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Samstag, 30. Oktober 2021

Strandgut

Mittwoch, 27. Oktober 2021

M. John Harrisons Viriconium - Zyklus

Teil 5: In Viriconium

 
 
Zu Beginn der 80er Jahre hatte sich M. John Harrison endgültig von der New Wave und dem Einfluss Michael Moorcocks gelöst. Zugleich begann er allmählich die schöpferische Krise zu überwinden, in der er sich seit einigen Jahren befand. Er unterzog sein bisheriges Werk einer harschen Selbstkritik und setzte im Grunde noch einmal völlig neu an. Später würde er Running Down (1975) und The Incalling (1978) als die ersten Schritte auf diesem Weg betrachten, doch der eigentliche Wendepunkt kam mit der Kurzgeschichte The Ice Monkey, die 1980 in der von Ramsey Campbell herausgegebenen Anthologie New Terrors 2 erschien. Wie er in einem Interview mit David Mathew einmal gesagt hat: "At the end of the 70s I believed I'd wasted ten years. I went back to the beginning and started out again, in the direction suggested by 'The Ice Monkey'." Ungefähr zur selben Zeit lernte er das Werk von Katherine Mansfield kennen, das ihn zutiefst begeisterte und dauerhaft beeinflusste:

Mansfield went all the way underground in the text. She called it "muted direction." She wouldn't say, "Look here, this is the evil character; look here, this is the good character; look here at what the evil character does to the good character, isn't that so evil? And look how good the good character has been about it!" Katherine just seemed to show you people doing their stuff. If, as the reader, you drew moral conclusions about them, if you drew conclusions of any sort, they were yours. Of course she was cheating. She wasn't absent from the text. She had gone underground and you were hearing her voice speaking from every part of the fiction, even the furniture in the central character's front room. Of course, she got pilloried for being "amoral" and "cold." That was to miss the point -- the reason you were horrified was she had done her work right!

Auch in stilistischer Hinsicht wurde Mansfield zu einem seiner großen Vorbilder:

She was also an epiphanic minimalist, using a massively technical approach to get her effects in as few words as possible. Finally, for me, she demonstrated how the surface of a story is all the writer has to work with to make the rest. Her prose seems to skate lightly over the surface of the events she is presenting, but that is an illusion, of course: *because the surface is actually creating the events*. It is an illusion only a real master can manage. She was a genius.

Der dritte Viriconium - Roman, der 1982 bei Gollancz erschien, war das erste längere Werk, in dem er diese Lehren in die eigene Praxis umzusetzen versuchte. Zugleich kam es zu einem merklichen Bruch mit der Art, in der der Zyklus sich bislang mit den Traditionen der Fantasyliteratur auseinandergesetzt hatte. Harrison hatte kein Verlangen mehr danach "to perform myself as a literary tantrum [....] I was sick of being a polemicist". Der Wunsch, die Fans konventioneller Fantasy zu provozieren und zu "trollen", erschien ihm zunehmend unreif und wenig produktiv: "Writing against a genre traps you in that genre as efficiently as accepting it." Er suchte einen neuen, persönlicheren und tiefergehenderen Ansatzpunkt für seine Auseinandersetzung mit Eskapismus und Phantastik:

I was going back to basics and trying [...] to discover what my own subject matter might be, what my heart wanted to write about. It turned out to be desire, in the broadest sense, and the relationship between desire and the elements of fantasy-life both individual and cultural.
Einerseits ist In Viriconium zwar schon eine konsequente Fortsetzung dessen, was Harrison in den ersten beiden Romanen getan hatte. Weiterhin untergräbt er die "Sicherheiten", die die konventionelle Fantasy ihren Leser*innen bietet. Doch während The Pastel City und A Storm of Wings sich trotz allem immer noch an einigen formalen Konventionen der Fantasy orientiert hatten, werden diese nun endgültig abgestreift. Dies gilt insbesondere für die Erzählstruktur der "Heldenreise". Harrison war zu der Überzeugung gelangt, dass es nicht ausreichte, diese mit einem neuen Inhalt zu füllen (wie es etwa Moorcock in seiner Elric - Saga getan hatte). Die Strukturen selbst waren das Problem:
They’re seen as a kind of neutral container. Into that, each generation pours its preferred imagery and attitudes, under the impression that it’s telling a whole new kind of story. But the underlying structures, flying their rags of ideology and the fruitful organisation of experience, are the story, with its “struggles” and “conclusion,” its “agency,” its losses and gains. What gets healed, every time, by the hero-journey, is the understructure itself, Story Home. Thank god, they cry. The story’s told, and Story Home is safe again.
Man muss sich Harrisons radikaler Ablehnung dieser Strukturen natürlich nicht unbedingt anschließen. In den frühen 2000ern kam es im Rahmen der New Weird* zu einer (freundschaftlichen) Auseinandersetzung über diese Frage zwischen ihm und China Miéville: "
China still had some degree of faith in that kind of fiction, though he was performing quite a swerve against it. We could agree to disagree on whether that was the right approach". Doch für Harrison wurde "the refusal of closure" spätestens ab den frühen 80ern zu einem zentralen Element seiner literarischen Arbeit. Zum einen war dies Teil seines Bestrebens, der Realität des menschlichen Lebens in seinen Erzählungen näher zu kommen als bisher "contributory to a way of constructing stories the Campbellian model won’t permit – indeed, won’t even allow you to *define* as stories – even though they’re happening all round you every day, and everyone’s lives are made up of them." Zum anderen sah er darin aber auch einen politischen Akt. Denn Erzählstrukturen wie der Monomythos sind für Harrison aufs engste verknüpft mit einer Ideologie des Ausweichens vor der Wirklichkeit, die in seinen Augen von zentraler Bedeutung für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status Quo ist:  
In fact, various evasions, various kinds of fantasy, seem to me to be a kind of bad politics in themselves, the default politics of the day, through which we maintain our Western illusions of freedom and choice.
Auch inhaltlich ist der Bruch gegenüber den ersten beiden Romanen sehr deutlich. In Viriconium hat nun wirklich gar nichts mehr mit Heroic Fantasy zu tun. Weshalb ich diesen fünften Beitrag über den Zyklus auch nicht länger unter dem Banner von "Let Me Tell You Of The Days of High Adventure" veröffentliche. Schwerter werden hier nur noch als aristokratische Statussymbole durch die Gegend getragen. Es gibt keine menschheitsbedrohenden Gefahren mehr, die bekämpft, keine Schlachten, die geschlagen werden müssten. Der Protagonist ist kein melancholischer Meisterfechter oder verbitterter Auftragskiller, sondern ein Porträtmaler.
 
Eine mysteriöse Seuche breitet sich in der Low City von Viriconium aus. Mehr und mehr Stadtteile werden unter Quarantäne gestellt. Betroffen davon ist auch die Rue Serpolet, in der sich Atelier und Wohnung der Malerin Audsley King befinden. Ashlyme, ein in den reichen und "kultivierten" Kreisen der High City angesehener Porträtmaler, hat es sich in den Kopf gesetzt, die kränkelnde Künstlerin aus der Gefahrenzone zu holen. Aber diese lässt sich nicht dazu bewegen, ihr Domizil zu verlassen. Also beginnt Ashlyme Pläne für eine "Entführung" zu schmieden, wobei er auf die Unterstützung seines Freundes Emmet Buffo rechnet, eines weltfremden Astronomen. Doch seine wiederholten illegalen Ausflüge in die Low City verstricken ihn schon bald auch in die undurchsichtigen Machenschaften des Grand Cairo. Der Zwerg steht an der Spitze der kafkaesk anmutenden Quarantäne-Polizei, befindet sich zugleich aber auch in einer Fehde mit den Barley Brothers, zwei grotesken Gestalten, die in der Gosse von Viriconium leben, doch von manchen für Götter gehalten werden, und deren wüste Eskapaden ein beliebter Gesprächsstoff in den vornehmen Salons der High City sind. Überraschenderweise bietet der Grand Cairo seine Hilfe bei der "Entführungsaktion" an. Dennoch endet diese in einem recht peinlichen (und auch blutigen) Debakel. Womit der Roman aber noch lange nicht zu seinem Abschluss gekommen ist.

Schon in A Storm of Wings spielten die Wahrsagerin Fat Mam Etteilla und ihre Tarokarten (die nicht der gängigen Großen Arcana entsprechen) eine gewisse Rolle. Zu Anfang prophezeite sie Galen Hornwrack sein Schicksal und warnte ihn: "Fear death from the air and avoid the North". Am Ende des Romans war sie tot. Nun ist sie zurück, leistet Audsley King Gesellschaft und geht schließlich eine merkwürdige Beziehung mit dem Grand Cairo ein. Fünf ihrer Karten geben die Titel für die einzelnen Kapitel ab, wobei jeweils eine kurze (an Ashlyme gerichtete?) Auslegung beigefügt ist. Dem ersten Kapitel ist außerdem ein Zitat aus The Greater Trumps, Charles Williams' "mystischem Thriller" um die Macht des Tarot, vorangestellt: "There is correspondence everywhere; but some correspondences are clearer than others".**
 
Wenn es tatsächlich innere Bezüge zwischen den Karten und der Handlung geben sollte, muss ich zugeben, dass mir diese weitgehend entgangen sind. Von einigen offensichtlicheren zu Beginn des Romans einmal abgesehen.  Doch die bloße Anwesenheit von Fat Mam Ettailla ist ein erstes Beispiel dafür, dass die Welt des Viriconium - Zyklus endgültig in jenen "Quantenzustand" übergegangen ist, den M. John Harrison in einem Gespräch mit Cheryl Morgan einmal so charakterisiert hat:
[T]here's no fixed and dependable Viriconium. City and citizen have a possible presence, that's all. It's a quantum thing. The Viriconium characters may occupy similar niches in subsequent stories, but they aren't the same people. There is a kind of Viriconian space, in which you may expect certain types of Viriconian things to happen: but that's all. The whole idea was to un-anchor the reader from the things a fantasy reader can normally rely on. (I was also saying, "Here's the kit, make your own fantasy, just don't blame it on me." I wasn't prepared to take the standard position in which the author constructs the fantasy for the reader, thus becoming the infallible parental figure behind the text.)
Es macht darum auch keinen Sinn, sich zu fragen, ob In Viriconium vor oder nach A Storm of Wings spielt. Beide sind zwar im selben Universum angesiedelt, aber dieses Universum ist nicht länger in sich konsistent und besitzt keine auf Ursache und Wirkung basierende Chronologie. Alles wird fließend. Fat Mam Ettailla ist dieselbe Person und doch eine andere. Es gibt zahlreiche motivische Verbindungen zwischen den beiden Romanen (und den späteren Geschichten des Zyklus), aber aus diesen lässt sich nicht das in sich schlüssige Bild einer Welt aufbauen. Schauen wir uns ein paar Beispiele dafür an:
 
  • Dass sich Emmet Buffos heruntergekommenes Observatorium auf der Anhöhe von Alves befindet, versteht sich beinah von selbst. Doch darüberhinaus erinnert der zerstreut-exzentrische Astronom, der schon seit Ewigkeiten erfolglos auf finanzielle Unterstützung durch die High City wartet, auch ein wenig an den tragischen St. Elmo Buffin, der ja auch recht gerne mit Fernrohren herumhantierte.
  • Richtig seltsam wird es, wenn Buffo Ashlyme zu einem alten Krämer hinter der Kirche  "Our Lady of the Zincsmiths" schleppt, um dort Verkleidungen zu besorgen, die sie unbedingt für ihre "Entführungsaktion" bräuchten. Das Aussehen des alten Mannes ("The skin was stretched over his long skull like yellow paper") erinnert auffällig an Cellur the Birdmaker. Und tatsächlich ist er im Besitz einer metallenen Vogelfeder, die er irgendwo in den verlassenen Pastel Towers gefunden hat, und von der er glaubt, sie sei das Relikt einer ganzen Rasse metallener Vögel, die einst in Viriconium gelebt hätten. Zum Schluss lässt er auch noch die Bemerkung fallen: "This will surprise you. I don't know how old I am."
  • Als sich die "kultivierten Kreise" der High City auf der "Terrace of the Fallen Leaves" über dem "Pleasure Canal" "in audacious proximity to the plague zone"   versammeln, um den goldenen Herbst bei einer Tasse Tee zu genießen, heißt es von den schwerttragenden Aristos, dass sie "meat-coloured cloaks" tragen, "copied carefully from those fashionable among the Low City mohocks two or three centuries before". Das heißt, Galen Hornwracks Kostümierung ist bei den reichen Snobs in Mode gekommen! In derselben Szene findet sich ein wörtliches Zitat aus A Storm of Wings, das sogar mit Anführungszeichen als solches markiert ist: "the women drank tea out of porcelain 'lucid as a baby's ear'".    
  • Der Grand Cairo erzählt Ashlyme bei ihrer ersten Begegnung, dass er zusammen mit den Barley Brothers lange Zeit "im Norden" gelebt hätte, wo es "insects as big as horses" gäbe. Etwas später erhält der Porträtmaler von ihm ein Messer mit einem "curious flaw halfway up the blade", von dem der Zwerg sagt: "I got that knife on Fenlen Island in the North". Die Klinge erinnert an Galen Hornwracks Waffe und auf Fenlen befand sich ja die Stadt der Insekten.
  • Noch deutlicher wird es, wenn Ashlyme in seinem Tagebuch die "Privatmythologie" beschreibt, die sich der Grand Cairo um die Barley Brothers geschaffen habe: "The Barley brothers, he claims, are all that remains of a race of magicians or demiurges driven out of Viriconium hundreds or thousands of years ago in a war with 'giant beetles'. Finding themselves exiled in the inhospitable sumps and deserts in the north, these creatures first built cities of stone cubes 'with gaps between them through which the wind rumbles,' then set about projecting themselves backwards in time to a remoter, happier period of the world. By now most them have achieved this aim, and their cities are derelict, inhabited only by mirages, simulacra, or ordinary human beings trying to mimic their culture." Das klingt so, als könnten die Brüder die letzten der Reborn Men sein. Und tatsächlich erscheinen sie während ihrer Epiphanie am Ende des Romans in "horned and lobed scarlet armour", die an Alstath Fulthor erinnert.   

Doch gerade das Beispiel der Barley Brothers zeigt meiner Meinung nach sehr deutlich, dass es wenig Sinn macht, diesen motivischen Verbindungen gar zu viel Bedeutung beizumessen. Bei ihrem ersten Auftritt fragt der Erzähler: "How are we to explain them?" Und im Grunde bleiben die "twin princes of the city" bis zum Ende enigmatische Figuren. Auf den ersten Blick sind Gog und Matey einfach zwei Punks, die saufend und gröhlend durch die Gassen der Low City tollen, Passanten belästigen oder sich miteinander prügeln. Doch es ist klar, dass sich mehr hinter ihrem vulgären Äußeren und ihren scheinbar sinnlosen Eskapaden verbirgt. Sie sind groteske, zugleich aber auch irgendwie leicht bedrohliche Gestalten. Wir erfahren nie genaueres über ihre Fehde mit dem Grand Cairo, aber sie ist ein wichtiger Teil der allgemeinen Atmosphäre von Paranoia und gesellschaftlichem Verfall, die über der Erzählung liegt. Ein klein wenig erinnern sie tatsächlich an die Reborn Woman Fay Glass aus A Storm of Wings, insofern man manchmal den Eindruck gewinnen kann, als seien sie aus dem England der 70er Jahre in die Welt von Viriconium gestolpert. Bei ihrer ersten Begegnung mit Ashlyme singen sie:

We are the Barley brothers.
Ousted out of Birmingham and Wolverhampton,
Lords of the Left Hand Brain,
The shadows of odd doings follow us through the night          
Als einzige Figuren innerhalb des Zyklus sprechen sie mit einem Cockney-Akzent.
 
So wie ich es sehe, verkörpert das Brüderpaar u.a. die gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit, vor deren Hintergrund das eigentliche Hauptthema des Romans behandelt wird: Kunst und Gesellschaft, Aufbegehren und Opportunismus.
 
Ashlyme ist berühmt für seine nicht unbedingt schmeichelhaften Porträts: "[I]t had once be said [of him] that he 'first put his sitter's soul in the killing bottle, then pinned it out on the canvas for everyone to look at like a broken moth'" Manche seiner "Klienten" sind davon zwar wenig begeistert, doch im allgemeinen ist es genau das, was seinen Ruf begründet und ihn zu einem angesehenen und begehrten Maler in den reichen Zirkeln macht. An zahlender Kundschaft fehlt es ihm nicht. Er ist ein ehrlicher und integrer Künstler, aber weder ein Rebell noch ein Held. Mehr als einmal macht er sich angstvoll Gedanken darüber, ob seine Aktionen zur Rettung von Audsley King seinem Namen schaden und seinen Stand in der High City gefährden könnten. Dabei verachtet er im Herzen die mondäne Szene, deren Mitglieder sich auf der "Terrace of the Fallen Leaves" versammeln, um sich im Anblick der von der Seuche verheerten Low City ihren kleinlichen Eifersüchteleien hinzugeben oder um die Gunst reicher Mäzeninnen wie der Marchioness "L" zu buhlen. Besonders verhasst ist ihm der einflussreiche Kunstagent Paulinus Rack, "with his fat lips and intimate asides".
Wir erfahren nie, warum Ashlyme so sehr an Audsley Kings Wohlergehen interessiert ist. Doch vieles spricht dafür, dass er in ihr eine Vertreterin der "reinen", nicht von der Atmosphäre der High City besudelten Kunst sieht, und sie ihm deshalb so wertvoll ist. Vielleicht verkörpert sie für ihn auch den Typus "Künstler", der er selbst gerne wäre. Wir bekommen nur wenig konkretes über ihre Gemälde erzählt, doch verabscheut sie Sentimentalität und Eskapismus. Und vielleicht eben so sehr die Kreise, in denen Ashlyme sich bewegt: "The High City is an elaborate catafalque. Art is dead up there, and Paulinus Rack is burying it."
Audsley King gehört zu einer älteren Künstlergeneration als Ashlyme. Was wir im Laufe des Romans über ihr Leben erfahren, zeichnet das Bild einer Bohème-Revolte und ihres Niedergangs. Und es ist wohl nicht zu weit hergeholt, wenn man darin auch M. John Harrisons Erfahrungen mit der Counterculture der 60er/70er Jahre (einschließlich der New Wave) wiedergespiegelt sieht.
Als sie aus den ländlichen Midlands in die Metropole zog, kam ihr das wie eine lang ersehnte Befreiung vor. Als symbolischen Akt hatte sie sich zuvor die Haare abgeschnitten: "I was going to the city to begin a new life. [...] From now on I would paint what I saw, see everything I wished to see. Viriconium! How much it meant to me then!" Sie war Teil einer Gruppe junger Künstler*innen, einer brodelnden Bohème, die glaubte, die Welt im Sturm erobern zu können:

We were all going to be famous then Ignace Retz the woold-block-illustrator, elbowing his way down the Rue Montdampierre in his shabby black coat at lunchtime, Osgerby Practal, with nothing then to his name but his sudden drugged stupors and his craving for "all human experience"; even Paulinus Rack. Oh, you may laugh, Ashlyme, but we took Paulinus Rack quite seriously then, going about his business in a donkey cart, with that sulphurous yellow cockatoo perched on his shoulder! He was thinner. He hadn't yet turned a whole generation of painters into tepid water-colourists and doomed consumptive asthetes on behalf of the High City art collectors.

Paulinus Rack, der einmal mit Audsley King verheiratet war, repräsentiert jene Teile der Bohème-Revolte, die sich schließlich an das Establishment verkaufen, sich dem Geschmack der reichen Spießer anpassen und daraus eine Karriere spinnen. Für seine ehemaligen Genossinen und Genossen wird er damit zum großen Verräter an den Idealen der "Bewegung". Wie die Marchioness "L" Ashlyme schließlich erzählt:

It was a long time ago. You are certainly too young to remember. The marriage ended when Rack first made his name in the High City, with those sentimental watercolours of life in the Artists' Quarter. He called them "Bohemian days". At the Bistro Californium and the Luitpold Café they never forgave him for that. He had been a leading light in their "new movement", you see. They were all supposed to be above money and that sort of thing. They held a funeral, complete with an ornate coffin, which they said was "the funeral of Art in Viriconium." Audsley King was the first to throw earth on the coffin when they buried it on Allman's Heath.

Doch so verachtenswert Rack auch erscheinen mag, am Ende ist es er und nicht Ashlyme , der Audsley King auf ihrem Sterbebett Beistand leistet. Auch ist es nicht so, dass die Malerin gegenüber ihrem opportunistischen Ex-Mann als eine hehre Märtyrerin der "reinen" Kunst erscheint. Auch ihr Weg führte am Ende in eine Sackgasse. Und ihre letzten Gemälde sind selbst von einem nostalgisch verklärten Blick auf eine "unschuldige" Kindheit gekennzeichnet.

Was M. John Harrison hier vor uns ausbreitet ist natürlich im Grunde das Schicksal jeder Bohème-Revolte: Am Anfang stehen Aufbruchsstimmung und jugendlicher Idealismus, am Ende werden die einen zu "Sell-outs", die anderen gehen zu Grunde. Zugegeben ein auf den ersten Blick ziemlich deprimierendes Bild, aber es ist nun einmal so, dass Bewegungen dieser Art die Welt nicht aus den Angeln heben können, wie gerne sich ihre Anhänger das oft auch einbilden. Als soziale Klasse ist die Bohème machtlos. Ihr Aufbegehren ist deshalb stets zum Scheitern verurteilt, wenn es nicht mit einer Bewegung mächtigerer Klassen zusammenfällt, die tatsächlich in der Lage sind, die Gesellschaft zu verändern. Etwas davon sehe ich auch in den letzten Worten von Gog Barley:

The citizens are responsible for the state of the city. If you had only asked yourselves what was the matter with the city, all would have been well. Audsley King would have been healed. Art would have been made whole. The energy of the Low City would have been released and the High City freed from the thrall of mediocrity.

Die Ereignisse, die uns in In Viriconium erzählt werden, sind nicht schicksalhaft. Die "Götter" sind nicht für sie verantwortlich. Sie sind die Folge des Handelns und des Nicht-Handelns der Menschen. Darin liegt zumindest ein Fünkchen Hoffnung.
 
Dass der Roman dennoch eine eher düster-pessimistische Atmosphäre besitzt, ist nicht wirklich verwunderlich. Vor allem, wenn man ihn (auch) als eine Wiederspiegelung der Erfahrungen liest, die M. John Harrison im Verlauf der 60er und 70er Jahre gemacht hatte. Die von rebellischem Optimismus getragene Bewegung der Counterculture und der New Wave war ja nicht bloß einfach gescheitert ihre Hoffnungen enttäuscht, ihre Ziele nicht realisiert. An ihrem Ende stand vielmehr der beginnende Alptraum der Thatcher-Ära. Die mysteriöse Seuche, die die Low City befallen hat, lässt sich durchaus als Allegorie darauf lesen:
The plague is difficult to describe. It had begun some months before. It was not a plague in the ordinary sense of the word. It was a kind of thinness, a transparency. Within it people aged quickly, or succumbed to debilitating illnesses pthisis, influenza, galloping consumption. The very buildings fell apart and began to look unkempt, ill-kept. Businesses failed. All projects dragged out indefintely and in the end came to nothing.
Doch darauf werden wir näher in unserem nächsten und abschließenden Beitrag eingehen, wenn wir uns der Kurzgeschichtensammlung Viriconium Nights zuwenden.   

 

 * Der Name der Bewegung wurde von Harrison selbst in seinem Vorwort zu China Miévilles The Tain (2002) geprägt. Trotz seiner Involviertheit wahrte er stets eine vorsichtige Distanz zu ihr: "The New Weird was contested territory from the start. Everyone wanted a slice, Babel ensued. I like to work with intuitions I can only just see out of the corner of my eye, but clumping oversimplifications were all around. My longterm experience, from New Worlds and elsewhere, is that the best move in those circumstances is to maintain your distance, take care of your core ideas and aims, make sure you know the exact difference between what you do and anything else that’s going on, and move along quietly to the next thing."

*** Jedes Kapitel beginnt mit einem solchen Zitat. Neben Williams, Rainer Maria Rilke (Duineser Elegien) und Jessie L. Weston (From Ritual to Romance) werden dabei allerdings auch die fiktiven Werke von Audsley King und dem aus A Storm of Wings bekannten Poeten Ansel Verdigris herangezogen.

Sonntag, 10. Oktober 2021

Strandgut

Sonntag, 3. Oktober 2021

Alles Conan, oder was? – Nope!

In ihrem vorletzten Monatsrückblick auf FragmentAnsichten hat Alessandra in Reaktion auf einen Beitrag von Remco van Straten & Angeline B. Adams die Frage aufgeworfen, wie prägend und dominierend Robert E. Howards Conan für die Sword & Sorcery überhaupt noch sei. Stellt der Cimmerier tatsächlich immer noch "the alpha and the omega of the genre" dar? Und ist dessen "De-Conan-isierung" darum wirklich noch ein so dringend gebotenes Anliegen wie die beiden meinen?
Ihre eigene Antwort fällt eindeutig aus:
[I]ch denke bei Sword & Sorcery nicht automatisch an Conan. Ich denke eher an die ohneohren-Low Fantasy, an Torsten Finks Maru-Romane, an die Comics von Sylvain Cordurié, an Peter Hohmanns „Weißblatt“ oder an Susanne Pavlovics „Feuerjäger“. Kommt alles ohne halbnackte Barbaren aus.
Nun kenne ich die meisten der von Alessandra genannten Beispiele nicht aus eigener Leseerfahrung. Abgesehen von Sylvain Corduriés & Leo Pilipovics Ravermoon - Trilogie, die ich vor ein paar Monaten auf ihre Anregung hin gelesen habe`*, und der 2017 bei ohneohren erschienenen Anthologie Heimchen am Schwert. Dennoch  geht es mir im Grunde ganz ähnlich: Ich habe die Sword & Sorcery  nie ausschließlich oder auch nur primär mit Conan und dem Bild des muskelbepackten Barbaren identifiziert.
 
Mein Einstieg in das Subgenre waren Fritz Leibers Geschichten um Fafhrd und den Grey Mouser, und das hat meine Sichtweise glaub ich dauerhaft geprägt. 
Als ich die beiden 1986 erschienenen Heyne - Sammelbände Schwerter im Nebel und Schwerter von Lankhmar,  die die alten Übersetzungen von Wulf H. Bergner & Thomas Schlück enthielten, erstmals in die Finger bekam, hatte mein 13/14jähriges Ich sicher nicht das Gefühl, damit etwas grundsätzlich anderes zu lesen als etwa Tolkiens Herr der Ringe, der meine Einstiegsdroge in die Fantasy gewesen war. Doch als ich nach einer langen Pause viele Jahre später zum Genre zurückkehrte, hatte sich mein Blickwinkel deutlich geändert. Viele Elemente der von Tolkien repräsentierten Spielart der Fantasy erschienen mir nun frag- und kritikwürdig: Die feudale Romantik, die "gottgegebenen" Hierarchien, der "kosmische" Kampf zwischen Gut und Böse, der "auserwählte Held" mit seiner "Bestimmung" etc.  Demgegenüber wirkten Leibers Geschichten nun wie ein subversiver Gegenentwurf. Dies war der Startpunkt, von dem aus sich meine Herangehensweise an die Sword & Sorcery entwickelte. 
Eine weitere wichtige Komponente war sicher, dass zu meinen frühesten Begegnungen mit dem Subgenre außerdem Schwertschwester gehört hatte, die deutsche Übersetzung der ersten der von Marion Zimmer Bradley in den 80ern herausgegebenen Sword and Sorceress - Anthologien. Von Anfang an war die Welt der Sword & Sorcery für mich deshalb auch nicht ausschließlich von irgendwelchen hyper"maskulinen" Kriegergestalten bevölkert.
 
Wenn ich mich in der Folge mehr und mehr gerade zu diesem Subgenre der Fantasyliteratur hingezogen fühlte, war der Hauptgrund dafür, dass ich in ihm -- von Leiber herkommend -- die Fantasy der plebejischen Underdogs zu erblicken begann.  Oder wie Saladin Ahmed es einmal ausgedrückt hat: Sword & Sorcery ist "blue-collar fantasy". Natürlich ist das Subgenre damit nicht erschöpfend charakterisiert. Auch könnte man eine Reihe von Gegenbeispielen dazu ins Feld führen. Insbesondere Michael Moorcocks Geschichten, deren Helden Elric, Corum und Dorian Hawkmoon durchgehend aristokratischer Herkunft sind und in wahrhaft kosmische Konflikte verwickelt werden, von deren Ausgang das Schicksal ganzer Welten abhängt. Aber mir geht's hier ja nicht um eine präzise, "wissenschaftliche" Definition der Sword & Sorcery, sondern um meine persönliche Beziehung zu ihr. Und für mich sind ihre Held*innen halt in erster Linie Glücksritter, Diebe, Halunken, Söldner -- eher zuhause in verräucherten Kaschemmen als in prachtvollen Palästen und nur selten auf einer Queste zur Rettung der Welt. Neben Fritz Leibers Geschichten besteht "meine" Sword & Sorcery aus Werken wie Saladin Ahmeds Throne of the Crescent Moon, Steven Brusts (frühen) Vlad Taltos - Büchern, Scott Lynchs Gentleman Bastards, Elizabeth A. Lynns Chronicles of Tornor, Jack Vance' Dying Earth (vor allem Cugel the Clever) oder Gail Simones Version von Red Sonja. Und wenn sich doch einmal ein Aristo unter den Held*innen findet, dann ist es jemand wie Darrell Schweitzers verfluchter Ritter Sir Julian the Apostate oder C.L. Moores Châtelaine Jirel of Joiry.
 
Und wie fügt sich da nun Conan ein?
Ich habe Robert E. Howard erst sehr spät gelesen. Lange Zeit beschränkte sich meine Bekanntschaft mit dem Cimmerier auf die Schwarzenegger-Flicks Conan the Barbarian (1982) und Conan the Destroyer (1984). Schon allein deswegen konnte er für mich nie die das Subgenre definierende Figur sein. Als ich mich seinen Abenteuern dann schließlich doch zuwandte, war die Frage eher: Wie verträgt sich Conan, der ja fraglos am Anfang der Sword & Sorcery gestanden hatte, mit meiner Sicht auf dieselbe?
Als einem Mitt-Dreißiger stießen mir die krasseren Beispiele von Rassismus & Sexismus in den Stories sicher übler auf als es in meinen Teens vermutlich der Fall gewesen wäre. Vor jeder Art Fanboytum war ich deshalb von vornherein gefeit. Doch zugleich fand ich Howards Sprachstil durchaus packend und entdeckte genug Storyelemente, die dem Cimmerier einen Platz in "meiner" Sword & Sorcery sicherten. Denn auch wenn seine Karriere auf dem Thron von Aquilonia endet, ist er für die meiste Zeit doch ein typischer Underdog-Held -- Dieb, Korsar, Söldner, Glücksritter. In einem Brief an Clark Ashton Smith beschrieb "Two Gun" Bob die "proletarischen" Wurzeln seines berühmtesten Helden einmal wie folgt: 
It may sound fantastic to link the term "realism" with Conan; but as a matter of fact his supernatural adventures aside he is the most realistic character I ever evolved. He is simply a combination of a number of men I have known, and I think that's why he seemed to step full-grown into my consciousness when I wrote the first yarn of the series. Some mechanism in my sub-consciousness took the dominant characteristics of various prizefighters, gunmen, bootleggers, oil field bullies, gamblers, and honest workmen I had come in contact with, and combining them all, produced the amalgamation I call Conan the Cimmerian.** 
Dass Conan dem Unterbewusstsein seines Schöpfers in vollentwickelter Gestalt entsprungen sei, mag howard'scher Selbstmythos sein, aber der Rest klingt sehr überzeugend. Und es gibt ein anarchisches Element in den Stories, einen Widerwillen gegen Autorität und Hierachien, das mich durchaus anspricht. So ist Conan für mich zwar ganz sicher nicht das "Alpha & Omega" der Sword & Sorcery, besitzt aber einen respektablen Platz in der Gallerie ihrer Held*innen.

Soweit meine eigene Antwort auf die von Alessandra aufgeworfene Frage.
 
Allerdings denke ich, dass die Gestalt Conans für viele tatsächlich immer noch repräsentativ für die Sword & Sorcery steht. 
Wofür freilich nicht allein Robert E. Howards Geschichten, sondern vielleicht mehr noch die ikonischen Coverillustrationen von Frank Frazetta verantwortlich sein dürften. Zusammen mit einigen anderen Künstle*innen wie Boris Vallejo und Jeffrey Catherine Jones schuf er eine Ästhetik, die bis heute sehr oft aufs engste mit dem literarischen Subgenre identifiziert wird. Von ihm führt eine direkte Linie zu John Buscemas Arbeiten in den Conan - Comics, John Milius' Conan the Barbarian (1982) und den Sword & Sorcery - Filmpostern der 80er Jahre. Die Ironie besteht darin, dass Frazetta selbst die Conan-Stories nie gelesen hatte. Und tatsächlich entspricht sein eher klobiger, muskelbepackter Barbar kaum dem Bild, das Howard von dem zwar muskulösen, aber zugleich pantherhaft geschmeidigen Cimmerier zeichnet.
Frazettas Einfluss dürfte vor allem für das Image verantwortlich sein, dass die Sword & Sorcery bei vielen "Außenstehenden" genießt. Aber es spricht eine Menge dafür, dass auch in der "Szene" für nicht wenige Conan immer noch eine dominierende Figur ist. Das zeigt sich auch an der weit verbreiteten Ansicht, dass die Sword & Sorcery ihre Blütezeit in den späten 60ern und den 70er Jahren gehabt hätte, um in den 80ern dann einen steilen Niedergang zu erleben, von dem sie sich nie wirklich erholt hätte. Ganz falsch ist das natürlich nicht. Die 80er erlebten ja tatsächlich den Triumph der High Fantasy mit ihren Trilogien und Endlos-Epen. Doch wenn man die Geschichte der S&S so enden lässt, entsteht der Eindruck, als bestehe das Subgenre in der Tat hauptsächlich aus Conan und seinen Epigonen. So schreibt z.B. G.W. Thomas in seinem Blogpost High Versus Low Fantasy or You Can’t Get There From Here!: "[T]he lowly tale of the swordsman who fights the darkness became persona non grata in the 1990s. Only Conan pastiches and novelizations based on Xena, Warrior Princess offered anything remotely like REH." Howard bleibt also das definierende Vorbild. Und auch Thomas' an sich ziemlich interessanter Beitrag The Style of Sword & Sorcery endet bezeichnenderweise in den 60ern und 70ern bei John Jakes und Gardner Fox mit ihren Clonans Brak und Kothar.
Wenn man die 80er Jahre ausschließlich als eine Ära des Niedergangs betrachtet, drohen einige der interessanteren Entwicklungen in der Sword & Sorcery jener Zeit unter den Tisch zu fallen. So etwa das vermehrte Auftreten weiblicher Hauptfiguren zu Beginn des Jahrzehnts, von dem ich schon einmal im Rahmen einer Besprechung von Jessica Amanda Salmonsons Anthologie Amazons II erzählt habe. Oder die Entstehung der Shared Universes von Thieves' World und Liavek. Steven Brusts erster Vlad Taltos - Roman Jhereg erschien 1983. Glen Cooks The Black Company 1984.
 
Wer die Sword & Sorcery in erster Linie über Howard und Conan definiert, wird ihr manches von dem vielleicht gar nicht mehr zurechnen. Und das ist okay. Streitereien über Genregrenzen sind in meinen Augen meist bloß vertane Zeit. Es fragt sich dann bloß, welche Zukunft eine so streng umrissene Sword & Sorcery haben soll. Könnte sie aus mehr bestehen als aus nostalgischen Wiederbelebungsversuchen der Vergangenheit? Man verstehe mich nicht falsch: Solche können ein neckischer Spaß sein. Aber ein lebendiges Genre sieht anders aus.
 


* Eigentlich hatte ich mal vor, Ravermoon im Rahmen eines Blogposts zu besprechen, in dem ich mich einer ganzen Reihe von Comics mit Sword & Sorcery - Heldinnen widmen wollte, die ich im letzten halben Jahr (?) gelesen habe -- von einigen neueren Red Sonja - Sachen über Die Kriegerinnen von Troy bis zu dem wohl eher obskuren (und ziemlich exploitation-lastigen) Arhian. Ob ich das doch noch machen sollte? Wollte in dem Zusammenhang auch meine Meinung zu Chainmail-, Leder- und Fell-Bikinis darlegen ...   

** Zit. nach: Mark Finn: Blood & Thunder. The Life & Art of Robert E. Howard. S. 172.