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Montag, 23. September 2019

Altmodischer Charme und verdrängte Schuld

Das letzte Drittel des Jahres ist angebrochen, und wir alle wissen, was das bedeutet. Richtig! Es gibt endlich wieder Lebkuchen und Spekulatius! Und auch wenn es mir noch etwas zu warm für ein nettes Glas Glühwein dünkt, dachte ich mir, dass sei eigentlich Grund genug, sich mal wieder eine der Ghost Stories for Christmas der BBC anzuschauen.

Nun habe ich beinahe alle von denen in der Vergangenheit bereits einmal auf meinem Blog besprochen. Das gilt sowohl für die acht klassischen Kurzfilme aus den 70er Jahren {hier * hier * hier * hier}, als auch für den wenig erfolgreichen Wiederbelebungsversuch von 2004 {A View from a Hill} / 2005 {Number 13}. Und auch zu Mark Gatiss' M.R. James - Adaption The Tractate Middoth von 2013 habe ich bereits meinen Kommentar abgegeben. 
Vor der erstmals 2010 ausgestrahlten Version von Whistle And I'll Come To You, die der Serie manchmal  zugerechnet wird, schrecke ich nach wie vor etwas zurück, da sie offenbar sehr stark von ihrer literarischen Vorlage abweicht und dabei zugleich beinah automatisch Vergleiche mit Jonathan Millers phänomenaler Fassung von 1968 provozieren  muss. Irgendwann freilich werde ich mir den Streifen schon mal anschauen müssen, allein schon wegen John Hurt in der Hauptrolle. Doch nicht heute ...
So blieb eigentlich nur noch ein Film übrig, wenn ein Rewatch ausgeschlossen bleiben sollte: Der erneut von Mark Gatiss geschriebene und unter seiner Regie gedrehte The Dead Room, der an Heiligabend 2018 auf BBC4 ausgestrahlt wurde.

Seit den späten 70er Jahren ist der Schauspieler Aubrey Judd (Simon Callow) die Stimme der Horror-Radio-Show The Dead Room. Nach vielen Jahren ist die Produktion in das alte Studio zurückverlegt worden, in dem einst alles begann. Doch der ergraute Mime ist alles andere als glücklich über die "modernen" Gruselgeschichten, die er seiner Hörerschaft inzwischen vortragen muss. Ein verfluchtes Computerspiel? Das erscheint ihm nicht weniger lächerlich und stillos als der ganze Social Media - Unsinn, dem die heutige Generation so viel Bedeutung beimisst. 
Mit einer von Arroganz nicht ganz freien Attitüde preist er seiner jungen Produzentin Tara (Anjli Mohindra) die Tugenden der klassischen Spukgeschichte an. Dabei hagelt es nur so Anspielungen auf die Traditionen des literarischen Horrors. Es fallen die Titel von Charlotte Perkins Gilmans The Yellow Wallpaper, F. Marion Crawfords The Upper Berth, E.F. Bensons Mrs. Amworth, Sheridan Le Fanus Green Tea und Algernon Blackwoods The Wendigo. Vor allem aber wird der Geist von M.R. James beschworen. So wenn Judd eine Lesung in Kerzenschein erwähnt, die sein Vorgänger Seymour in  King's College Cambridge veranstaltet habe {wo Monty Provost war und viele seiner Geschichten im Chit Chat Club vortrug}. Als Tara andeutet, Judd könnte mitverantwortlich dafür gewesen sein, dass Seymour damals abgesetzt wurde, reagiert er entrüstet und spielt dabei auf The Stalls of Barchester Cathedral an. Vor allem jedoch zitiert er beinahe wörtlich Passagen aus M.R. James' Bemerkungen über den idealen Aufbau einer Gespenstergeschichte, wobei diese als seine eigenen Ansichten erscheinen: 
Let us, then, be introduced to the actors in a placid way; let us see them going about their ordinary business, undisturbed by forebodings, pleased with their surroundings; and into this calm environment let the ominous thing put out its head, unobtrusively at first, and then more insistently, until it holds the stage. [...] 

For the ghost story a slight haze of distance is desirable. "Thirty years ago", "Not long before the war", are very proper openings.
In Reaktion darauf stellt Tara die Frage in den Raum, ob "vor vierzig Jahren" {d.h. als Judd The Dead Room übernahm} wohl auch in Ordnung sei. "Would a ghost from the seventies work?" Damit wird die Bühne für die übernatürlichen Geschehnisse bereitet, die sich schon bald in dem kleinen Studio entfalten werden, auch wenn diese nichts mit Judds Übernahme der Show zu tun haben. Es ist ein anderes finsteres Ereignis aus seiner Vergangenheit, das im Begriff ist, den Schauspeiler einzuholen.

Mark Gatiss ist ein großer Verehrer der klassischen Gespenstergeschichte und vor allem der Werke Montys, wie u.a. seine Dokumentation M.R. James: Ghost Writer von 2013 zeigt. The Dead Room ist eine liebevolle Hommage auf diese "altmodische" Form des Horrors. Der Kurzfilm folgt ziemlich genau den  james'schen "Regeln", die durch Judds Mund dargelegt wurden.

Im ersten Drittel werden das Setting und die Charaktere etabliert, ohne dass es dabei zu mehr als subtilen Vorausdeutungen auf die kommenden unheimlichen Ereignisse  kommt.
Vor dem ersten Einbruch des Übernatürlichen wird dann sogar die vage Möglichkeit einer mundanen Erklärung eröffnet. Als Aubrey und Tara die Aufnahme der "läppischen" Horrorstory Ready Player Death fortsetzen, kommt es nämlich zu einer heftigen Rückkoppelung. Dass der Schauspieler unmittelbar danach glaubt, eine körperlose Stimme seinen  Namen flüstern zu hören, ließe sich durchaus als eine Fehlinterpretation der durch den schmerzhaften Lärm hervorgerufenen Ohrgeräusche erklären. Immer dann, wenn in der Folge "das ominöse Ding seinen Kopf hervorreckt", wird die Szene zudem mit einem anschwellenden, vibrierenden, tinnitusartigen Ton unterlegt. 
Dass sich wenig später der Text verändert zu haben scheint, den Aubrey vorträgt, lässt sich freilich nicht mehr so einfach erklären. Auf einmal ist darin von einem heißen Sommertag, dem Ufer eines Stausees und einem blonden jungen Mann die Rede ...
Im Zentrum des sich von nun an steigernden Grauens steht zwar eine verdrängte Schuld, dennoch sollen wir  die Ereignisse wohl kaum als simple Halluzinationen interpretieren. 

Die Story bietet keine wirklich überraschenden Wendungen, aber da sie ganz offensichtlich dem Vorbild einer klassischen Spukgeschichte nachgebildet wurde, ist das auch kaum zu erwarten. Mark Gattis geht es in erster Linie um Atmosphäre, und in dieser Hinsicht weiß The Dead Room voll und ganz zu  überzeugen.
Hinzu kommt die äußerst beeindruckende Darbietung von Simon Callow. Ohne ihn wäre der Kurzfilm nicht viel mehr als eine geschickt gemachte stilistische Hommage auf den klassischen Horror eines M.R. James. Er jedocht verleiht ihm zusätzlich eine zutiefst menschliche Dimension.
Obwohl Callow in einer ganzen Reihe von Kinofilmen und TV-Produktionen mitgewirkt hat, erbrachte er seine größten Leistungen wohl als Theaterschauspieler und -regisseur. Was der ihm gewidmete Wikipedia-Artikel darüber zu berichten hat, liest sich ziemlich beeindruckend. Dort erfährt man auch von einem Aspekt seines privaten Lebens, das nicht ohne Relevanz für sein Porträt des alten Audrey Judd ist. Simon Callow war nämlich einer der ersten bekannten britischen Schauspieler, der sich 1984 in seinem Buch Being An Actor öffentlich als homosexuell outete, was  er später so kommentiert hat:
I'm not really an activist, although I am aware that there are some political acts one can do that actually make a difference and I think my coming out as a gay man was probably one of the most valuable things I've done in my life. I don't think any actor had done so voluntarily and I think it helped to change the culture.     
In der bleiernen Atmosphäre der Thatcher-Ära mit ihrer staatlich geförderten Bigotterie war Callows Coming-Out in der Tat ein äußerst mutiger Schritt.
In einem Interview mit dem Independent erzählt er über die erste Zeit am Londoner Drama Center, wo er seine Schauspielausbildung erhielt: "The first 18 months were very tough because I was so resistant to revealing myself. I saw acting as a mask that you put on, this brilliant exterior."
Das einnert ein wenig an die Figur des Aubrey Judd, der seine wahren Gefühle, Verletzlichkeiten und dunklen Geheimnisse gleichfalls hinter dem grandiosen Gestus des "großen Schauspielers" versteckt, bis ihn die Erinnerung an jene lang zurückliegende Affäre mit dem jungen Paul und ihr tragisches Ende, in dessen Verlauf er eine tiefe Schuld auf sich geladen hat, einholt.

Alles in allem ist The Dead Room meiner Ansicht nach eine der besten Ghost Stories for Christmas, die nach dem Ende der klassischen Lawrence Gordon Clark - Ära gedreht wurden. Und so blicke ich mit gesteigerter  Neugier dem diesjährigen Beitrag entgegen, in dem sich Mark Gatiss mit einer Adaption von Martin's Close erneut ganz direkt dem Werk von M.R. James widmen wird.

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