.

Eine ähnliche Differenzierung sollte es auch in der Filmkunst geben. Formal betrachtet ist Jovanka Vuckovics The Captured Bird ein Kurzfilm, aber diese Bezeichnung will mir dennoch nicht ganz zutreffend erscheinen. Das 2012 auf die Leinwand gelangte Erstlingswerk der kanadischen Regisseurin ist ein Filmgedicht, ein düsteres, unheimliches Stück cineastischer Poesie:


{Unbedingt im Vollbildmodus anschauen!}

Wer The Captured Bird vorwirft, die Story sei im Grunde banal und wenig originell, hat einfach nicht verstanden, dass der Film als Kunstform aus mehr besteht als aus dem Erzählen von Geschichten. Ja, eine simple Inhaltszusammenfassung würde wenig aufregend klingen, denn Jovanka Vuckovic konzentriert sich ganz auf die visuellen Ausdrucksformen, um mit ihrer Hilfe eine bestimmte Stimmung zu erschaffen. Und das ist ihr auf wirklich beeindruckende Weise gelungen. Die Totalansicht des Schlosses z.B. wird mich sicher noch wochenlang verfolgen.
In einem Interview mit Biff Bamp Pop hat Jovanka über die Entstehung des Filmes erzählt:
It was my first film so I wanted to make an art piece, something that relied on visual storytelling. That part was new to me. Writing was not. So I intentionally wrote it with no dialogue in an attempt to force me to tell the story without words. It was inspired loosely by a dream, or, paranormal experience my twin brother had [as] a child. These black, formless entities would come to him at night. One would hold him down and paralyze him while the other looked on. It’s an experience that happens cross-culturally and is linked with sleep paralysis; knowing that now didn’t make it any less terrifying for my brother back then. His description of those creatures stayed with me forever and eventually emerged in The Captured Bird. From literature, I was hugely inspired by Lovecraft’s “dream cycle” including The Statement of Randolph Carter, as it was based on one of Lovecraft’s dreams, and especially The Silver Key in which Carter uses the key to transport himself to his childhood and enter the Dreamland. A place where there is no fundamental distinction between dreams and reality. The little girl in my film encounters five unnamable, unknowable creatures in what is pretty much the Underworld of the Dreamlands, inside a house that is inspired by Kadath, the domain of the Great Ones. So it’s definitely “Lovecraftian!”   
Jovanka Vuckovic begann ihre Karriere in der Special Effects - Branche und machte sich anschließend als Chefredakteurin des Rue Morgue Magazine einen Namen in der Horror-Community. Dabei lernte sie neben vielen anderen Ikonen des Genrefilms auch Guillermo del Toro kennen, der einer der Koproduzenten ihres filmerischen Debuts werden sollte. Inzwischen hat sie zwei weitere Kurzfilme gedreht: Self Portrait (2012) und The Guest (2013). Keinen von beiden habe ich bisher sehen können, doch wenn ihre weitere Entwicklung hält, was ihr Debut verspricht, so hoffe ich inständig, dass wir in Zukunft noch sehr viel mehr von dieser Künstlerin zu sehen bekommen werden.

Mittwoch, 18. September 2013

El Hombre Lobo

Für eingefleischte Fans des europäischen Horrors ist Paul Naschy eine echte Legende. Und das aus gutem Grund: Der am 6. September 1934 unter dem Namen Jacinto Molina Álvarez in Madrid geborene Schauspieler hat in seiner Karriere so gut wie alle Monster und Bösewichter des klassischen Horrorfilms verkörpert: Graf Dracula und Frankensteins Ungeheuer, die Mumie, den Buckligen und Dr. Fu Manchu, vor allem aber den Werwolf. In dieser Vollständigkeit dürfte er damit einzig dastehen. Zu einer Ikone des Grauens hat ihn freilich vor allem die Rolle des polnischen Lykanthropen Waldemar Daninsky gemacht, den er in insgesamt zwölf Filmen verkörperte, weshalb er in seiner Heimat vor allem als "El Hombre Lobo", manchmal auch etwas unglücklich als "Spaniens Lon Chaney Jr.", bekannt ist.

Nun sind die Gefilde des iberischen Horrors für mich größtenteils Terra Incognita. Von ein paar Jess Franco - Flicks abgesehen, habe ich bisher noch keine nennenswerten Vorstöße in diese Region unternommen. {Obwohl seit einer halben Ewigkeit einige der spanischen "Spätwerke" von Boris Karloff in Form alter VHS-Kassetten bei mir rumliegen. Doch da hab ich mich bisher noch nicht rangetraut ...}. Paul Naschys Namen bin ich das erste Mal in der zweiten Episode von Hypnobobs Zombi Zombi - Serie begegnet, in der Mr. Jim Moon sich unter anderem mit Jose Luis Merinos The Hanging Woman (La Orgia de los Muertos) beschäftigt, in dem der gute Mann offenbar einen nekrophilen Totengräber spielt. Was Jim über die Karriere des Schauspielers zu sagen hatte, fand ich zwar faszinierend, doch eigenen Nachforschungen kam vorerst stets irgendetwas anderes in die Quere. Dann nahm sich vor einigen Tagen Christopher Brown in seinem Video Nasties Podcast den achten Waldemar Daninsky - Film The Werewolf and the Yeti (La Maldicion de la Bestia) vor, der {aus welchen Gründen auch immer} in den 80er Jahren auf der berüchtigten Liste der in Großbritannien verbotenen Filme landete. Und diesmal hatte ich das Gefühl, es wäre allmählich wirklich an der Zeit, mich einmal selbst auf die Spuren von "El Hombre Lobo" zu begeben.

Doch bevor ich meinem kleinen Expeditionsbericht abgebe, rasch noch ein paar Informationen über Naschys Leben.* Obwohl seine frühe Kindheit in die Zeit des Spanischen Bürgerkriegs fiel und er einen Gutteil seiner Jugend während der brutalsten Phase des Franco-Faschismus durchlebte, wuchs er alles in allem unter recht angenehmen Bedingungen auf. Die Familie des Fell- und Lederwarenhändlers Enrique Molina scheint relativ liberal und weltoffen gewesen zu sein, man pflegte Umgang mit Künstlern und Schriftstellern, und früh schon wurde der kleine Jacinto zu einem leidenschaftlichen Kinogänger. Den tiefsten Eindruck hinterließ dabei Lon Chaney Jrs. tragischer Werwolf aus Universals Frankenstein Meets the Wolf Man (1943).
Auf Drängen seiner Eltern begann er erst Agrikultur, dann Architektur zu studieren, doch seine wirkliche Liebe gehörte dem Sport und dem Film. Er begann eine erfolgreiche Karriere als Gewichtheber, die 1958 im Gewinn der spanischen Meisterschaft im Leichtgewicht gipfelte, und betätigte sich daneben als Designer für Schallplattencover, Comiczeichner und Verfasser von Pulp-Western. 1960 wirkte er als Statist in Nicholas Rays Bibelepos King of Kings mit und spielte außerdem einen mongolischen Anführer in Luis Lucias Abenteuerfilm El Principe Encanado. In den folgenden Jahren übernahm Jacinto nicht nur weiter Nebenrollen in Filmen, sondern arbeitete außerdem als Regie- und Produktions-Assistent sowie als Location Scout. Dabei begegnete er u.a. 1966 Boris Karloff auf dem Set von I Spy. 1967 erhielt er seine erste Hauptrolle in Enrique López Eguiluz' Krimi Agonizando en el Crimen.
Im selben Jahr schrieb er das Drehbuch für einen Werwolffilm. Allerdings fiel es nicht leicht, Interessenten für ein solches Projekt zu finden. In der spanischen Filmindustrie jener Zeit spielte das Horrorgenre praktisch keine Rolle, und die meisten Verantwortlichen bezweifelten, dass es ein Publikum für La Marca del Hombre Lobo geben könnte. Doch Jacinto gab nicht so schnell auf, und schließlich gelang es ihm tatsächlich, einen Geldgeber zu finden und Enrique López Eguiluz als Regisseur zu gewinnen. Die Idee, für die Hauptrolle des Waldemar Daninsky den legendären Lon Chaney Jr. zu verpflichten, musste man allerdings schon bald fallen lassen, da der inzwischen 62jährige Schauspieler aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Spanien reisen konnte. Einen Ersatz zu finden, war nicht einfach, und so übernahm Jacinto Molina Álvarez am Ende selbst den Part. Da der Streifen international vermarktet werden sollte, schien es angebracht, wenn sein "Star" einen entsprechend eingängigen Namen tragen würde. Und so war die Geburtsstunde von "El Hombre Lobo" zugleich die von "Paul Naschy".
La Marca del Hombre Lobo war erfolgreich genug, um in kürzester Zeit zur Produktion einer ganzen Reihe von "Sequels"** zu führen: Las Noches del Hombre Lobo {1968 in Paris gedreht, doch nie in die Kinos gelangt, gilt als verloren}; Los Monstruos del Terror {aka Dracula vs Frankenstein [1969]}; La Furia del Hombre Lobo {aka The Fury of the Wolf Man [1970]} und La Noche de Walpurgis {aka The Werewolf vs The Vampire Woman aka Nacht der Vampire [1970]}.

Letzterer Film gilt als Naschys bekanntestes und kommerziell erfolgreichstes Werk und wird oft als der eigentliche Startpunkt des spanischen Horrorbooms der 70er Jahre bezeichnet. Grund genug, denke ich, um La Noche de Walpurgis zur Stätte meiner ersten Begegnung mit "El Hombre Lobo" zu machen. {Dass der Flick auf Youtube zu finden ist, hat dabei natürlich auch eine Rolle gespielt ...}:

 
Der Film beginnt bizarrerweise mit einem toten Daninsky, an dem zwei Ärzte eine Autopsie vornehmen. Als sie die silbernen Gewehrkugeln aus seinem Herzen entfernen, kehrt das Leben freilich sehr schnell in den guten Waldemar zurück, und da draußen gerade der Vollmond scheint, dürfen wir alsbald "El Hombre Lobo" in blutiger Aktion erleben. Pech für die beiden Ärzte.Welche Funktion genau diese Szene eigentlich erfüllen soll, bleibt schleierhaft. Aber das gilt für so einige Szenen in  The Werewolf vs The Vampire Woman.
Die eigentliche Geschichte beginnt damit, dass die beiden Studentinnen Elvira (Gaby Fuchs) und Genevieve (Barbara Capell) sich in eine abgelegene Region Nordfrankreichs aufmachen, um dort nach dem Grab der berüchtigten mittelalterlichen Gräfin Wandesa Dárvula de Nadasdy zu suchen, die im Rufe stand, eine Hexe und Vampirin zu sein. Dort begegnen sie zufällig Waldemar Daninsky, der ihnen sofort anbietet, für die Dauer ihres Aufenthaltes in seinem abgelegenen Landhaus zu wohnen. Obwohl Elvira der melancholische Pole anfangs etwas unheimlich ist, und dessen offenbar geistesgestörte Schwester Elizabeth (Yelena Samarina) die Mädchen mit eindeutig mörderischen Absichten attackiert, nehmen die beiden das Angebot an. Und mit Waldemars Hilfe dauert es nicht lang, und sie haben auch die letzte Ruhestätte der satanischen Aristokratin gefunden. Dummerweise entfernt Genevieve das silberne Kruzifix, das in der Brust des mumifizierten Leichnams steckt, was erwartungsgemäß zur alsbaldigen Wiederauferstehung der vampirischen Wandesa (Patty Shepard) führt.
Ein Juwel des phantastischen Kinos ist The Werewolf vs The Vampire Woman ganz sicher nicht. Das Drehbuch wirkt reichlich unausgegoren. So erscheint z.B. die eigenartige Nebenhandlung um den perversen alten Sack Pierre völlig unnötig, die {unvermeidliche} Romanze zwischen Elvira und Waldemar gänzlich unglaubwürdig. Dass die Dialoge oft etwas holprig und gestelzt daherkommen, hilft auch nicht gerade, auch wenn dafür möglicherweise die englische Synchronisation verantwortlich zu machen ist. Und doch besitzt der Film auch seine starken Seiten. Sämtliche Vampirszenen zeichnen sich durch einen unwirklich-gespenstischen Lyrismus aus, der beweist, das hinter der Kamera ein Mann mit Talent und Stilgefühl stand.
Bei selbigem handelte es sich um den äußerst interessanten León Klimovsky, mit dem zusammen Naschy insgesamt acht Filme drehen sollte. Geboren 1906 in Buenos Aires gehörte er zu den Pionieren der Filmkunst in Argentinien, wenn auch weniger als eigenständiger Künstler, denn vielmehr als Förderer künstlerisch anspruchsvoller Kinoprogramme und Filmclubs. Mitte der 40er Jahre konnte er sein Regiedebut mit einer Adaption von Dostojewskijs Der Spieler feiern. In den 50ern siedelte er nach Spanien über. Und auch wenn sich sein Traum, ein allgemein anerkannter Filmemacher zu werden, nie erfüllen sollte, wurde er in der Folge doch zu einem vielbeschäftigten B-Movie-Regisseur, ohne dass seine leidenschaftliche Liebe zum Film als Kunstform deswegen je erloschen wäre.
Wenn ich gesagt habe, dass das Sehenswerte an La Noche de Walpurgis die Vampirszenen seien, bedeutet das im Umkehrschluss leider auch, dass mich "El Hombre Lobo" nicht wirklich beeindruckt hat. Ja, Naschy als tragischer Werwolf besitzt ein gewisses Charisma, aber auch nicht viel mehr. Auf gar keinen Fall kommt er in Sachen Ausstrahlung gegen Herzogin Wandesa oder die von ihr vampirifizierte Genevieve an. Glaubt man Wikipedia, so waren einige Leute damals schon bereit, die Krone der europäischen Horrorkönigin von Barbara Steele auf Patty Shepard zu übertragen. Das erscheint im Rückblick nicht ganz nachvollziehbar, aber es macht doch sehr deutlich, wer der wahre Star dieses Streifens ist.

Die 70er Jahre erlebten eine regelrechte Explosion des spanischen Horrorfilms, und Paul Naschy wurde dabei sein bekanntestes Gesicht.
Mir stellt sich dabei ganz spontan die Frage, ob es irgendeinen Zusammenhang zwischen den turbulenten gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im Spanien jener Jahre und dem Horrorboom gegeben hat. Seit Beginn der 60er Jahre befand sich das faschistische Regime in einem Zustand der Dauerkrise. 1962 wurden weite Teile des Landes von einer Welle militanter Streiks erfasst, und in der Folgezeit gelang es den illegalen Arbeiterkomitees (Comisiones Obreras, CC.OO) ihren Einfluss so weit auszubauen, dass ihre Mitglieder 1966 einen überwältigenden Erfolg bei den Wahlen innerhalb der staatlichen Gewerkschaften (Sindicatos) verzeichnen konnten. Auch wenn die stalinistische PCE, die die CC.OO dominierte, eine opportunistische und klar antirevolutionäre Linie vertrat***, war dies doch ein deutliches Zeichen für die wachsende Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse. Franco reagierte mit einer Mischung aus wirtschaftlichen Konzessionen und politischer Repression. Die Syndikatswahlen wurden annuliert, und 1969 verhängte die Regierung den Ausnahmezustand. Doch das Zerbröckeln der Diktatur war auf Dauer nicht aufzuhalten. In den frühen 70er Jahren unternahm die baskische Seperatistenbewegung ETA eine Reihe von Terrorattacken auf Vertreter des Regimes, die in der Ermordung von Premier Luis Carrero Blanco im Dezember 1973 gipfelten. Das Todesjahr des Diktators 1975 war geprägt von zahllosen Streiks und Studentenunruhen. Und auch wenn eine revolutionäre Abrechnung mit dem Regime und seinen Nutznießern durch die vereinten Anstrengungen von Bürgerlichen, "Reformfaschisten", Sozialdemokraten und Stalinisten verhindert werden konnte, starb zusammen mit dem Generalissimus auch die Diktatur.
Vor diesem Hintergrund finde ich es naheliegend, sich zu fragen, ob im spanischen Horror der späten 60er und frühen 70er Jahre irgendwelche Spuren der zunehmenden sozialen Spannungen zu finden sind, oder ob es sich bei ihm ausschließlich um Eskapismus handelte. Zumindest ein Beispiel für einen Genrefilm, der etwas von der gesellschaftlichen Realität der späten Francoära widerspiegelt, ist mir dank des guten Chris Brown bekannt: Eloy de la Iglesias The Cannibal Man (La Semana del asesino) aus dem Jahre 1972. Doch wie verhält es sich mit den thematisch eher konventionellen Streifen, denen Paul Naschy seine Berühmtheit verdankt? Natürlich erwarte ich keinen direkten politischen Kommentar in einem B-Movie mit Werwölfen, Vampiren oder mittelalterlichen Hexenmeistern. Was ich mir jedoch sehr wohl vorstellen könnte, wäre eine Art unterirdischer Vibe, in dem etwas von der angespannten Atmosphäre jener Zeit zum Ausdruck kommt.

Eine Antwort auf diese Frage kann ich natürlich nicht geben, da mir aus eigener Erfahrung ja bloß eine Handvoll iberischer Horrorflicks bekannt ist. Doch fände ich es wirklich spannend, sich diesem Teil des B-Movie- und Exploitation-Universums einmal von dieser Seite aus anzunähern. Für den Moment freilich habe ich erst einmal genug von "El Hombre Lobo" und seinen cineastischen Eskapaden, und lasse diesen Gedanken deshalb als eine Art Missionsauftrag für künftige Expeditionen hier stehen.  



* Vgl.: Paul Naschy - Von Monden und Monstren auf der Website des Geheimnisvollen Filmclubs Buio Omega.
** Der Begriff ist nicht ganz zutreffend, da die Hauptfigur zwar stets ein Werwolf mit dem Namen Waldemar Daninsky ist, die Streifen jedoch keine fortlaufende Geschichte erzählen, und die Umstände, unter denen der "Held" sich den Fluch der Lykanthropie zugezogen hat, von Film zu Film unterschiedlich ausfallen..
*** Vgl. den dritten Teil von Dave Hylands Artikel En Lucha's Andy Durgan: Historical distortions to justify political betrayal of Spanish workers.

Samstag, 14. September 2013

Strandgut der Woche

Freitag, 13. September 2013

Die Töpfer-Lady ist zurück

Nicht, dass Joanne K. Rowling je so richtig von der Bildfläche verschwunden wäre, sind in den letzten beiden Jahren mit The Casual Vacancy und The Cuckoo's Calling doch zwei Bücher von ihr erschienen. Doch nun wird sich die britische Schriftstellerin und Multimillionärin seit fünf Jahren erstmals wieder der Welt der Zauberer und Muggel zuwenden, der sie ihren Ruhm und Reichtum verdankt. 
Der Anstoß dazu kam allerdings von den Studiobossen bei Warner Bros. Zwei Jahre nachdem Harry Potter and the Deathly Hallows - Part 2 das Kinopublikum beglückt hat (?), hält man es dort anscheinend für an der Zeit, das Franchise noch ein bisschen weiter zu melken. Schließlich hat man allein für die Verfilmungsrechte an den ersten vier Bänden seinerzeit eine Millionen Dollar hingeblättert. Die Idee, Rowlings Fantastic Beasts and Where to Find Them in einen Film zu verwandeln, erscheint auf den ersten Blick freilich etwas bizarr. Schließlich erzählt das Buch meines Wissens nach keine Geschichte, sondern ist bloß eine Art Bestiarium. Aber hey, Filme sind schon auf sehr viel wackligerer Grundlage produziert worden. Im Grunde geht es ohnehin nur darum, irgendeine Verbindung zum Potterversum herzustellen. Warum also nicht den Titel von Fantastic Beasts nehmen und eine Story um den fiktiven Verfasser, Newt Scamander, erfinden? 
Doch an genau diesem Punkt meldete sich Mrs. Rowling zu Worte:
I thought it was a fun idea, but the idea of seeing Newt Scamander, the supposed author of ‘Fantastic Beasts,’ realized by another writer was difficult. Having lived for so long in my fictional universe, I feel very protective of it and I already knew a lot about Newt. As hard-core Harry Potter fans will know, I liked him so much that I even married his grandson, Rolf, to one of my favourite characters from the Harry Potter series, Luna Lovegood.
Und so wird sie höchstpersönlich das Drehbuch für den Film schreiben, der vermutlich bloß der Startpunkt für eine neue Serie werden soll.
 
Als jemandem, der nie vom Potter-Virus infiziert wurde und sich bis heute weder in literarischer noch in filmischer Form den gesamten Zyklus zu Gemüte geführt hat, könnte mir all das elegant am Allerwertesten vorbei gehen. Dennoch kann ich es mir nicht verkneifen, ein paar Anmerkungen dazu zu machen:
1) Joanne K. Rowling besitzt keinerlei Erfahrung als Drehbuchschreiberin. Was auch immer man über ihr Talent als Romanautorin denken mag, ein Script zu verfassen, ist einfach ganz etwas anderes. Warum beschränkt sich die gute Frau nicht auf die Rolle einer Beraterin mit Vetorecht -- ungefähr so, wie bei den Harry Potter - Filmen?
2) Welches Zielpublikum wird hier anvisiert? Der Potter-Hype ist schon seit einigen Jahren abgeklungen. Natürlich gibt es immer noch mehr als genug begeisterte Fans der alten Serie, aber deren große Mehrheit dürfte inzwischen über Zwanzig sein. Da Warner Bros. zuerst einmal dieses Zuschauerreservoir anzuzapfen versuchen wird, um darauf aufbauend ein größeres Publikum zu erreichen, wird sich Fantastic Beasts vermutlich eher "erwachsen" zu geben versuchen. Doch Harry Potter war in meinen Augen am Besten, solange die Serie noch etwas vom Charme einer eher altmodischen Kinderfantasy besaß. Weshalb ich mir wenig gutes von diesem "Sequel", "Sidequel", "was weiß ich" erwarrte.
3) Es gibt so viele gute Fantasybücher da draußen. Müssen wir denn unbedingt in die Welt des Töpferjungen zurückkehren, nur weil der uns beim letzten Mal einen so ordentlichen Profit beschert hat? Ja, ich weiß, Filme zu produzieren ist auch ein Geschäft, aber all die Lobredner des Kapitalismus behaupten doch so gerne, dass der Trieb zur Innovation eine der großen Tugenden der Marktwirtschaft sei ...

Montag, 9. September 2013

Kleiner Einblick in ein Hollywood-Hirn

Einen erstaunlichen Mangel an Professionalität an den Tag legend, hat sich Drehbuchschreiber und Produzent Roberto "Bob" Orci letzte Woche auf trekmovie.com dazu hinreißen lassen, Kritiker von Star Trek Into Darkness als "shitty fans" und "morons" zu beschimpfen. Nachzulesen sind seine Ausfälle in den Kommentaren zu Joseph Dickersons Artikel Star Trek is broken -- Here are ideas on how to fix it.
Durch einen Beitrag von Emily Asher-Perrin auf den Zwischenfall aufmerksam geworden, habe ich mir nicht die Mühe gemacht, die unzähligen Kommentare durchzulesen, in deren Mitte sich boborcis Ausfälle finden. Persönlich stehe ich allen Versuchen, Star Trek zu "reparieren", sehr skeptisch gegenüber. Auch muss ich zugeben, dass ich selbst so meine Probleme mit dem Fandom habe. Keins von beidem spielt jedoch eine Rolle, wenn es um Orcis Äußerungen geht. Denn diese interessieren mich weniger als Beiträge zu einer Diskussion über die Zukunft des Franchises. Was ich an ihnen faszinierend finde, ist vielmehr, dass sie uns einen kleinen Einblick in das Denken eines relativ einflussreichen Mitglieds der Filmindustrie eröffnen. Orci ist schließlich nicht irgendwer. Der Hollywood Reporter nahm ihn 2007 in seine Liste der "50 mächtigsten Latinos von Hollywood" auf (wenn auch bloß auf Platz 35). Ein Artikel im Forbes Magazine vom Mai 2011 feiert ihn und seinen Kumpel Alex Kurtzman als "Hollywood's Secret Weapons". Der Grund hierfür ist simpel: Die von ihnen geschriebenen bzw. produzierten Filme "have booked a total $3 billion at the box office in six years." Das Paar selbst habe in den letzten zwölf Monaten schätzungsweise 10 Mio. Dollars verdient. Braucht es noch weitere Argumente? Vor diesem Hintergrund halte ich es für naheliegend, in der aggressiven Arroganz, mit der Orci auf seine Kritiker reagiert, etwas symptomatischeres zu sehen, als bloß den Ausdruck einer unreifen Persönlichkeit.
Hören wir uns den guten Herrn mal im O-Ton an:
I think the article above is akin to a child acting out against his parents. Makes it tough for some to listen, but since I am a loving parent, I read these comments without anger or resentment, no matter how misguided.
Having said that, two biggest Star Treks in a row with best reviews is hardly a description of “broken.” And frankly, your tone and attidude make it hard for me to listen to what might otherwise be decent notions to pursue in the future. Sorry, Joseph. As I love to say, there is a reason why I get to write the movies, and you don’t. (310)
don’ take me too seriously. if you’ve been on this board for the lar 5 years (as I have beeb) you know that twice a year I explode at the morons. today, there seemed to be a congregation, so it seemed like a good time.you are the most listened to fans ever. That doesn’t mean you will get is to do what you want. just means what I said: I listened. Then we decided, having heard as many opinions as possible. To paraphrase of one of my great and beloved heroes, George W. Bush, “we’re the deciders…. (398)
Was für ein eingebildetes Arschloch! Doch fürchte ich, dass die Mentalität, welche Orcis herablassendem und selbstherrlichem Tonfall zugrundeliegt, in den Chefetagen der amerikanischen Filmindustrie heutzutage ziemlich weit verbreitet sein dürfte. Es ist die Mentalität des Blockbuster-Kinos, welches keineswegs – wie oft behauptet – "dem Publikum gibt, was das Publikum will", sondern dieses vielmehr als bloßen Konsumentenpöbel betrachtet, der zu fressen hat, was man ihm vorsetzt. Was natürlich nicht ausschließt, dass man Marktforschung betreibt ("I listened"). Durch geschickte Manipulationen möglichst viele "Zielgruppen" ("demographics") einzufangen, gehört vielmehr zur hohen Kunst des Blockbustertums.
Doch nicht nur die Zuschauerinnen & Zuschauer, auch der Film als Kunstform wird mit offener Verachtung behandelt. Natürlich hat Orci recht, wenn er schreibt: "[T]here is a reason why I get to write the movies, and you don’t." Bloß ist dieser Grund nichts, worauf man stolz sein sollte. Ein kurzer Blick in seine Filmographie zeigt, dass Oberflächlichkeit, Konformismus und Fantasielosigkeit die einzigen Merkmale sind, durch die sich seine Werke bis heute ausgezeichnet haben. Selbst wenn man gnädigerweise darüber hinwegsieht, dass er an Michael Bays Magnum Opus der cineastischen Scheiße Transformers 2 mitgewirkt hat, wofür er eigentlich ein paar Jahre in der Schamecke verdient hätte, findet sich da nichts, was es ihm erlauben würde, derart hochmütig aufzutreten: The Island (2005), The Legend of Zorro (2005), Mission Impossible III (2006), Transformers (2007), Watchmen (2009), Star Trek (2009), Cowboys & Aliens (2011), People Like Us (2012).
Nicht wenige der in Hollywood tätigen Künstler & Künstlerinnen geben zumindest hin und wieder zu verstehen, dass sie nicht damit zufrieden sind, bloß Blockbuster zu drehen oder in ihnen mitzuwirken. Orci scheint nicht zu dieser Kategorie zu gehören, obwohl er sich offenbar einbildet, dass der sentimentale Streifen People Like Us seine kleine Rebellion gegen die Studios darstelle. Doch selbst dann noch wirkt es auf den ersten Blick unverständlich, dass ein solches Oeuvre ausreichen soll, um ein derart aufgeblasenes Ego hervorzubringen. Auf den ersten Blick, denn dann fällt einem wieder der Forbes - Artikel ein ... "a total $3 billion at the box office in six years" ... Leute wie Orci glauben offenbar, dass kommerzieller Erfolg ("two biggest Star Treks in a row") der ultimative Maßstab für filmerische Qualität sei. In Anbetracht des aktuellen Zustands unserer Kultur und Gesellschaft kein Wunder, aus der Sicht eines echten Freundes der Filmkunst jedoch nichts weiter als ein Beweis für bodenlose Dummheit.

PS: Dass Orci in seinen Kommentaren mehrfach betont, Star Trek Into Darkness zeichne sich durch seine "social commentaries" aus, finde ich beinahe lustig. Welche Art sinnvoller gesellschaftlicher Kommentare können aus der Feder eines Mannes stammen, der George W. Bush – einen der größten Kriegsverbrecher unserer Zeit – als "one of my great and beloved heroes" bezeichnet? Der gute alte Gene Roddenberry würde im Grabe rotieren, wenn man ihn nicht im Weltraum beigesetzt hätte ...

Sonntag, 8. September 2013

Buon compleanno!

Gestern konnte der geniale Dario Argento, einer der unvergleichlichen Großmeister des italienischen Horrors der 70er und 80er Jahre, seinen dreiundsiebzigsten Geburtstag feiern. Ich würde wirklich gerne einmal etwas über ihn und seine Filme schreiben, traue mich bisher aber noch nicht so recht an das Werk eines Regisseurs heran, den ich so sehr verehre. 
Wie dem auch sei, auf jedenfall werde ich mir heute nacht wohl wieder einmal einige seiner Filme anschauen. Doch bevor ich mich in die leicht surrealen und poetischen Alptraumwelten Argentos aufmache, dachte ich mir, ich könnte zum gegebenen Anlass meiner geneigten Leserschaft wenigstens die Titelmelodien zu drei seiner Filme präsentieren, die allesamt von der phantastischen italienischen Prog Rock - Band Goblin geschaffen wurden. {Von der nebenbei bemerkt auch der Soundtrack zu Zombi: L'alba dei Morti Viventi, der von Argento bearbeiteten europäischen Fassung von George Romeros Dawn of the Dead stammte}:

Profondo rosso (1975)

Suspiria (1977)

Tenebrae (1982)


PS: Wer die gesamte Platte Profondo Rosso hören will {was ich nur empfehlen kann} findet sie hier.
PPS: Beth hat gestern eine Besprechung des Films Profondo Rosso auf ihrem Blog Magicalhorror  veröffentlicht.

Tempus fugit*

Oh Mann, ist es tatsächlich schon zwanzig Jahre her, dass die erste Folge von The X-Files über den Fernsehschirm flimmerte?!? Ich komme mir langsam alt vor ...


In den nächsten Wochen werden sich sowohl Hypnobobs als auch das Shonky Lab und der Black Dog Podcast Chris Carters Kreation widmen, deren erste Episode am 10. September 1993 ausgestrahlt wurde und die zu der am längsten laufenden SciFi-Serie der amerikanische TV-Geschichte werden sollte. Wer eine fundierte Besprechung oder informierte Diskussionen sucht, sollte zu gegebener Zeit bei Mr. Jim Moon, Pete & Elton oder Lee & Darren reinlauschen Bei mir wird er oder sie nichts dergleichen finden, denn meine Beziehung zu Akte X war nie besonders innig. Obwohl ich damals ziemlich eng mit einem richtigen X-Files-Fangirl befreundet war, hat mich die Serie nie wirklich in ihren Bann zu schlagen vermocht.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie nie von Anfang** bis Ende gesehen habe, auch wenn ich verschwommene Erinnerungen an die allerletzte Folge zu haben glaube. Die X-Files sind für mich vor allem Teil eines Goldenen Zeitalters der TV-Phantastik, das in der Realität zwar mehr als ein Jahrfünft umfasste, im Rückblick für mich jedoch zu einer Art Einheit zusammengeschmolzen ist. Jener Zeit, in der mir u.a. Babylon 5, DS9, Buffy und Farscape den Alltag versüßten. Ich nehme an, dass zu einem nicht unbeträchtlichen Teil Ereignisse in meinem persönlichen Leben – und weniger die einzelnen TV-Serien – für dieses Bild der Vergangenheit verantwortlich sind. Tatsache bleibt jedoch, dass von allen "großen" Serien dieser Zeit Akte X bei mir den am wenigsten bleibenden Eindruck hinterlassen hat.
Wenn ich versuche, aus den schattenhaften Gefilden der Erinnerung konkrete Gründe hierfür ans Tageslicht zu befördern, so klingt es für mich am wahrscheinlichsten, dass der "große Handlungsbogen" – der "Mytharc" – dafür verantwortlich war. Ich glaube nicht, dass mich die Verschwörungsstory um Ufos, Außerirdische und böse alte Männer in Nadelstreifenanzügen je wirklich zu faszinieren vermochte. Die Episoden, an welche sich bei mir eine relativ lebendige Erinnerung erhalten hat, wie Humbug (Der Zirkus), Our Town (Unsere kleine Stadt) oder Quagmire (Der See), gehörten ausnahmslos zu den Monster-of-theWeek - Folgen.
Doch vergessen wir nicht, dass zu jener Zeit die bloße Existenz eines übergeordneten Handlungsbogens in Fernsehserien noch eine große Seltenheit war. Die X-Files gehörten zu einer Art Übergangsepoche in der TV-Geschichte, in der das alte episodische Schema allmählich von einem neuen Konstruktionsprinzip abgelöst wurde. Und mit der möglichen Ausnahme von J. Michael Straczynskis Babylon 5 existierte bei keiner der phantastischen Serien jener Zeit ein von vornherein ausgearbeitetes Story-Konzept. So berechtigt es ist, Lost (2004-10) oder Battlestar Galactica (2004-09) vorzuwerfen, dass offenbar keiner der verantwortlichen Autoren zu Beginn wusste, wohin die Geschichte sich eigentlich entwickeln sollte, so unfair wäre es, dieselbe Anklage gegen Chris Carter vorzubringen. Andererseits zeigte ungefähr zur selben Zeit Deep Space 9 wie man dieses Problem wenn schon nicht ganz ohne kleinere Stolpereien, so doch jedenfalls auf sehr viel elegantere Weise lösen konnte. Und dass der "Mytharc" der X-Files mit den Jahren allmählich immer wirrer und unbefriedigender wurde, steht wohl außer Zweifel.

Jahre später, als alle unmittelbaren Eindrücke längst verblasst waren, gesellte sich noch ein weiteres Argument zu meiner privaten Kritik an den X-Files hinzu. Wenn ich mich recht entsinne, bin ich diesem das erste Mal in einem Vortrag begegnet, den Richard Dawkins 1996 in BBC1 gehalten hatte:
How do we account for the current paranormal vogue in the popular media? Perhaps it has something to do with the millennium - in which case it's depressing to realise that the millennium is still three years away. Less portentously, it may be an attempt to cash in on the success of The X-Files. This is fiction and therefore defensible as pure entertainment.
A fair defence, you might think. But soap operas, cop series and the like are justly criticised if, week after week, they ram home the same prejudice or bias. Each week The X-Files poses a mystery and offers two rival kinds of explanation, the rational theory and the paranormal theory. And, week after week, the rational explanation loses. But it is only fiction, a bit of fun, why get so hot under the collar?
Imagine a crime series in which, every week, there is a white suspect and a black suspect. And every week, lo and behold, the black one turns out to have done it. Unpardonable, of course. And my point is that you could not defend it by saying: "But it's only fiction, only entertainment".***
Nun gibt es so manches, was ich an Dawkins auszusetzen habe. Seinen Umgang mit dem Thema Religion halte ich im allgemeinen für ahistorisch und vulgärmaterialistisch, seine islamophoben Ausfälle für widerlich und reaktionär. Dennoch hat der britische Biologe immer mal wieder auch recht kluge Dinge zu sagen. Und in diesem Fall bin ich der Meinung, dass er einen wichtigen Punkt anspricht
Als erklärter Liebhaber des Phantastischen in allen seinen Erscheinungsformen habe ich prinzipiell natürlich nichts dagegen, wenn im Rahmen einer TV-Serie der Inhalt der Fortean Times als ebenso glaubwürdig dargestellt wird wie der des guten alten Brockhaus. Doch das Grundkonzept der X-Files war es nun einmal, in jeder Episode die Ansichten eines "Gläubigen" und die einer Skeptikerin gegeneinanderzustellen, nur um jedesmal den "Gläubigen" siegen zu lassen. Und auch wenn die Produzenten der Serie das ganze "Paranormale" {und auch den Charakter Mulder} nicht ohne Ironie anpackten, halte auch ich dieses Konzept für nicht ganz unproblematisch, wenn man bedenkt, dass es immer noch erschreckend viele Leute gibt, die fest an die Existenz von Engeln, Auren, mystischen Edelsteinkräften, Chi, Bigfoot, dem Roswell-UFO oder diversen Seemonstern glauben. Und es dürfte schwerfallen, den seinerzeitigen Erfolg der X-Files nicht wenigstens zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Serie alle möglichen Formen des zeitgenössischen Aberglaubens aufgriff und mit dem für Verschwörungstheoretiker so typischen populistischen, antiwissenschaftlichen und vage "Establishment"-kritischen Geist verband.**** Was das über den Zeitgeist der 90er Jahre aussagt, will ich jetzt nicht zu analysieren versuchen.

Aber auch wenn man einmal alle "ideologischen" Erwägungen beiseite lässt, musste dieses Konzept bald schon zu einem echten Problem werden. Woche für Woche wurde Scully mehr oder weniger eindrücklich vor Augen geführt, dass ihre "wissenschaftsgläubige" Sicht der Welt falsch ist, und doch dauerte es sehr lange, bis sie auch nur in Erwägung zu ziehen begann, dass Mulder vielleicht recht haben könnte. Das musste nicht nur ziemlich schnell unglaubwürdig wirken, sondern machte die als intelligente und kompetente Wissenschaftlerin eingeführte Scully außerdem zu einer bornierten "Fanatikerin", die nicht sehen will, was sich vor ihren eigenen Augen abspielt, weil sie andernfalls ihre Überzeugungen in Frage stellen müsste. Andererseits verlor die Serie ihren dramatischen Kern, sobald Scully von ihrem Skeptizismus abzurücken begann. Dasselbe Problem haben alle Serien, die auf einer starren, fest umrissenen Figurenkonstellation beruhen. Die Charaktere dürfen sich nicht wirklich entwickeln, und wenn sie es schließlich doch tun, verliert die Geschichte das, worin ursprünglich ihr Reiz bestand.

Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, war das neben dem wild wuchernden "Mytharc" ein weiterer Grund, warum mir die späteren Staffeln immer weniger zusagten. Eine "bekehrte" Scully fand ich einfach nicht mehr so ansprechend. Andererseits glaube ich, dass ich der Serie überhaupt nur wegen Gillian Anderson so lange die Treue hielt..
Zehn Jahre lang die Hauptdarstellerin in einer Kultserie zu sein, hat sicher seine angenehmen Seiten. Doch leider verbaut es einem oft wohl auch eine Menge künstlerischer Entwicklungsmöglichkeiten. Auf jedenfall hätte ich Gillian Anderson sehr gerne häufiger in anderen Filmen und anspruchsvolleren Rollen gesehen. Dass sie das Talent dazu besitzt, hat sie vor allem in Terence Davies' ausgezeichneter Adaption von Edith Whartons The House of Mirth aus dem Jahre 2000 bewiesen:*****  




* Warum soll ich mich nicht genauso prätentiös geben, wie der gute Chris Carter? (S04E17)
** Für Deutschland war das der 5. September 1994, als Pro7 die erste Folge von Akte X ausstrahlte.
*** Richard Dawkins: Science, Delusion and the Appetite for Wonder. (Richard Dimbley Lecture, BBC1, 12.11.1996.)
**** Vgl.: Erich Goode: Why Was The X-Files So Appealing? (Skeptical Inquirer, September/Oktober 2002)
***** Vgl. David Walshs Besprechung des Films.