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Montag, 27. August 2018

"And her name is Mater Tenebrarum, – Our Lady of Darkness"

But the third sister, who is also the youngest ! Hush! whisper whilst we talk of her! Her kingdom is not large, or else no flesh should live; but within that kingdom all power is hers. Her head, turreted like that of Cybèle, rises almost beyond the reach of sight. She droops not; and her eyes rising so high might be hidden by distance. But, being what they are, they cannot be hidden; through the treble veil of crape which she wears, the fierce light of a blazing misery, that rests not for matins or for vespers, for noon of day or noon of night, for ebbing or for flowing tide, may be read from the very ground. She is the defier of God. She also is the mother of lunacies, and the suggestress of suicides. Deep lie the roots of her power; but narrow is the nation that she rules. For she can approach only those in whom a profound nature has been upheaved by central convulsions; in whom the heart trembles and the brain rocks under conspiracies of tempest from without and tempest from within. Madonna moves with uncertain steps, fast or slow, but still with tragic grace. Our Lady of Sighs creeps timidly and stealthily. But. this youngest sister moves with incalculable motions, bounding, and with a tiger’s leaps. She carries no key; for, though coming rarely amongst men, she storms all doors at which she is permitted to enter at all. And her name is Mater Tenebrarum, Our Lady of Darkness. 



Eine strengsten wissenschaftlichen Standards genügende Umfrage, die ich kürzlich auf Twitter durchgeführt habe, hat mich in meiner Vermutung bestärkt, dass Fritz Leiber in der heutigen deutschsprachigen Phantastik-Gemeinde {oder zumindest unter deren jüngeren Jahrgängen} wohl kaum mehr bekannt sein dürfte. 
Was ich wirklich bedauerlich finde. Auch wenn es mittlerweile gut zehn Jahre her sein dürfte, dass ich alle Bücher und Storyanthologien Leibers, derer ich in deutscher Sprache habhaft werden konnte, verschlungen habe und meine Erinnerungen an diese entsprechend verschwommen sind, würde ich mich doch immer noch als großer Fan bzeichnen. Hey, schließlich verdankt sogar dieser Blog seinen Namen dem guten Fritz.*

Ich nehme mal an, dass man sich seiner am ehesten noch aufgrund seiner Bedeutung für die Entwicklung der Sword & Sorcery erinnern wird, deren Namensgeber er ja gewesen ist. Doch der 1910 in Chicago geborene und 1992 in San Francisco verstorbene Schriftsteller betätigte sich im Verlauf seiner langen und fruchtbaren Karriere in einer ganzen Reihe von phantastischen Genres. Neben den Fafhrd & The Gray Mouser - Stories schrieb er eine erkleckliche Anzahl von Science Fiction - Romanen, -Novellen und -Kurzgeschichten, von denen einige wie A Spectre Is Haunting Texas** und The Silver Eggheads stark satirisch geprägt sind, sowie eine ganze Reihe von Werken, die man der Weird Fiction oder dem Horror zuzurechnen hat.

Das Buch, mit dem wir uns heute beschäftigen wollen, gehört zur letzteren Sparte. 1977 erschienen ist der kurze Roman Our Lady of Darkness (Herrin der Dunkelheit) außerdem das wohl bedeutendste Werk aus Leibers Spätphase und wurde 1978 mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet. Der Autor erklärte in einem Brief an das Foundation Magazine (Nr. 16, Mai 1979): "It started as a short Jamesian horror story and just grew". Und tatsächlich enthält auch der vollendete Roman immer noch eine ganze Reihe von Anspielungen auf die Werke von M.R. James, wie man in diesem in Ghosts & Scholars veröffentlichten Artikel von Rosemary Pardoe im Detail nachlesen kann.*** Doch Our Lady of Darkness ist sehr viel mehr als eine gelungene Hommage an den Großmeister der klassischen englischen Gespenstergeschichte.

Franz Westen ist ein Autor phantastischer Literatur, der als Brotjob Romanadaptionen für die Fernsehserie Unheimlicher Untergrund schreibt. Nach dem Tod seiner Frau durchlebte er eine dreijährige Phase von Depressionen und Alkoholismus, aus der er sich gerade erst wieder herausgekämpft hat. Nicht zuletzt, weil er einen neuen Kreis von Freunden gefunden hat, die alle in dem selben San Franciscoer Apartmenthaus leben: Der Psychiater Saul, der Naturwissenschaftler Gun(nar), die Hausverwalterin Dorotea, ihr Mann Fernando (der nur Spanisch spricht, aber ein exzellenter Schachspieler ist), deren Tochter Bonita und die klassische Musikerin Cal, die vielleicht mehr als "bloß" eine gute Freundin werden könnte. Die beiden haben schon einmal miteinander geschlafen, der Status ihrer Beziehung ist vorerst aber noch unbestimmt. Was jedoch für keinen der beiden ein Problem zu sein scheint.
Eines Morgens schaut Franz gedankenverloren aus dem Fenster seines Apartments hinüber zu den Corona Heights, greift spontan zu seinem Feldstecher und entdeckt auf dem Gipfel der schroffen Erhebung eine hagere Gestalt in einem braunen Regenmantel (oder einer Kutte?), die einen merkwürdigen Tanz aufzuführen scheint. Bloß irgendein exzentrischer Hippie vermutlich, aber auf unerklärliche Weise fasziniert ihn die Gestalt so sehr, dass er beschließt, dem Ort einen Besuch abzustatten. Als er dort ankommt, ist der eigenartige Geselle natürlich längst verschwunden. Franz schaut hinaus über San Francisco, greift wieder zu seinem Fernglas und versucht, zwischen den Wolkenkratzern sein heimisches Appartmenthaus ausfindig zu machen. Als ihm dies tatsächlich gelingt, wartet ein gehöriger Schock auf ihn: Aus dem Fenster seiner eigenen Wohnung lehnt sich eine hagere, braungewandete Gestalt und winkt ihm zu!.
Natürlich kehrt er schnellstmöglich nach Hause zurück, doch dort finden sich keinerlei Anzeichen für einen Einbruch. War die Erscheinung also bloß eine Halluzination, möglicherweise eine Folge seines gerade erst überwundenen Alkoholismus?
Franz bringt dieses zutiefst verstörende Erlebnis intuitiv mit zwei Büchern in Verbindung, die er vor ein paar Monaten in alkoholumnebeltem Zustand in irgendeinem Antiquariat erworben hat. Da wäre zum einen der bizarre Schmöker Megapolisomancy: Eine neue Wissenschaft der Städte des Okkultisten Thibault de Castries, in dem die Entwicklung der modernen Großstädte als ein verderbenbringendes Unternehmen beschrieben wird, in dessen Verlauf durch die unnatürliche Konzentration von Materialien wie Stahl und Beton dämonenhafte "paramentale" Wesenheiten ins Leben gerufen würden. Zum anderen das Tagebuch eines Schriftstellers, von dem Franz überzeugt ist, dass es sich um Clark Ashton Smith handelt,  in dem dieser seine Treffen mit dem alten De Castries beschreibt, der zuerst faszinierend, schließlich jedoch äußerst bedrohlich und furchteinflößend auf ihn gewirkt habe.
Nachdem er sich im Kreis seiner Freunde wieder etwas gefangen hat, fasst Franz den Entschluss, etwas mehr über den mysteriösen De Castries herausfinden zu wollen. Doch unglücklicherweise kehrt er zuerst einmal auf die Corona Heights zurück, weil er überprüfen will, ob er das Fernglas tatsächlich auf sein eigenes Apartment gerichtet hatte. Das Ergebnis ist um ein vielfaches bedrohlicher als beim ersten Mal. Wieder erblickt er die groteske Gestalt, deren Gesicht etwas animalisches, schnauzenhaftes an sich zu haben scheint. Schlimmer noch, diesmal hat er den Eindruck, als greife das unheimliche Wesen durch das Fernglas nach ihm. Von Panik erfasst flieht er von dem Hügel, wird jedoch das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden. Er sucht Zuflucht bei dem befreundeten dekadenten Dichter Jaime Donaldus Byers, den er ohnehin aufsuchen wollte, um ihn über De Castries zu befragen.
Seine Behauptung, von einem der in Megapolisomancy erwähnten "Paramentalen" verfolgt zu werden, wird von Byers erstaunlicherweise nicht mit Spott oder Ungläubigkeit aufgenommen. 
Der exzentrische Dichter erzählt ihm, wie De Castries um die Jahrhundertwende nach San Francisco gekommen und im Kreis der Bohèmiens um George Sterling, Jack London und Ambrose Bierce schon bald zu einer Art Guru geworden sei. In seiner Begleitung habe sich eine geheimnisvolle, stets verschleierte Frau befunden, die die beunruhigende Eigenschaft besessen habe, wie aus dem Nichts aufzutauchen und auf ebenso unerklärliche Weise wieder zu verschwinden. Schließlich habe er in Konkurrenz zum berühmten englischen "Hermetic Order of the Golden Dawn" (und zu Aleister Crowley) seinen eigenen "Orden der Onyx-Dämmerung" gegründet. Ziel der okkulten Vereinigung sei die Vernichtung der modernen Großstadt auf "metamagische" Weise gewesen. Doch auch wenn die rebellisch-terroristische Ausrichtung des Ordens die Bohèmiens zu Beginn angezogen habe, hätte der banal-langweilige Charakter der "metamagischen Rituale", die De Castries seinen vermeintlichen Jüngern auszuführen befahl, diese schon bald angeödet. Tief getroffen von dieser Zurückweisung, habe der Okkultist den Kreis mit einem Fluch belegt. Und hätten nicht tatsächlich viele der Bohèmiens einen frühen und tragischen Tod gefunden? Ambrose Bierce verschwand auf Nimmerwiedersehn in den blutigen Wirren der Mexikanischen Revolution. Nora May French und George Sterling begingen Selbstmord. Jack London starb lange vor seiner Zeit. Jahrzehnte später habe Clark Ashton Smith den verbitterten und zunehmend paranoiden De Castries aufgesucht.und sei für einige Zeit so etwas wie dessen letzter Akolyth gewesen. Doch das krankhafte Misstrauen und die zunehmende Boshaftigkeit des alten Okkultisten habe schließlich zum Bruch zwischen den beiden geführt. Byers stellt die Vermutung an, dass De Castries und seine Megapolisomancy der Grund gewesen sein könnten, warum der von seinem Wesen her doch so urbane Smith sich danach nie mehr für längere Zeit in San Francisco aufhielt.
Zum Abschluss bittet der Dichter Franz, einmal einen Blick in das Tagebuch werfen zu dürfen, das dieser zusammen mit seiner Ausgabe der Megapolisomancy erworben hat. Er bestätigt dessen Vermutung, dass der Verfasser Smith war, und entdeckt außerdem zwischen zwei zusammengeleimten Buchseiten einen ominösen "Fluch auf Master Clark Ashton Smith, und all seine Erben, der sich einbildet, mein Gehirn anzapfen und sich dann davonmachen zu können. Auf ihn komme der Lange Tod – die Paramentale Agonie! –, wenn er zurückgekrochen kommt, wie es alle Menschen tun." Der Fluch besitzt die für De Castries' Art der Magie, die er selbst "neo-pythagoräische Metageometrie" nannte, vermutlich typische formale Gestalt: 
Der Drehpunkt (o) und die Cipher (A) werden dort sein, an seinem geliebten 607 Rhodes. Ich werde an dem mir zugewiesenen Ort (1) ruhen, unter dem Bischofssitz, die schwerste Asche, die er jemals fühlte. Dann, wenn die Lasten auch auf Sutro Mountain (4) und Monkey Clay (5) sind, [(4) + (1) = (5)] wird sein Leben zermalmt werden.
Im Verlauf seines langen Monologs ist Byers zunehmend betrunken geworden. Immer wieder versucht er auch Franz einen Drink aufzudrängen, was dieser trotz wachsender Nervosität standhaft zurückweist. Ihm wird zunehmend bewusst, dass der Dichter von einer ähnlichen Furcht erfüllt ist wie er selbst. Als schließlich Byers' chinesische Geliebte zusammen mit einer jungen Gespielin auftaucht, zieht Franz sich zurück. Für den dekadenten Dichter bilden offensichtlich Sex, Alkohol und Ausschweifung eine Art Schutzwall gegen die "paramentale" Bedrohung, doch für Franz ist das keine Option.
Während er durch die abendlichen Straßen irrt, wird das Gefühl, verfolgt zu werden, erneut immer stärker und bedrückender. Er flieht in die scheinbare Sicherheit einer Konzerthalle, wo Cal an diesem Abend spielen wird und ihn Saul und Gun erwarten. Doch noch vor dem Ende des ersten Stückes verlässt er den Kreis seiner Freunde und eilt nach Hause, weil er glaubt, den Schlüssel zu De Castries seltsamer Fluch-Formel gefunden zu haben. 
Tatsächlich gelingt es ihm, das Rätsel des alten Okkultisten zu lösen, wobei die Corona Heights, der Standort seines eigenen Apartments, der Sutro Tower und die Transamerica Pyramid eine wichtige Rolle spielen.
Doch ist ihm diese Erkenntnis keine Hilfe. Ganz im Gegenteil. Getrennt von seinen Freunden und von bleierner Angst gelähmt, verkriecht sich Franz schließlich in sein Bett neben sein "Studentenliebchen" ("Scholar's Mistress"), einen großen Bücherhaufen, dem er die ungefähre Form eines Frauenkörpers gegeben hat. Irgendwo in der Nähe steht eine Flasche Kirschwasser. Er versinkt in einem Meer aus Verzweifelung, Erinnerungen an seine verstorbene Frau, Depression und finsteren Zukunftsvisionen. Als er nach ein-zwei Stunden traumlosen Schlafes wieder aufschreckt, erwartet ihn seine finale Konfrontation mit der "Lady of Darkness" in einer Szene, die deutlich von M.R. James' Oh, Whistle, And I'll Come To You, My Lad inspiriert wurde.

Our Lady of Darkness ist ein faszinierend vielschichtiges Werk. 

Da wäre zuerst einmal das unverkennbar autobiographische Element. Franz Westen ist ein kaum verhülltes "alter ego" des Autors. 1969 war Fritz Leibers Frau Jonquil an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben und der Schriftsteller war daraufhin in eine ungefähr drei Jahre andauernde Phase alkoholdurchtränkter Depressionen gestürzt. Danach war er nach San Francisco gezogen, wo er in Apartment 507, 811 Geary Street lebte – ein Stockwerk unter dem fluchbeladenen Domizil seiner späteren Romanfigur.

Das Ringen mit Alkoholismus und Depression und die stets vorhandene Angst, wieder in diese zurückzufallen, bilden so etwas wie den emotionalen Kern des Romans. 
Aufs engste damit verknüpft ist der hohe Stellenwert, der der Freundschaft zukommt. Auf sich allein gestellt ist Franz der "paramentalen" Bedrohung hilflos ausgeliefert. Er mag schlau genug sein, um das Rätsel von De Castries' Formel zu entschlüsseln, doch das hilft ihm kein Deut weiter. Am Ende sind es seine Freundinnen & Freunde, die ihn retten. 
Ein Gutteil des Romans ist der Beschreibung dieses Freundeskreises und ihren Gesprächen untereinander gewidmet.  Da wird viel philosophiert über den Menschen, die Kunst und die moderne Gesellschaft. Die Schilderung eines gemeinsamen Abends in einem kleinen deutsch-ungarischen Restaurant in der Nachbarschaft bildet für mich einen der kleinen Höhepunkte von Our Lady of Darkness. Und wie sympathisch mutet es an, dass sich in dieser kleinen Gemeinschaft auf ganz natürliche Weise "Intellektuelle" (Franz, Cal, Saul, Gun) und Vertreter der Arbeiterklasse (Dorotea, Fernando) zusammenfinden, ohne einen Hauch von Snobismus.

Dieses menschliche Kernelement verbindet Leiber mit einer Thematik, die ihn schon seit den frühen 40er Jahren beschäftigte: Dem Horror der modernen Großstadt. Wie eine seiner Figuren in der 1942 in Weird Tales veröffentlichten Kurzgeschichte The Hound sagt:
Each culture creates its own demons. Look, the Middle Ages built cathedrals, and pretty soon there were little gray shapes gliding around the night to talk with the gargoyles. Same thing ought to happen to us, with our sky scrapers and factories.
Fritz Leibers übernatürliche Schrecken entspringen nicht länger der traditionellen Welt der Geister und Dämonen, der Vampire und Werwölfe, auch wenn sie mitunter deren Gestalt imitieren. Sie sind keine Überbleibsel einer finsteren Vergangenheit, sondern die Hervorbringungen einer nicht weniger finsteren Gegenwart. 
Weitere frühe Beispiele für diese Art des Horrors sind seine Stories Smoke Ghost (Unknown Worlds, Oktober 1941) und The Girl With The Hungry Eyes (1949 in der von Donald A. Wohlheim herausgegebenen Anthologie The Girl with the Hungry Eyes, and Other Stories veröffentlicht).
Die Verbindung zwischen dieser Thematik und der okkulten Philosophie des Thibault de Castries ist natürlich offensichtlich. Doch vielleicht noch wichtiger in diesem Zusammenhang ist die Gestalt des Fernsehturms auf Sutro Mountain, die eines der Leitmotive des Romans bildet. 

Ein weiterer Grund, warum ich Our Lady of Darkness so sehr liebe, ist, dass Leiber seinen Okkultisten mit der San Franciscoer Bohème der Jahrhundertwende in Verbindung bringt. Ich selbst habe mich in der Vergangenheit einmal sehr eingehend mit diesem Kreis faszinierender Männer und Frauen beschäftigt. Wer mehr darüber erfahren will, lese meine alte und unvollendete Blogpostreihe "Der Décadent der Fantasy" (1 * 2 * 3 * 4 * 5 * 6 * 7 * 8 * 9).

Ganz allgemein ist Our Lady of Darkness u.a. eine Liebeserklärung Fritz Leibers an die Autoren, denen er sich besonders verbunden fühlte, und damit so etwas wie Weird Fiction für Liebhaber klassischer Weird Fiction, auch wenn es sich bei den Autoren nicht durchwegs um Vertreter der Phantastik handelt. Neben M.R. James, dem Kreis um George Sterling und Jack London und {eher am Rande} H.P. Lovecraft findet nämlich auch Dashiell Hammett Erwähnung. 
Die hervorragendste Stellung kommt jedoch sicher Clark Ashton Smith zu. 
Leiber war ein großer Bewunderer Smiths, den er 1944 einmal "in persona" getroffen hatte.**** Zeit seines Lebens bemühte er sich, dessen Andenken am Leben zu erhalten. Und ich halte es nicht für einen Zufall, dass von dessen Geschichten ausgerechnet The City of the Singing Flame namentliche Erwähnung in Our Lady of Darkness findet, hat Leiber doch von ihr gesagt: "[It] shows a passionate concern for life battling doom which is absent from most of [his] tales, where Smith is simply the devoted chronicler of death". Womit wir wieder zum zentralen Thema von Leibers eigenem außergewöhnlichem Spätwerk zurückgekehrt wären.
    


* Für die Uneingeweihten: Der Graue Mausling gibt seinem Schwert und seinem Dolch stets die Namen Skalpell und Katzenklaue.
** Der Titel der deutschen Übersetzung Ein Gespenst sucht Texas heim negiert leider die Ironie des Originals. Leiber spielt hier auf den Beginn des Kommunistischen Manifestes an: "Ein Gespenst geht um in Europa / A spectre is haunting Europe".
*** Interessanter- und ärgerlicherweise ist aus der deutschen Übersetzung von Hans Maeter wenigstens eine dieser Anspielungen herrausgeschrieben worden.
**** In diesem Brief aus dem Jahre 1971 schildert Leiber seine Begegnung mit Smith.

Samstag, 25. August 2018

Strandgut der Woche

Sonntag, 19. August 2018

Strandgut der Woche

Freitag, 17. August 2018

Hitlers England

Im Mai 1956 beschloss der siebzehnjährige Kevin Brownlow, der gerade seine Ausbildung bei World Wide Pictures begonnen hatte, einen Film zu drehen, der in einem von den Nazis besetzten Großbritannien spielen sollte. Wie es dazu kam, schilderte er sechs Jahre später gegenüber der Zeitschrift Film: 
The first film I made, The Capture, was based on a Maupassant story about the Franco-Prussian occupation. It was a failure and I wanted to make another occupation film. I’d just gone into the film industry as an office boy and walking from the laboratory. I saw a car draw up outside a delicatessen. Some Germans jumped out and began conversing with each other and it seemed vivid and odd. That was the click.
Alternativhistorische Geschichten, die einen Sieg der Achsenmächte postulierten, waren auch 1956 nichts gänzlich unbekanntes. Neben antifaschistischen Dystopien aus der Vorkriegszeit wie Katharine Burdekins Swastika Night (1937) seien vor allem  Noël Cowards 1947 uraufgeführtes Theaterstück Peace in Our Time* sowie der phantastische Roman The Sound of his Horn (1952) von Sarban (John William Wall) genannt. Der vielleicht bekannteste Vertreter der Gattung, Philip K. Dicks The Man in the High Castle, sollte allerdings erst sechs Jahre später erscheinen.
Ob Brownlow von irgendeinem dieser Werke beeinflusst wurde, ist mir nicht bekannt. Ich halte es aber eher für unwahrscheinlich. Peace in Our Time war scheinbar kein besonders großer Publikumserfolg und wurde auch später nur sehr selten aufgeführt, vor allem da das Stück über vierzig handelnde Figuren besitzt. Und was The Sound of his Horn betrifft ist Brownlows Film, der den Titel It Happened Here** erhalten sollte, in seinem quasi-dokumentarischen Realismus Meilen weit entfernt von der bizarren Alptraumvision eines der Menschenjagd frönenden Nazi-Feudalherren, die Sarban in seinem Roman entwirft. Weniger verstörend ist er deshalb allerdings nicht.

Doch bevor wir uns dem Streifen selbst zuwenden, wollen wir uns zuerst einmal seine erstaunliche Entstehungsgeschichte betrachten.

Brownlows ursprüngliche Vorstellung ging wohl eher in Richtung B-Movie und das Ganze sollte mit einem richtig großen Knall  – dem Abwurf einer amerikanischen Atombombe über Nordengland  – enden. Doch dann lernte er den ein Jahr jüngeren Geschichtsenthusiasten Andrew Mollo kennen, der das bisher Geschriebene und Gefilmte wegen mangelnder Authentizität einer vernichtenden Kritik unterzog. Brownlow zerstörte den Großteil des bereits gefilmten Materials, und gemeinsam machten sich die beiden erneut ans Werk, diesmal mit einem an Fanatismus grenzenden Anspruch auf historische Genauigkeit, was sie außerdem schon bald zu der Überzeugung führte, "that to give it any validity, it must have political meaning. Otherwise it would be just a romp in Nazi uniform."

Die sich über acht Jahre hinziehende Produktion war das Werk einer Schar enthusiastischer Amateure und Semi-Amateure. It Happened Here verfügte praktisch über keinerlei Budget. Gedreht wurde auf 16mm - Film. Das Team bestand aus über 900 Freiwilligen, zu denen auch eine ganze Reihe Vertreter des britischen SciFi - Fandoms wie Pat Kearney und Jim Linwood gehörten.***  Uniformen, Waffen und Militärfahrzeuge {u.a. einen  allerdings fahruntüchtigen Jagd-Panzer Panther} besorgte man sich aus privaten Sammlungen. Unter den Darstellern befanden sich nur eine wenige professionelle Schauspieler wie Sebastian Shaw, der den antifaschistischen Doktor Fletcher verkörperte.
In einer ziemlich umstrittenen Entscheidung besetzten Brownlow und Mollo nicht nur die Rollen deutscher Soldaten mit ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, sondern auch die einiger englischer Faschistenführer mit echten britischen Nazis. Der berüchtigste von ihnen war ohne Zweifel Frank Bennett, von dem Linwood später erzählt hat: 
Bennett was [...] a member of Colin Jordan's British National Socialist Movement. He was a well-known figure in the King’s Road, Chelsea, wearing a leather raincoat and exercising his bull-terrier, Baldur. The dog was named after Baldur von Schirach, leader of the Hitler Youth and Gauleiter of Vienna. Bennett claimed to have shaken Hitler’s hand during the Berlin Olympics and had escaped internment during the war by joining the Merchant Navy so he wouldn’t have to kill Germans. Andrew and Kevin met him at a party at which he became immediately enthusiastic about the film.
"I shall play Hitler," he had proclaimed. 
Although he did affect a little moustache and hair brushed down one side of his face, he bore a closer resemblance to Captain Mainwaring in Dad’s Army than the Fuehrer.
Bennett und seine Gesinnungsgenossen hatten offenbar die irre Vorstellung, der Film werde es ihnen erlauben, ihre nationalsozialistische Weltanschauung in einem "fairen Licht" darzulegen. Was Brownlow später zu dem Kommentar veranlasste, er habe ihnen die Gelegenheit geboten, "to condemn themselves out of their own mouths." 

Nach sechs Jahren leidenschaftlicher Arbeit drohte das Projekt 1962 doch noch an Geldmangel zu scheitern, aber zum Glück erwies sich Tony Richardson als Retter aus der Not.
Als Theaterregisseur hatte Richardson zur Gruppe der "angry young men" gehört, die auf die eine oder andere Weise gegen die britische bürgerliche Gesellschaft und ihre heuchlerische Moral aufzubegehren und sich dabei mit der Arbeiterklasse zu identifiizieren versuchten  1958 hatte er zusammen mit Stückeschreiber John Osborne und Produzent Harry Saltzman Woodfall Film Productions gegründet, die zu einer der führenden Vertreterinnen der britischen "New Wave" wurde  Das Debüt der Firma war eine Adaption von Osbornes Stück Look Back in Anger (1959) gewesen, an dessen Drehbuch Nigel Kneale mitgearbeitet hatte. Die Regie war natürlich von Richardson selbst übernommen worden.
Andrew Mollo arbeitete Anfang der 60er für Woodfall Films und lernte auf diesem Weg Tony Richardson kennen. Dieser zeigte sich von It Happened Here beeindruckt und erklärte sich bereit, die Fertigstellung des Films zu finanzieren, vorausgesetzt das Format ließe sich auf kommerziell verwendbare 35mm konvertieren. Das wurde bewerkstelligt, und für die noch zu drehenden Szenen stellte Stanley Kubrick unbenutztes Filmmaterial zur Verfügung, das bei der Produktion von Dr. Strangelove abgefallen war.

Im Mai 1964 war It Happened Here endlich fertiggestellt, und es begann die Tour über die Filmfestivals und die Suche nach einem Verleih.
Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen zeigten sich die Kritiker scheinbar nicht sonderlich begeistert. Hinzu kam, dass einige jüdische Verbände lauten Protest gegen den Film erhoben und ihn als antisemitisch verurteilten. Dennoch gelang es schließlich, United Artists als Verleih zu gewinnen. Allerdings erst, nachdem Brownlow und Mollo sich einverstanden erklärt hatten, dass eine sechsminütige Szene, die besonders heftige Kritik auf sich gezogen hatte, aus der kommerziellen Fassung herausgeschnitten wurde. Wir werden darauf noch zurückkommen. In englischen Kinos lief It Happened Here im Mai 1966 an. Trotz des zensorischen Eingriffs erhob der Jewish Chronicle erneut den Vorwurf des Antisemitismus und verdammte den Film als "a deplorable effort, and an insult to England"

United Artists erwiesen sich bei der breiteren Vermarktung des Filmes als eher glücklos. Vielleicht hatten sie auch kein wirkliches Interesse daran. Kevin Brownlow erhielt jedenfalls keinen einzigen Penny von UA ausgezahlt, und die Kontroverse um seinen Debütfilm hatte auf seine weitere Karriere vermutlich einen ziemlich negativen Einfluss. Wie er Jahrzehnte später einmal gesagt hat:
Had I not made It Happened Here, and approached the job of directing the conventional way, I might be watching a more substantial retrospective of my work at the NFT. To have the reputation in the industry – deserved or not – as an iconoclast, a crypto fascist and general irritant didn’t encourage producers. 
Er drehte nur noch einen weiteren Spielfim, gleichfalls als Indieproduktion: Den 1975 fertiggestellten Winstanley über die frühkommunistischen "Digger" während der Englischen Revolution.  Einen Namen machte sich Brownlow schließlich vor allem mit seinen Dokumentationen über die Stummfilmära sowie durch seine unablässigen Bemühungen um den Erhalt, die Restauration und das erneute Zugänglich-Machen von Filmen wie Napoléon (1927) von Abel Gance. 1990 gelang es ihm, die Rechte an It Happened Here zurückzuerhalten und den Film in seiner ursprünglichen Form wiederherzustellen.
Andrew Mollo wurde ein bekannter Experte für Militärgeschichte, der als Berater u.a. bei der Produktion von John Sturges' The Eagle Has Landed (1976), Roman Polanskis The Pianist (2002) und Oliver Hirschbiegels Der Untergang (2004) mitwirkte.
Aus dem It Happened Here - Team startete nur Kameramann  Peter Suschitzky eine echte Karriere in der Filmindustrie. Er arbeitete u.a. mit Joseph Losey (Figures in a Landscape [1970]), John Boorman (Leo the Last [1970]) und Ken Russell (Lisztomania [1975] & Valentino [1977]) zusammen, war der DP bei The Rocky Horror Picture Show (1975) und The Empire Strikes Back (1980), um schließlich David Cronenbergs bevorzugter Kameramann zu werden.

Doch nun zum Film selbst.


It Happened Here ist ein finsteres, kompromissloses und äußerst intelligentes Kunstwerk.

Wenn Zeitungen wie der Jewish Chronicle den Film seinerzeit so heftig verurteilten, so scheint mir dabei der {absurde} Vorwurf des Antisemitismus ein bloßer Vorwand gewesen zu sein. Was konservativere Kritiker vor allem in Rage versetzt haben muss, ist, dass It Happened Here gegen den patriotischen Mythos des "We shall never surrender"**** und die nicht weniger mythische Vorstellung vom Antifaschismus des britischen Establishments verstößt. Kein Wunder, dass sie in dem Film ein "insult to England" sahen.   

Das beginnt bereits mit der einführenden Sequenz, die im quasi-dokumentarischen Stil den alternativen Verlauf der Geschichte und damit das Setting der Geschichte beschreibt: Das Dritte Reich ist 1940 nach der Evakuierung der britischen Truppen aus Dünkirchen Sieger im "Kampf um England" geblieben. Dem "Blitz" folgte eine Bodeninvasion, und nachdem der anfänglich heftige militärische Widerstand gebrochen worden war,  wurde von den Nazis ein Quisling-Regime mit dem britischen Faschistenführer Oswald Mosley an der Spitze errichtet.
Soweit ist das bloß die zur Etablierung des Settings nötige Alternativhistorie. Doch dann erfahren wir, dass nach dem Durchbruch der Roten Armee im Jahre 1944 ein Großteil der deutschen Besatzungstruppen aus England abgezogen und an die Ostfront verlegt wurde. Im Kampf gegen die wieder aufflammende Partisanenbewgung, die von den USA unterstützt wird, stützt sich Mosleys Regierung in erster Linie auf die englische Freiwilligenlegion, die in die Wehrmacht integriert wurde, sowie auf britische SS-Verbände. Das Regime der Schwarzhemden ist also nicht bloß ein von deutschen Bajonetten an der Macht gehaltener "Fremdkörper", sondern verfügt offenbar über eine eigene soziale Basis im Land

Protagonistin des Films ist die Krankenschwester Pauline, großartig gespielt von der Laiendarstellerin Pauline Murray, die zu einer Mitläuferin der faschistischen Diktatur wird. Durch ihre Augen lernen wir die gruselige Realität von Hitlers England kennen.

Als die Bevölkerung im Südwesten Englands in Reaktion auf die anwachsende Aktivität der Partisanen evakuiert wird {wer sich danach noch in der Region befindet, gilt automatisch als feindlicher Kämpfer}, gelangt Pauline nach London.
Die Szenerie der Hauptstadt mit den deutlich sichtbaren Wunden des "Blitzes", dem von Stacheldraht umgebenen Ghetto, den allgegenwärtigen Propagandaplakaten, die zur Arbeit in Deutschland, zum Eintritt in die SS oder zum "gemeinsamen Kampf gegen Juden und Kommunisten"  aufrufen, sowie den allenthalben unter den Klängen von Marschmusik durch die Straßen stampfenden faschistischen Kohorten ist verschiedentlich mit George Orwells 1984 verglichen worden. Doch ich finde, das trifft die Atmosphäre nicht ganz. Brownlow und Mollo bezogen ihre Inspiration u.a. aus dem 1944 herausgegeben Buch A Paris, sous les bottes des Nazis. Ihre Version von London ist weniger dystopisch als vielmehr realistisch. Auch unter dem neuen Regime geht das Leben weiter. Selbst die Besatzer erscheinen nicht durchweg als uniformierte Monster. Wir sehen deutsche Soldaten, die mit ihren Freundinnen spazieren gehen oder für Andenkenfotos vor dem Albert Memorial posieren. Was natürlich nicht heißen soll, dass das Ganze nicht extrem bedrückend wirken würde. Nur eben nicht so überzogen, wie das in Dystopien oft der Fall ist.

Pauline wünscht, ihre Arbeit als Krankenschwester wieder aufzunehmen, ist jedoch anfangs nicht bereit, der Immediate Action Organisation (IAO) beizutreten. Sie will sich von allem Politischen fernhalten. Doch nachdem sie Zeugin einer Schlägerei zwischen faschistischen Kollaborateuren und Arbeitern geworden ist, ändert sie ihre Meinung. Zum einen ist die IAO der einzige Weg, auf dem sie eine Anstellung bekommen kann, zum anderen hält sie es für ihre Pflicht, die Mächte von "Law & Order" zu unterstützen. Auch wenn diese momentan die schwarzen Uniformen mit dem Blitzemblem von Oswald Mosleys British Union of Fascists (BUF) tragen.

Ihre Ausbildung und Indoktrination wird in Form einer filmischen Monatge dargestellt, unterlegt mit der für zeitgenössische Propagandastreifen üblichen Musik. Die Wirkung ist ziemlich verstörend. Vielleicht am gruseligsten ist die nächtliche Trauerfeier für einen von den Partisanen getöteten Öffizier, vor allem, wenn die Rekrutinnen & Rekruten im flackernden Fackelschein eine englischsprachige Version des Horst-Wessel-Liedes anstimmem.
Teil dieser Sequenz ist außerdem ein beeindruckend gemachter Film-im-Film, der die offizielle Version der Entstehung des Regimes vermitteln soll. Der Propandastreifen beginnt mit Szenen des Weihnachtsfriedens von 1914, die dazu verwendet werden, die Idee der "germanischen Brudervölker" zu vermitteln, die vom "Weltjudentum" gegeneinander aufgehetzt wurden. Die spontanen Fraternisierungen zwischen britischen und deutschen Soldaten erscheinen somit in perverser Weise als Vorwegnahme des Bündnisses zwischen dem Dritten Reich und dem faschistischen England. Es folgt die "Kampfzeit der Bewegung" in den 20er/30er Jahren. Wir sehen Oswald Mosley als Redner bei einer Demonstration. Es kommt zu einer Straßenschlacht zwischen Schwarzhemden und Kommunisten, die einen an die "Schlacht von Cable Street" vom Oktober 1936 denken lässt. Als Hauptfeinde erscheinen neben den "Bolschewiken" die "jüdischen Großkapitalisten", deren Einfluss auf die schwache, korrupte und desorientierte Regierung erst zum Chaos im Inneren und schließlich zum Krieg gegen Deutschland geführt habe. Die deutsche Invasion wird selbstverständlich als Befreiung dargestellt, die es den "wahren Patrioten" erlaubt habe, mit der Zerschlagung des Bolschewismus, der Errichtung des korporatistischen Staates und der "Lösung der jüdischen Frage" England zu wahrer Größe und Ehre zurückzuführen.
Die Sequenz findet ihren Abschluss in der lange Zeit zensierten, sechsminütigen Szene. In der Rolle faschistischer Ausbilder versuchen Frank Bennett und zwei weitere Neonazis einer Gruppe von Rekrutinnen, zu denen auch Pauline gehört, die "nationalsozialistische Weltanschauung" darzulegen. Den Rekrutinnen ist es erlaubt, Fragen zu stellen und ihre Zweifel vorzubringen. Für mich war das eine der effektvollsten Szenen des ganzen Filmes. Die Nazi-Ideen vom "jüdischen Untermenschentum" und den "Vorzügen der Euthanasie" wirken nur um so grauenerregender, wenn sie einem nicht als Parolen entgegengebrüllt, sondern in einem ruhigen, "vernünftigen" Tonfall vorgetragen werden. Und da die Rekrutinnen diese Ideen zumindest "maßvoll" hinterfragen dürfen, wird zugleich die Absurdität dieser Weltanschauung bloßgestellt. So erklären Bennett & Co z.B., der Bolschewismus und das Judentum seien "quasi identisch", palavern aber wenig später vom "jüdischen Kapitalismus". Auf diesen Widerspruch angesprochen, wissen sie natürlich keine vernünftige Antwort zu geben. Überhaupt können sie auf sämtliche Einwürfe nicht anders reagieren als mit der stupiden Wiederholung vorgefertigter Parolen.
Jim Linwood hat die Publikumsreaktion auf diese Szene während einer der ersten Aufführungen im Jahr 1964 einmal so geschildert:
The Board of Deputies of British Jews [...], whilst applauding the film's motives, thought that the six-minute improvised scene in which the real Nazis (including Frank Bennett) propounded their views to Pauline might influence immature minds. In fact in this scene the fascists' opinions were so self-condemning and ludicrous that at the Odeon Leicester Square showing the audience burst into derisive laughter, drowning out Bennett and his cronies who had come along to applaud.
Eine der Stärken von It Happened Here besteht darin, dass der Film den Faschismus nicht einfach als eine Ausgeburt des Bösen darstellt, die sich jedem rationalen historischen Verständnis entzieht. Indem er einige seiner zentralen ideologischen Standpunkte zur Sprache bringt, lässt er zumindest implizit erahnen, wie der Faschismus zur Macht gelangen konnte. Der starke Staat als Retter in einer von heftigen sozialen Konflikten geprägten Zeit. Populistische antikapitalistische Phrasen. Die enge Verflechtung von Antisemitismus und Antikommunismus. Vor allem letzteres ist von großer Bedeutung, wenn man das Phänomen der Kollaboration verstehen will. Die englische Freiwilligenlegion und die englischen SS-Verbände sind ja den realen Vorbildern ebensolcher Einheiten aus einer ganzen Reihe europäischer Länder nachempfunden, welche nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion entstanden, um das Hitlerregime in seinem selbsterklärten "Kreuzzug der europäischen Völker gegen den Bolschewismus"**** zu unterstützen, der schließlich auch den Weg zum Holocaust ebnete.

Freilich bleibt es in It Happened Here unklar, welche Teile des alten Establishments sich mit den Nazibesatzern arrangiert haben. Zu unbedeutend kann dieser Bestandteil jedoch nicht sein, andernfalls wäre Mosleys Regime kaum funktionstüchtig und wäre nach dem Abzug der meisten Wehrmachtseinheiten sehr schnell zusammengebochen. Auffällig ist, dass der Film nirgends auch nur andeutet, wie sich das britische Königshaus angesichts der Invasion verhalten hat. Diese hypothetische Frage war vielleicht selbst für Brownlow und Mollo ein zu heißes Eisen.

Doch nun zurück zur eigentlichen Handlung.

Auch nach ihrer IAO-Ausbildung ist Pauline keine hundertprozentig überzeugte Nationalsozialistin geworden. Das wird durch eine ganze Reihe kleiner Szenen verdeutlicht. Sie blättert offensichtlich gelangweilt durch einen Stapel von Propagandamagazinen, wechselt während der Radioübertragung einer Rede des "Leaders" (Mosley) den Sender und reagiert zunehmend genervt auf die allgegenwärtige Marschmusik. Auch ist deutlich zu erkennen, wie unwohl sie die Blicke machen, die man ihr in ihrer schwarzen Uniform im Bus zuwirft. Doch als sie ihren alten Freund Dr. Fletcher und seine Frau besucht und feststellen muss, dass die beiden Kontakt zum Widerstand unterhalten, verteidigt sie ihre Entscheidung, sich auf die Seite der "Ordnung" gegen die "mörderischen Partisanen" gestellt zu haben.
Allerdings käme es ihr nie in den Sinn, das Paar an die Polizei zu verraten. Als es dennoch zur Verhaftung der Fletchers kommt, hat das auch für Pauline unangenehme Konsequenzen, da sie bei ihren Besuchen vom örtlichen Blockwart beobachtet wurde. Sie wird gemaßregelt und zur "Rehabilitation" in ein ländliches Hospital versetzt.
Zuerst scheint sich diese Strafversetzung als überraschend angenehm zu erweisen. Das Krankenhaus ist ein idyllisch gelegenes altes Gebäude inmitten eines großen Parks. Sie wird vom Personal sehr freundlich aufgenommen. Und sie darf sogar ihre Uniform ablegen und endlich wieder in die normale Krankenschwestertracht schlüpfen. Die Hauptaufgabe des Hospitals besteht offiziell in der Behandlung von osteuropäischen Zwangsarbeitern aus einem nahe gelegenen Lager, die an Typhus erkrankt sind. Doch dann muss Pauline mit Grauen feststellen, dass das Krankenhaus in Wirklichkeit ein Euthanasie-Zentrum ist. Keiner der russischen oder polnischen Männer, Frauen und Kinder verlässt lebend das Gelände. In einer extrem eindringlichen Szene bekommen wir zu sehen, wie all die "netten" Krankenschwestern und Ärzte Pauline zu erklären versuchen, warum das, was sie hier tun völlig in Ordnung und letztenendes sogar human sei. Die Banalität des Bösen.
Hiermit ist der Punkt erreicht, an dem Pauline nicht länger stillschweigend mitmachen kann. Wir sehen, wie sie in Handschellen nach London transportiert wird. Doch bevor sie dort ankommt, wird der Zug von Partisanen überfallen.

Der Film endet auf einer sehr düsteren Note. Pauline hat sich bereit erklärt, als Krankenschwester für die Partisanen und ihre amerikanischen Verbündeten zu arbeiten. Aus dem Radio erklingen Durchsagen der "British Liberation Army", die ähnlich propagandistisch aufgeblasen wirken wie die faschistischen Radioprogramme, die wir zuvor immer wieder zu hören bekommen haben. Zur selben Zeit werden in einem nahegelegenen Dorf Angehörige der englischen Freiwilligenlegion nach ihrer Kapitulation von den Partisanen mit Maschinengewehren niedergemacht.
Diese Schlussszene muss wohl im Zusammenhang mit einer Bemerkung gesehen werden, die Dr. Fletcher früher im Film gemacht hatte: "The appalling thing about fascism is that you've got to use fascist methods to get rid of it". Eine meiner Ansicht nach höchst fragwürdige Einschätzung.

Doch auch wenn mir dieses Ende etwas problematisch erscheint, ist It Happened Here ganz ohne Frage einer der beeindruckendsten Filme, die ich seit langem gesehen habe.


* Digital Drama hat eine Hörspielversion des Stückes produziert, die ich mir aber noch nicht angehört habe.
** Ich nehme mal an, der Titel wurde in Anlehnung an Sinclair Lewis' dystopischen Roman It Can't Happen Here (1935) ausgewählt, der die Entstehung eines faschistischen Regimes in den USA  beschreibt.
*** Linwood lebte Anfang der 60er zusammen mit ein paar Kumpels in einem Haus in West Hampstead, "[where] we played host to some of the less conservative elements in Anglofandom [...] including, at one time or another, Les Spinge editor Dave Hale, Mike Moorcock, Barry Bayley, George Locke, Ivor Mayne, Chris Miller (founder of the Oxford University SF Group), Ken Potter, Tony and Simone Walsh, Cliff Teague, Rog Peyton, and assorted girlfriends. The most significant event although we didn’t realise it at the time occurred one evening when a breathless Moorcock crashed into the communal kitchen announcing: "I've got New Worlds." The card school paused for a moment and then resumed play, not knowing then how those four words would change forever both the fannish world we knew and science fiction almost beyond recognition."
**** "We shall fight on the beaches, we shall fight on the landing grounds, we shall fight in the fields and in the streets, we shall fight in the hills; we shall never surrender" (Winston Churchill, 4. Juni 1940)
***** Vgl. Arno J. Mayer: Der Krieg als Kreuzzug. Das Deutsche Reich, Hitlers Wehrmacht und die "Endlösung". S. 341.

Samstag, 11. August 2018

Strandgut der Woche

Freitag, 10. August 2018

Willkommen an Bord der "Liberator" – S02/E11: "Gambit"

Ein Blake's 7 - Rewatch

Bevor wir in die Episode selbst einsteigen, ein kurzes Travis-Update. Bei unserer letzten Begegnung war der Ex-Commander eine Art inoffizieller Undercover-Agent für Servalan, der sich {über einen beträchtlichen Zeitraum, möchte man meinen} das Vertrauen der Verschwörergruppe um Ven Glynd und Gouverneurin Le Grand erschlichen hatte. In Gambit ist er plötzlich wieder ein einsamer Renegat, der auf eigene Faust seine Rache an Blake zu vollstrecken versucht und nicht gerade auf gutem Fuß mit der Obersten Befehlshaberin steht. Sinn macht das zwar nicht, soll uns aber auch nicht weiter stören. Denn wenn man bereit ist, über dieses eigenartige Kontinuitätsproblem hinwegzuschauen, macht Gambit wirklich eine Menge Spaß.

In Pressure Point hatte Blake von Servalan selbst, die im Augenblick ihres scheinbaren Triumphes in den äonenalten Fehler aller Erzbösewichter -- Geschwätzigkeit -- verfallen war, erfahren, dass "Control", das Computer-Nervenzentrum der Föderation, auf einen fernen Planeten verlegt wurde, dessen genaue Lage nicht einmal der Führungsriege des Regimes bekannt ist. In Countdown war es unserem Helden dann gelungen, dem sterbenden Offizier Provine den Namen des Cyberchirurgen Docholli zu entlocken, der als einziger wissen soll, wo sich der mysteriöse "Star One" befindet.

Dochollis Aufgabe war es, die Erinnerungen der Techniker zu löschen, die "Star One" gebaut hatten. Am Ende setzte er sich jedoch selbst ab und befindet sich seitdem auf der Flucht vor Servalans Agenten. Und auch wenn er einmal einer der führenden Cyberchirurgen der Föderation war -- reich und privilegiert -- dürfte seine Lage inzwischen deutlich anders aussehen, wie Blake ganz richtig bemerkt: "When you've been on the run for as long as Docholli has, everything costs: false identity papers, phony visas. I mean no one's going to stick out their neck helping him unless they stick out their hand first."
Wenn wir Docholli (Denis Carey) zum ersten Mal zu sehen bekommen, macht er denn auch wirklich einen reichlich heruntergekommenen Eindruck. Es hat ihn in die unabhängige Kolonie Freedom City verschlagen, wo er nun in einer billigen Kneipe hockt und seiner Gewohnheit entsprechend versucht, Schuldgefühle und Hoffnungslosigkeit in Alkohol zu ertränken. Als einer seiner letzten, ganz und gar nicht zufriedenen "Patienten" aufkreuzt und den Cyberchirurgen umlegen will, tritt überraschenderweise Travis als sein Beschützer in Aktion. Der einäugige Ex-Commander hat sich zu Dochollis "Leibwächter" erklärt, da er hofft, dass früher oder später Blake auftauchen wird, um nach dem Arzt zu suchen.

Servalan ist unseren Helden diesmal einen Schritt voraus und befindet sich gleichfalls bereits in Freedom City. Da die Station nicht der Juridisktion der Föderation untersteht, ist die Oberste Befehlshaberin gezwungen, die Hilfe des dekadenten Krantor (Aubrey Woods) in Anspruch zu nehmen. Der Besitzer des Spielkasinos "The Big Wheel" scheint so etwas wie der örtliche Pate und der ungekrönte König von "Freedom City" zu sein. Wie sehr schnell deutlich wird, haben die beiden denkbar wenig füreinander übrig. Servalan weist die schleimigen sexuellen Avancen Krantors mit kaum verhohlener Verachtung zurück. Etwas später wird sie gegenüber ihrem Handlanger Jarriere (Harry Jones) erklären: "When the Federation finally cleans out this cesspit, I shall have that vulpine degenerate eviscerated with a small and very blunt knife." Für den Moment braucht sie zwar Krantors Hilfe bzw. die seiner Totschläger, um Docholli und Travis in die Hände zu bekommen, aber um die zu erhalten, sollte ein Mindestmaß an professioneller Höflichkeit und das In-Aussicht-Stellen einer angemessen hohen finanziellen Entschädigung wohl genügen.

Derweil hat endlich auch die Liberator Freedom City erreicht. Blake begibt sich zusammen mit Jenna und Cally auf die Oberfläche, um nach Docholli zu suchen.
Dass Vila auf dem Schiff bleiben soll, ist nach seiner Drogeneskapade auf der ähnlich freizügigen Station Space City in Shadow im Grunde nur vernünftig. Aber diesmal findet er einen unerwarteten Verbündeten in Avon. Eigentlich sind die beiden ja nicht gerade gute Freunde. Avon hält Vila für einen ausgemachten Idioten, Vila Avon für einen arroganten Egoisten. Aber eines verbindet sie: Die Gier nach Geld. Und so beschließen sie, gemeinsam mit der Hilfe von Supercomputer Orac im "Big Wheel" die Bank zu sprengen.

Gambit war Robert Holmes' zweiter Beitrag zu Blake's 7. Und nach seinem eher mittelmäßigen Einstand in Killer, legt er hier ein echtes Prachtstück hin.
Krantor und sein Kompagnon Toise (John Leeson), die die ganze Zeit über zur Feier von Mardi Gras in Pseudo-Rokoko-Aufmachung durch die Gegend laufen, geben ein wirklich grandios dekadentes Gauner-Pärchen ab. Und ein Gutteil der Episode besteht aus ihren und Servalans´Versuchen, sich gegenseitig auszutricksen.
Einen Strich durch die Rechnung machen ihnen dabei das unerwartete Auftauchen von Blake & Genossinnen, sowie die patente Bardame Chenie (Nicolette Roeg), die Docholli in ihr (goldenes) Herz geschlossen hat. Der größte Verlierer ist jedoch Travis, der von allen Parteien ausgenutzt wird und völlig gedemütigt zurückbleibt. Eine Erfahrung, die seine Rolle in der finalen Episode der Staffel vielleicht etwas nachvollziehbarer erscheinen lässt.
Und ganz nebenbei ziehen auch noch Vila und Avon mit großem Erfolg ihren Coup im "Big Wheel" durch.

Am Ende wissen unsere Helden & Heldinnen zwar immer noch nicht, wo sich "Star One" befindet, aber immerhin haben sie erfahren, dass sich der einzige Techniker, dessen Gedächtnis nicht von Docholli gelöscht wurde, auf dem barbarischen Planeten Goth aufhalten soll.



Sonntag, 5. August 2018

Strandgut der Woche

Samstag, 4. August 2018

Madam, will you walk, will you talk with me?

Richter George Jeffreys (1645-89), der "Hanging Judge", verdiente sich seinen finsteren Ruf als besonders rücksichtsloser und grausamer Verteidiger des Restaurationsregimes von Charles II. und James II., der eine führende Rolle bei der blutigen Unterdrückung der letzten Anhänger des "Good Old Cause" der Revolution spielte. Als Lord Chief Justice hatte er den Vorsitz sowohl 1683 bei dem Hochverratsprozess gegen den Republikaner Algernon Sidney, als auch 1685 bei den berüchtigten "Bloody Assizes" inne, in deren Verlauf Hunderte von Anhängern der gescheiterten Monmouth-Rebellion im Eilverfahren abgeurteilt wurden. Der König dankte es ihm, indem er ihn zum Lord Chancellor erhob. Beim einfachen Volk hingegen erwarb Jeffreys sich damit unsterblichen Hass, was er nach dem Staatsstreich von 1688 (der sog. "Glorious Revolution") deutlich zu spüren bekommen sollte. Sein Leben endete im Tower.

Wenn man erfährt, dass Judge Jeffreys eine prominente Rolle in einer der unheimlichen Geschichten spielt, die M.R. James 1911 in More Ghost Stories of an Antiquary herausgab, wird man vielleicht spontan annehmen, die blutige Reputation des Richters werde als Aufhänger für die Story benutzt. Überraschenderweise ist dem jedoch nicht der Fall. Ehrlich gesagt, hinterlässt der "Hanging Judge" hier gar keinen so unsympathischen Eindruck. Doch das ist nur einer der Gründe, warum ich Martin's Close so interessant finde.

Da wäre zuerst einmal das Format der Geschichte.
Die Eröffnungssequenz ist relativ typisch gehalten: Während einer Reise durch den Westen Englands stößt der Erzähler, in dem wir unschwer M.R. James selbst erkennen können, in einer ungenannten ländlichen Gemeinde auf eine kuriose kleine Gemarkung -- "a very few square yards, hedged in with quickset on all sides, and without any gate or gap leading into it" --, die von den Einheimischen "Martin's Close" genannt wird. Angeblich soll sich dort das Grab eines Mannes befinden, der nahebei im 17. Jahrhundert gehängt wurde. Von Alters her ranken sich um den Ort Geschichten von einer Geistererscheinung, doch die Details sind keinem der heute noch Lebenden mehr bekannt. Auch nach seiner Rückkehr in die heimatliche "neighbourhood of libraries" (Cambridge) gelingt es dem Erzähler voerst nicht, genaueres über das Schicksal des damals hingerichteten George Martin Esquire herauszufinden. Doch Jahre später gelangt zufällig das Protokoll der Gerichtsverhandlung in seinen Besitz. Der Hauptteil von Martin's Close besteht aus der gekürzten Wiedergabe dieses Protokolls, von der Verlesung der Anklageschrift bis zur Verkündung des Urteils durch Judge Jeffreys.

M.R. James war ein begeisterter Leser solch alter Gerichtsprotokolle, geben sie doch nicht nur einen Einblick in das Leben und Denken vergangener Generationen, sondern auch in die authentische Sprache des "einfachen Volkes" jener Zeiten, der wir in offiziellen Dokumenten und Chroniken nicht begegnen. Man kann sich gut vorstellen, wieviel Spaß es ihm gemacht haben muss, den Stil dieser Protokolle nachzuahmen. Ähnliche literarische Unternehmungen hatte er schon in jungen Jahren unternommen. Auf jedenfall erhält Martin's Close damit eine sehr eigene Form, besteht der Großteil der Erzählung doch aus dem Wortwechsel zwischen Richter, Ankläger und Zeugen.

Die Datierung der Verhandlung hat mir zuerst etwas Probleme bereitet. In der Anklageschrift heißt es, der Mord sei " upon the 15th day of May, in the 36th year of our sovereign lord King Charles the Second" begangen worden, und etwas später spricht der Ankläger von "Christmas of last year, that is the year 1683". Wie kann 1684 das sechsunddreißígste Jahr der Herrschaft Charles II. sein, wenn die Monarchie doch überhaupt erst 1660 wieder aufgerichtet wurde? Die Antwort ist denkbar simpel: Sein Vater Charles I. war 1649 hingerichtet worden, und nach der Restauration zählte man dies offenbar ganz einfach als das erste Regierungsjahr des neuen Königs, obwohl England für die nächsten elf Jahre in Wirklichkeit ein republikanischer Commonwealth gewesen war.
Man könnte meinen, solche antiquarischen Details seien ja nun wirklich nebensächlich, aber zumindest für mich tragen sie viel zum Charme von M.R. James bei. Sie verleihen seinen Geschichten eine Aura von Authentizität.

Der Angeklagte George Martin ist von Exeter nach London gebracht worden, da ein fairer Prozess mit unparteiischen Geschworenen  in seiner Heimatgrafschaft nicht hätte durchgeführt werden können. Grund dafür ist Martins soziale Stellung als Mitglied der landbesitzenden Gentry.
Anfangs noch häufiger von dem ungeduldigen Judge Jefrreys unterbrochen, beginnt der Anklänger den Fall in aller nötigen Weitschweifigkeit darzulegen. Zu Beginn charakterisiert er das Mordopfers Ann Clark. "A poor country girl", aber mit durchaus respektablen und liebevollen Eltern, "[she] was one to whom Providence had not given the full use of her intellects, but was what is termed among us commonly an innocent or natural". Martin trifft sie zufällig bei einem abendlichen Tanzvergnügen in ihrem Heimatdorf, an dem Ann freilich nur als stumme Zuschauerin teilnimmt. Er macht sich einen Spaß daraus, die junge Frau zum Tanz aufzufordern, obwohl die Dorfbewohner ihn davon abhalten wollen. Ann realisiert nicht, dass sie eigentlich das Opfer eines ziemlich grausamen Scherzes geworden ist, sondern ist vielmehr "greatly tickled with having got hold (as she conceived it) of so likely a sweetheart". Zumal Martin in den folgenden Wochen immer wieder in das Dorf kommt und sich mit ihr trifft. Dabei dient die Melodie des Liedes, zu dem sie getanzt haben -- Madam will you walk, will you talk with me? -- als Erkennungszeichen zwischen den beiden. Die Situation ändert sich dramatisch, als Martin eine Heirat mit einer wohlhabenden Tochter seiner eigenen sozialen Kreise in Aussicht gestellt wird. Von nun an ist ihm die anhängliche Ann bloß noch lästig. Er schlägt sie sogar auf offener Straße mit seiner Reitpeitsche. Doch zu spät: Als die unziemliche "Affäre" in den Kreisen der Gentry bekannt wird, wird die bevorstehende Verlobung abgesagt. Einige Zeit später, genauer gesagt am 15. Mai,  wird ein erneutes Treffen zwischen Martin und Ann Clark beobachtet: "Upon that day the prisoner comes riding through the village, as of custom, and met with the young woman: but in place of passing her by, as he had lately done, he stopped, and said some words to her with which she appeared wonderfully pleased, and so left her; and after that day she was nowhere to be found, notwithstanding a strict search was made for her."
An diesem Punkt setzt das übernatürliche Moment der Geschichte ein. Denn die ermordete und in einen Brunnen geworfene Ann Clark kehrt aus ihrem feuchten Grab zurück, um ihren Mörder zu verfolgen. Doch trotz einiger atmosphärisch recht gelungener Szenen, wird es dabei nie so richtig unheimlich, denn die Struktur der Erzählung schafft eine gar zu große Distanz zwischen dem Leser und dem gruseligen Geschehen. Wir hören von den Geistererscheinungen in den Zeugenaussagen eines Prozesses, dessen Protokoll der eigentliche Erzähler der Geschichte gefunden hat. Damit sind wir als Leserinnen & Leser zwei, wenn nicht gar drei "Schritte" weit von den Ereignissen entfernt.  
Ein Detail möchte ich aber doch hervorheben: Ann Clarks "Geist" ist nicht so immateriell, wie man es von Vertretern dieser phantastischen Gattung vielleicht gewohnt ist. Die Indizien weisen eher auf eine Art Wandelnden Leichnam hin. Und das ist durchaus typisch für M.R. James, besitzen dessen "Gespenster" doch sehr oft eine beunruhigend körperliche, haptische Qualität.

Doch das unheimliche Element ist für mich nicht die wirkliche Stärke von Martin's Close.

Da wäre zuerst einmal die Lebendigkeit der protokollierten Wortwechsel.
Wir bekommen einen recht guten Eindruck von Judge Jeffreys Persönlichkeit. Zwar wirkt er weniger sadistisch, als sein Ruf ihn erscheinen lässt, aber er ist ohne Zweifel ein reichlich autoritärer Bursche mit einem Hang zur Einschüchterung. Als ein kleiner Junge als Zeuge aussagen soll, versucht der Ankläger ihn zu beruhigen -- "Now, child, don’t be frighted: there is no one here will hurt you if you speak the truth." --, doch Jeffreys hält nichts von solchen Nettigkeiten: "Ay, if he speak the truth. But remember, child, thou art in the presence of the great God of heaven and earth, that hath the keys of hell, and of us that are the king’s officers, and have the keys of Newgate; and remember, too, there is a man’s life in question; and if thou tellest a lie, and by that means he comes to an ill end, thou art no better than his murderer; and so speak the truth." Jeffreys' Zynismus und seine {historische verbriefte} Vorliebe für schwarzen Humor sind gleichfalls deutlich erkennbar. Als zum ersten Mal von der Tanzmelodie die Rede ist, gibt er folgenden Kommentar ab: "I doubt it is the first time we have had dance-tunes in this court. The most part of the dancing we give occasion for is done at Tyburn. [Looking at the prisoner, who appeared very much disordered.]" Tyburn war Londons Galgenstätte. Hinzu kommen einige neckische Momente, wenn Jeffreys Schwierigkeiten damit hat, den ländlichen Dialekt der Zeugen zu verstehen. Schließlich wird sogar ein "Übersetzer" zur Hilfe gerufen.
    
Der zweite Punkt ist der Charakter des Verbrechens. Anders als in den meisten Geschichten von M.R. James sind die übernatürlichen Ereignisse in Martin's Close eine Form der Strafe für den Missbrauch an einem Schwächeren. George Martin ist gleich in dreifacher Hinsicht Ann Clark gegenüber privilegiert: Er ist ein Mitglied der Gentry; er ist ein Mann; und sie ist offenbar in irgendeiner Form geistig behindert.
Wie Tina Rath in einem in Ghosts and Scholars erschienenen Artikel recht überzeugend darlegt, knüpft die Geschichte an ein verbreitetes folkloristisches Motiv an: Ein Edelmann verführt ein Bauernmächen und ermordet diese, nachdem sie schwanger geworden ist. Zur Untermauerung ihrer These zitiert sie Verse aus zwei Volksliedern, die in der Tat eine Menge Parallelen zur Handlung von Montys Story aufweisen:

"Ann Clark suffers the fate of "fair Susan":

 
With seeming kindness in his face which made poor Susan gay
He did appoint a lonely place to meet with her next day
The hour arriv'd, she hasten'd there to the appointment true
Where the deceitful murderer the lovely damsel slew.

When she beheld his deadly knife she rais'd her lovely face
Crying, Oh! spare, Oh! spare my life and leave me to disgrace
Have pity on your unborn babe tho' you have none for me;
Alas! a dark untimely grave my bridal bed will be.

And of the "Oxford Girl":

 
He pulled a dagger from his coat and laid her down to the ground
And there the blood came trickling a trickling from the wound

He grabbed her by her curly locks and he dragged her to the stream
There he bides a-thinking when at last he throws her in.
"

Freilich deutet Martin's Close nirgends offen an, dass Ann Clark schwanger geworden wäre. Wir können nicht einmal sicher sein, dass es eine sexuelle Beziehung zwischen ihr und Martin gegeben hat. Vielmehr betonen die Zeugen immer wieder ausdrücklich, wie wenig attraktiv das junge Mädchen gewesen sei.
Und doch scheint mir Tina Raths Argumentation sehr überzeugend zu sein: Wir wissen, dass sich die beiden immer wieder nicht nur im Dorf, sondern auch auf dem Moor getroffen haben. Ich kann mir schwerlich einen anderen Grund für diese Treffen denken, als dass Martin die naive Vernarrtheit Anns sexuell ausgenutzt hat. Und was die Schwangerschaft betrifft: Es ist in der Tat auffällig, dass der Mord keine impulsive Reaktion auf die Auflösung der standesgemäßen Verlobung ist, wie der öffentliche Peitschenschlag, sondern offenbar sehr kaltblütig geplant wurde. Eine Martin erst kurz zuvor bekannt gewordene Schwangerschaft Anns wäre für dieses Verhalten eine ausgezeichnete Erklärung.
Doch wie auch immer man über die Details des Falles denken mag, man wird ein zustimmendes Kopfnicken und Grinsen kaum unterdrücken können, wenn Judge Jeffreys den von panischer Angst vor der untoten Ann Clark erfüllten Martin mit folgenden Worten zum Galgen schickt: "And I hope to God, that she will be with you by day and by night till an end is made of you."         


PS: Gäbe es Will Ross & Mike Taylors grandiosen A Podcast to the Curious nicht, würde auch dieser Blogpost nicht existieren.
PPS: Niemand anderes als der unvergleichliche Jess Franco hat einen Film über George Jeffreys gedreht. Mit Christopher Lee in der Hauptrolle!  Ich denke, ich werde mir schon allein aus Bildungsgründen morgen The Bloody Judge (1970) anschauen müssen.