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Samstag, 21. September 2013

J.R.R. Tolkien und das Erbe der Englischen Romantik (3)

{Der dritte Teil meiner Ausführungen über den romantischen Antikapitalismus fällt etwas sehr kurz aus, aber es war mir wichtig, meiner Leserschaft und mir selbst zu beweisen, dass dieses Projekt nicht im Sande verlaufen soll.}



Es gibt unzählige Interpretationen von Robert Brownings berühmtem Gedicht Childe Roland to the Dark Tower Came. (1) Für mich sind diese faszinierenden und unheimlichen, 1855 geschriebenen Verse vor allem ein Ausdruck des Scheiterns der romantischen Revolte.
Wieder einmal hatte sich die Macht der Poesie als zu schwach erwiesen, um im Alleingang die finstere Festung der existierenden gesellschaftlichen Ordnung zu schleifen. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte vielmehr einem ungebremsten Triumphzug des industriellen Kapitalismus geglichen. Und als sich um die Jahrhundertmitte eine neue Generation von Künstlern und Künstlerinnen anschickte, noch einmal gegen die Realität des bürgerlichen England aufzubegehren, waren die Spuren dieser Niederlage deutlich auszumachen. Ihre Bewegung war weniger von kämpferischer Leidenschaft als vielmehr von einer verträumten, mitunter verzweifelten Melancholie beseelt.

1848 – das Jahr der europäischen Revolution. Barrikaden in Paris, Wien, Berlin, Prag, Neapel, Rom. Aufstand in Ungarn. Die Ordnung der Restauration, der Heiligen Allianz scheint in sich zusammenzubrechen wie ein Kartenhaus. In Frankreich wird die Republik ausgerufen. In der Paulskirche tagt die deutsche Nationalversammlung. Nur in England bleibt es vergleichsweise ruhig. Der von den Chartisten vorbereitete Aufstand wird niedergeschlagen, bevor es überhaupt zu offenen Massenkämpfen gekommen ist. Seine Anführer landen im Gefängnis oder werden nach Australien deportiert.
Im selben Jahr gründeten sieben junge Männer in London die Präraffaelitische Bruderschaft. Die bedeutendsten von ihnen waren der Dichter und Maler Dante Gabriel Rossetti sowie die Maler Everett Millais und William Holman Hunt. Zum engeren Kreis gehörten außerdem die Dichterin Christina Rossetti – Dante Gabriels Schwester – und der etwas ältere Maler Ford Madox Brown. Nachdem die von ihnen 1849 und 50 ausgestellten Gemälde einen Sturm der Entrüstung in offiziellen Kritikerzirkeln ausgelöst hatten, trat John Ruskin zu ihrer Verteidigung an "and adopted a position of qualified patronage." (2)
In ihrer ursprünglichen Gestalt war der Gruppe freilich nur ein kurzes Leben beschieden. Die von ihr herausgegebene Zeitschrift The Germ: Thoughts towards Nature in Poetry, Literature and Art gelangte nicht über die ersten vier Ausgaben hinaus, und bereits 1853 befand sich die "Bruderschaft" in offener Auflösung, was Christina Rossetti mit folgenden spöttischen Versen kommentierte:
The P.R.B.

1

The two Rossettis (brothers they)
And Holman Hunt and John Millais,
With Stephens chivalrous and bland,
And Woolner in a distant land --
In these six men I awstruck see
Embodied the  great P.R.B.
D.G. Rossetti offered two
Good pictures to the public view;
Unnumbered ones great Millais,
And Holman more than I can say,

William Rossetti, calm and solmn,
Cuts up his brethren by the column.

2

The P.R.B. is in its decadence:
For Woolner in Australia cooks his chops,
And Hunt is yearning for the land of Cheops;
D.G. Rossetti shuns the vulgar optics;
While William M. Rossetti merely lops
His B's in English disesteemed as Coptic;
Calm Stephens in the twilight smokes his pipe,
But long the dawning of his public day;

And he at last the champion great Millais,
Attaining academic opulence,
Winds up his signature with A.R.A.
So rivers merge in the perpetual sea;
So luscious fruit must fall when overripe;
And so the consummated P.R.B. (3)
Man könnte in diesem frühen Auseinanderfallen der Bewegung ein Indiz für ihre innere Schwäche sehen. Ganz falsch würde man damit vermutluch auch nicht liegen.

Die Rebellion der Präraffaeliten richtete sich in erster Linie gegen die "akademische" Kunst ihrer Zeit. Derartige Revolten der Jungen gegen die Alten, der Avantgarde gegen die Akademie erleben wir spätestens seit der Romantik in regelmäßigen Abständen in der europäischen – später dann in der internationalen – Kunst- und Literaturwelt. Und jede dieser ästhetischen Emeuten endet für gewöhnlich damit, dass die Rebellen früher oder später selbst ins künstlerische Establishment aufgenommen werden.
So gesehen sind sie zuerst einmal Ausdruck des Bemühens einer neuen Generation, sich einen Platz in der immer stärker von den Kräften des Marktes dominierten Kunstwelt zu erkämpfen. Wie es Leo Trotzki in seinem Essay über den russischen Futurismus beschrieben hat:
Die Schicht der Intelligenzler ist äußerst heterogen. Jede anerkannte Schule ist zugleich eine gutbezahlte Schule, an deren Spitze Mandarine mit vielen Ehrenknöpfchen stehen. Die Kunstmandarine bringen die Manier ihrer Schule in der Regel bis zum höchsten Raffinement, verschießen aber zugleich ihren gesamten Pulvervorrat. Dann bringt irgendeine objektive Veränderung, eine politische Erschütterung oder ein kleiner gesellschaftlicher Zugwind die literarische Bohème auf die Beine, die Jugend, diese Genies im wehrpflichtigen Alter, die ihre Verwünschungen der satten und abgeschmackten bürgerlichen Kultur gewöhnlich mit dem heimlichen Wunsch nach einigen, möglichst vergoldeten Knöpfchen verbinden. (4) 
Doch zugleich findet sich in den meisten dieser Revolten auch ein Element des ehrlichen Abscheus vor den unmenschlichen gesellschaftlichen, psychologischen, moralischen und "ästhetischen" Verhältnissen, von denen sich die Künstlerinnen & Künstler umgeben sehen. Wie bewusst dies geschieht, ist von Fall zu Fall sehr unterschiedlich, aber letztlich enthält jede echte Kunst ein Element des Protestes. Was keineswegs bedeuten soll, dass sie stets einen offen "sozialkritischen" oder "politischen" Charakter tragen müsste. Die Formen, die dieser Protest annimmt, sind vielmehr von einer Vielzahl individueller, kultureller und historischer Faktoren abhängig. Unter bestimmten Umständen kann sie sogar in der Gestalt des radikalen Gegensatzes zu einer "sozial verantwortlichen" Kunst auftreten – als "l'art pour l'art". Nur der oberflächliche Betrachter wird in dieser "Kunst um der Kunst willen" automatisch eine dekadente Weltflucht sehen. Es steckt viel Wahres in Oscar Wildes Worten:
Jener Appell an die Kunst, sich mehr dem modernen Fortschritt und der modernen Zivilisation anzupassen und sich zum Sprachrohr für die Stimme der Menschheit zu machen, jener Appell an die Kunst, "eine missionarische Aufgabe" zu erfüllen, ist ein Appell, der sich an das Publikum richten sollte. Eine Kunst, welche die Bedingungen der Schönheit erfüllt, hat alle Bedingungen erfüllt: es ist die Aufgabe des Kritikers, die Menschen zu lehren, wie sie in der Stille solcher Kunst den höchsten Ausdruck ihrer eigenen stürmischen Leidenschaft finden können.  (5)
Nicht zufällig äußerte Wilde diesen Gedanken in einem Vortrag, der den Präraffaeliten und ihrer Bedeutung für die englische Kunst gewidmet war.

Für eine ausführliche Charakterisierung und Würdigung des Präraffaelitismus fehlt mir momentan die Zeit und Muße {was die Malerei betrifft, auch das nötige Wissen}, zumal man dazu erst einmal etwas genauer auf John Keats und sein Prinzip der Schönheit eingehen müsste. Ein faszinierendes Thema, mit dem ich mich vielleicht ein andermal etwas genauer beschäftigen werde. Für den Moment soll es genügen, festzuhalten, dass die Kunst der Präraffaeliten in klarer Abgrenzung von der gesellschaftlichen Realität ihrer Zeit entstand. Der Hässlichkeit und dem Schmutz der britischen Industriestädte, der satten Selbstzufriedenheit, dem platten Utilitarismus und der nackten Profitgier der viktorianischen Bourgeoisie stellten die jungen Künstler elegische Traumwelten und von allegorischen Bezügen durchtränkte religiöse Szenerien entgegen. In gewisser Weise setzten sie damit die romantische Revolte fort, doch fehlte ihnen im Großen und Ganzen der leidenschaftliche Kampfgeist ihrer Vorgänger. Nicht dass es ihnen an Ernsthaftigkeit gemangelt hätte. Dante Gabriel Rossetti etwa empfand nichts als Verachtung für das bürgerliche Publikum. Was ihnen fehlte war der Glaube an den Sieg. Die Sehnsucht nach einer schöneren, edleren und menschlicheren Existenz war – zumindest bei den besten von ihnen – tiefempfunden und ehrlich. Aber da sie in der Realität ihrer Zeit keinen Ansatz zu ihrer Verwirklichung finden konnten, richteten sie ihr Verlangen mehr und mehr auf eine unwirkliche Traumwelt, in die sie sich vor der unerträglichen Hässlichkeit und Banalität der Gegenwart zurückziehen konnten. Diese Empfindung hat selten einen so schönen Ausdruck gefunden wie in Christina Rossettis Gedicht Dream-Land:
Where sunless rivers weep
Their waves into the deep,
She sleeps a charmèd sleep:
  Awake her not.
Led by a single star,
She came from very far
To seek where shadows are
  Her pleasant lot.

She left the rosy morn,
She left the fields of corn,
For twilight cold and lorn
  And water springs.
Through sleep, as through a veil,
She sees the sky look pale,
And hears the nightingale
  That sadly sings.

Rest, rest, a perfect rest
Shed over brow and breast;
Her face is toward the west,
  The purple land.
She cannot see the grain
Ripening on hill and plain;
She cannot feel the rain
  Upon her hand.

Rest, rest, forevermore
Upon a mossy shore;
Rest, rest at the heart's core
  Till time shall cease:
Sleep that no pain shall wake,
Night that no morn shall break,
Till joy shall overtake
  Her perfect peace.
(6)
Thomas Dixon, ein Arbeiter aus Sunderland, erfasste den Geist des Präraffaelitismus sehr gut, als er über The Germ sagte:
Why is it these pictures and essays being so realistic, yet produce on the mind such a vague and dreamy sensation, approaching as it were the Mystic Land of a Bygone Age? ... There is in them the life which I long for, and which to me never seems realizable in this life. (7)  
Es wäre falsch, wollte man für diese Neigung zu einer melancholisch-verträumten Weltflucht in erster Linie die individuellen Künstler und Künstlerinnen verantwortlich machen. Aus sich selbst heraus kann eine Bohème-Revolte nicht die Kraft schöpfen, um für längere Zeit einen ernsthaften Kampf gegen die herrschende Ordnung zu führen. Die Chance dazu eröffnet sich ihr nur, wenn sie sich an mächtigere gesellschaftliche Bewegungen anlehnen kann, die sich gleichfalls im Aufstand gegen die herrschenden Verhältnisse befinden. Doch für die Präraffaeliten gab es diese Möglichkeit nicht. Zwar fiel die Gründung ihrer "Bruderschaft" in ein Jahr der Revolution – wenn schon nicht in England, so doch auf dem Kontinent –, aber es dauerte nicht lang, und allenthalben konnte die Reaktion erneut triumphierend ihr Haupt erheben. In Großbritannien selbst folgte auf den Zusammenbruch des Chartismus eine lange Phase des wirtschaftlichen Wachstums und "sozialen Friedens". Erst gegen Ende der 1880er Jahre sollte der bürgerlichen Ordnung mit den sog. "Neuen Gewerkschaften" erneut ein ernstzunehmender Gegner erwachsen.

Und so ist es letzlich kein Wunder, dass die Präraffaeliten am Ende das Schicksal so vieler anderer Rebellen der Kunst teilen mussten: Sie wurden zu Lieblingen der von ihnen verhassten Spießbürger, und was als Revolte begann endete als Modeströmung.

Doch bevor bürgerliche "Mäzene" wie der steinreiche Börsenspekulant Thomas Plint begannen, Künstlern wie Rossetti oder Ford Madox Brown vorzuschreiben, was sie zu malen hatten, wenn sie ihre Bilder verkaufen wollten, erlebte der Präraffaelitismus 1856/57 noch einmal eine Art zweiten Frühling, als sich Algernon Charles Swinburne, William Morris und Edward Burne-Jones der Bewegung anschlossen.

Fortsetzung folgt ...


(1) Vgl.: Selections from the Poems and Plays of Robert Browning. S.  189.
(2) E. P. Thompson: William Morris. Romantic to Revolutionary. S. 42.
(3) In: Gisela Hönnighausen (Hg.): Die Präraffaeliten. Dichtung, Malerei, Ästhetik, Rezeption. S. 299f. 
(4) Leo Trotzki: Die zeitgenössische Literatur. IV: Der Futurismus. In: Ders.: Literatur und Revolution. S. 108. 
(5) Oscar Wilde: Die englische Renaissance der Kunst. In: Hönnighausen: Die Präraffaeliten. S. 125. 
(6) Christina Rossetti: Poems. S. 24f.
(7) Zit. nach: E. P. Thompson: William Morris. Romantic to Revolutionary. S. 57.

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