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Freitag, 17. August 2018

Hitlers England

Im Mai 1956 beschloss der siebzehnjährige Kevin Brownlow, der gerade seine Ausbildung bei World Wide Pictures begonnen hatte, einen Film zu drehen, der in einem von den Nazis besetzten Großbritannien spielen sollte. Wie es dazu kam, schilderte er sechs Jahre später gegenüber der Zeitschrift Film: 
The first film I made, The Capture, was based on a Maupassant story about the Franco-Prussian occupation. It was a failure and I wanted to make another occupation film. I’d just gone into the film industry as an office boy and walking from the laboratory. I saw a car draw up outside a delicatessen. Some Germans jumped out and began conversing with each other and it seemed vivid and odd. That was the click.
Alternativhistorische Geschichten, die einen Sieg der Achsenmächte postulierten, waren auch 1956 nichts gänzlich unbekanntes. Neben antifaschistischen Dystopien aus der Vorkriegszeit wie Katharine Burdekins Swastika Night (1937) seien vor allem  Noël Cowards 1947 uraufgeführtes Theaterstück Peace in Our Time* sowie der phantastische Roman The Sound of his Horn (1952) von Sarban (John William Wall) genannt. Der vielleicht bekannteste Vertreter der Gattung, Philip K. Dicks The Man in the High Castle, sollte allerdings erst sechs Jahre später erscheinen.
Ob Brownlow von irgendeinem dieser Werke beeinflusst wurde, ist mir nicht bekannt. Ich halte es aber eher für unwahrscheinlich. Peace in Our Time war scheinbar kein besonders großer Publikumserfolg und wurde auch später nur sehr selten aufgeführt, vor allem da das Stück über vierzig handelnde Figuren besitzt. Und was The Sound of his Horn betrifft ist Brownlows Film, der den Titel It Happened Here** erhalten sollte, in seinem quasi-dokumentarischen Realismus Meilen weit entfernt von der bizarren Alptraumvision eines der Menschenjagd frönenden Nazi-Feudalherren, die Sarban in seinem Roman entwirft. Weniger verstörend ist er deshalb allerdings nicht.

Doch bevor wir uns dem Streifen selbst zuwenden, wollen wir uns zuerst einmal seine erstaunliche Entstehungsgeschichte betrachten.

Brownlows ursprüngliche Vorstellung ging wohl eher in Richtung B-Movie und das Ganze sollte mit einem richtig großen Knall  – dem Abwurf einer amerikanischen Atombombe über Nordengland  – enden. Doch dann lernte er den ein Jahr jüngeren Geschichtsenthusiasten Andrew Mollo kennen, der das bisher Geschriebene und Gefilmte wegen mangelnder Authentizität einer vernichtenden Kritik unterzog. Brownlow zerstörte den Großteil des bereits gefilmten Materials, und gemeinsam machten sich die beiden erneut ans Werk, diesmal mit einem an Fanatismus grenzenden Anspruch auf historische Genauigkeit, was sie außerdem schon bald zu der Überzeugung führte, "that to give it any validity, it must have political meaning. Otherwise it would be just a romp in Nazi uniform."

Die sich über acht Jahre hinziehende Produktion war das Werk einer Schar enthusiastischer Amateure und Semi-Amateure. It Happened Here verfügte praktisch über keinerlei Budget. Gedreht wurde auf 16mm - Film. Das Team bestand aus über 900 Freiwilligen, zu denen auch eine ganze Reihe Vertreter des britischen SciFi - Fandoms wie Pat Kearney und Jim Linwood gehörten.***  Uniformen, Waffen und Militärfahrzeuge {u.a. einen  allerdings fahruntüchtigen Jagd-Panzer Panther} besorgte man sich aus privaten Sammlungen. Unter den Darstellern befanden sich nur eine wenige professionelle Schauspieler wie Sebastian Shaw, der den antifaschistischen Doktor Fletcher verkörperte.
In einer ziemlich umstrittenen Entscheidung besetzten Brownlow und Mollo nicht nur die Rollen deutscher Soldaten mit ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, sondern auch die einiger englischer Faschistenführer mit echten britischen Nazis. Der berüchtigste von ihnen war ohne Zweifel Frank Bennett, von dem Linwood später erzählt hat: 
Bennett was [...] a member of Colin Jordan's British National Socialist Movement. He was a well-known figure in the King’s Road, Chelsea, wearing a leather raincoat and exercising his bull-terrier, Baldur. The dog was named after Baldur von Schirach, leader of the Hitler Youth and Gauleiter of Vienna. Bennett claimed to have shaken Hitler’s hand during the Berlin Olympics and had escaped internment during the war by joining the Merchant Navy so he wouldn’t have to kill Germans. Andrew and Kevin met him at a party at which he became immediately enthusiastic about the film.
"I shall play Hitler," he had proclaimed. 
Although he did affect a little moustache and hair brushed down one side of his face, he bore a closer resemblance to Captain Mainwaring in Dad’s Army than the Fuehrer.
Bennett und seine Gesinnungsgenossen hatten offenbar die irre Vorstellung, der Film werde es ihnen erlauben, ihre nationalsozialistische Weltanschauung in einem "fairen Licht" darzulegen. Was Brownlow später zu dem Kommentar veranlasste, er habe ihnen die Gelegenheit geboten, "to condemn themselves out of their own mouths." 

Nach sechs Jahren leidenschaftlicher Arbeit drohte das Projekt 1962 doch noch an Geldmangel zu scheitern, aber zum Glück erwies sich Tony Richardson als Retter aus der Not.
Als Theaterregisseur hatte Richardson zur Gruppe der "angry young men" gehört, die auf die eine oder andere Weise gegen die britische bürgerliche Gesellschaft und ihre heuchlerische Moral aufzubegehren und sich dabei mit der Arbeiterklasse zu identifiizieren versuchten  1958 hatte er zusammen mit Stückeschreiber John Osborne und Produzent Harry Saltzman Woodfall Film Productions gegründet, die zu einer der führenden Vertreterinnen der britischen "New Wave" wurde  Das Debüt der Firma war eine Adaption von Osbornes Stück Look Back in Anger (1959) gewesen, an dessen Drehbuch Nigel Kneale mitgearbeitet hatte. Die Regie war natürlich von Richardson selbst übernommen worden.
Andrew Mollo arbeitete Anfang der 60er für Woodfall Films und lernte auf diesem Weg Tony Richardson kennen. Dieser zeigte sich von It Happened Here beeindruckt und erklärte sich bereit, die Fertigstellung des Films zu finanzieren, vorausgesetzt das Format ließe sich auf kommerziell verwendbare 35mm konvertieren. Das wurde bewerkstelligt, und für die noch zu drehenden Szenen stellte Stanley Kubrick unbenutztes Filmmaterial zur Verfügung, das bei der Produktion von Dr. Strangelove abgefallen war.

Im Mai 1964 war It Happened Here endlich fertiggestellt, und es begann die Tour über die Filmfestivals und die Suche nach einem Verleih.
Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen zeigten sich die Kritiker scheinbar nicht sonderlich begeistert. Hinzu kam, dass einige jüdische Verbände lauten Protest gegen den Film erhoben und ihn als antisemitisch verurteilten. Dennoch gelang es schließlich, United Artists als Verleih zu gewinnen. Allerdings erst, nachdem Brownlow und Mollo sich einverstanden erklärt hatten, dass eine sechsminütige Szene, die besonders heftige Kritik auf sich gezogen hatte, aus der kommerziellen Fassung herausgeschnitten wurde. Wir werden darauf noch zurückkommen. In englischen Kinos lief It Happened Here im Mai 1966 an. Trotz des zensorischen Eingriffs erhob der Jewish Chronicle erneut den Vorwurf des Antisemitismus und verdammte den Film als "a deplorable effort, and an insult to England"

United Artists erwiesen sich bei der breiteren Vermarktung des Filmes als eher glücklos. Vielleicht hatten sie auch kein wirkliches Interesse daran. Kevin Brownlow erhielt jedenfalls keinen einzigen Penny von UA ausgezahlt, und die Kontroverse um seinen Debütfilm hatte auf seine weitere Karriere vermutlich einen ziemlich negativen Einfluss. Wie er Jahrzehnte später einmal gesagt hat:
Had I not made It Happened Here, and approached the job of directing the conventional way, I might be watching a more substantial retrospective of my work at the NFT. To have the reputation in the industry – deserved or not – as an iconoclast, a crypto fascist and general irritant didn’t encourage producers. 
Er drehte nur noch einen weiteren Spielfim, gleichfalls als Indieproduktion: Den 1975 fertiggestellten Winstanley über die frühkommunistischen "Digger" während der Englischen Revolution.  Einen Namen machte sich Brownlow schließlich vor allem mit seinen Dokumentationen über die Stummfilmära sowie durch seine unablässigen Bemühungen um den Erhalt, die Restauration und das erneute Zugänglich-Machen von Filmen wie Napoléon (1927) von Abel Gance. 1990 gelang es ihm, die Rechte an It Happened Here zurückzuerhalten und den Film in seiner ursprünglichen Form wiederherzustellen.
Andrew Mollo wurde ein bekannter Experte für Militärgeschichte, der als Berater u.a. bei der Produktion von John Sturges' The Eagle Has Landed (1976), Roman Polanskis The Pianist (2002) und Oliver Hirschbiegels Der Untergang (2004) mitwirkte.
Aus dem It Happened Here - Team startete nur Kameramann  Peter Suschitzky eine echte Karriere in der Filmindustrie. Er arbeitete u.a. mit Joseph Losey (Figures in a Landscape [1970]), John Boorman (Leo the Last [1970]) und Ken Russell (Lisztomania [1975] & Valentino [1977]) zusammen, war der DP bei The Rocky Horror Picture Show (1975) und The Empire Strikes Back (1980), um schließlich David Cronenbergs bevorzugter Kameramann zu werden.

Doch nun zum Film selbst.


It Happened Here ist ein finsteres, kompromissloses und äußerst intelligentes Kunstwerk.

Wenn Zeitungen wie der Jewish Chronicle den Film seinerzeit so heftig verurteilten, so scheint mir dabei der {absurde} Vorwurf des Antisemitismus ein bloßer Vorwand gewesen zu sein. Was konservativere Kritiker vor allem in Rage versetzt haben muss, ist, dass It Happened Here gegen den patriotischen Mythos des "We shall never surrender"**** und die nicht weniger mythische Vorstellung vom Antifaschismus des britischen Establishments verstößt. Kein Wunder, dass sie in dem Film ein "insult to England" sahen.   

Das beginnt bereits mit der einführenden Sequenz, die im quasi-dokumentarischen Stil den alternativen Verlauf der Geschichte und damit das Setting der Geschichte beschreibt: Das Dritte Reich ist 1940 nach der Evakuierung der britischen Truppen aus Dünkirchen Sieger im "Kampf um England" geblieben. Dem "Blitz" folgte eine Bodeninvasion, und nachdem der anfänglich heftige militärische Widerstand gebrochen worden war,  wurde von den Nazis ein Quisling-Regime mit dem britischen Faschistenführer Oswald Mosley an der Spitze errichtet.
Soweit ist das bloß die zur Etablierung des Settings nötige Alternativhistorie. Doch dann erfahren wir, dass nach dem Durchbruch der Roten Armee im Jahre 1944 ein Großteil der deutschen Besatzungstruppen aus England abgezogen und an die Ostfront verlegt wurde. Im Kampf gegen die wieder aufflammende Partisanenbewgung, die von den USA unterstützt wird, stützt sich Mosleys Regierung in erster Linie auf die englische Freiwilligenlegion, die in die Wehrmacht integriert wurde, sowie auf britische SS-Verbände. Das Regime der Schwarzhemden ist also nicht bloß ein von deutschen Bajonetten an der Macht gehaltener "Fremdkörper", sondern verfügt offenbar über eine eigene soziale Basis im Land

Protagonistin des Films ist die Krankenschwester Pauline, großartig gespielt von der Laiendarstellerin Pauline Murray, die zu einer Mitläuferin der faschistischen Diktatur wird. Durch ihre Augen lernen wir die gruselige Realität von Hitlers England kennen.

Als die Bevölkerung im Südwesten Englands in Reaktion auf die anwachsende Aktivität der Partisanen evakuiert wird {wer sich danach noch in der Region befindet, gilt automatisch als feindlicher Kämpfer}, gelangt Pauline nach London.
Die Szenerie der Hauptstadt mit den deutlich sichtbaren Wunden des "Blitzes", dem von Stacheldraht umgebenen Ghetto, den allgegenwärtigen Propagandaplakaten, die zur Arbeit in Deutschland, zum Eintritt in die SS oder zum "gemeinsamen Kampf gegen Juden und Kommunisten"  aufrufen, sowie den allenthalben unter den Klängen von Marschmusik durch die Straßen stampfenden faschistischen Kohorten ist verschiedentlich mit George Orwells 1984 verglichen worden. Doch ich finde, das trifft die Atmosphäre nicht ganz. Brownlow und Mollo bezogen ihre Inspiration u.a. aus dem 1944 herausgegeben Buch A Paris, sous les bottes des Nazis. Ihre Version von London ist weniger dystopisch als vielmehr realistisch. Auch unter dem neuen Regime geht das Leben weiter. Selbst die Besatzer erscheinen nicht durchweg als uniformierte Monster. Wir sehen deutsche Soldaten, die mit ihren Freundinnen spazieren gehen oder für Andenkenfotos vor dem Albert Memorial posieren. Was natürlich nicht heißen soll, dass das Ganze nicht extrem bedrückend wirken würde. Nur eben nicht so überzogen, wie das in Dystopien oft der Fall ist.

Pauline wünscht, ihre Arbeit als Krankenschwester wieder aufzunehmen, ist jedoch anfangs nicht bereit, der Immediate Action Organisation (IAO) beizutreten. Sie will sich von allem Politischen fernhalten. Doch nachdem sie Zeugin einer Schlägerei zwischen faschistischen Kollaborateuren und Arbeitern geworden ist, ändert sie ihre Meinung. Zum einen ist die IAO der einzige Weg, auf dem sie eine Anstellung bekommen kann, zum anderen hält sie es für ihre Pflicht, die Mächte von "Law & Order" zu unterstützen. Auch wenn diese momentan die schwarzen Uniformen mit dem Blitzemblem von Oswald Mosleys British Union of Fascists (BUF) tragen.

Ihre Ausbildung und Indoktrination wird in Form einer filmischen Monatge dargestellt, unterlegt mit der für zeitgenössische Propagandastreifen üblichen Musik. Die Wirkung ist ziemlich verstörend. Vielleicht am gruseligsten ist die nächtliche Trauerfeier für einen von den Partisanen getöteten Öffizier, vor allem, wenn die Rekrutinnen & Rekruten im flackernden Fackelschein eine englischsprachige Version des Horst-Wessel-Liedes anstimmem.
Teil dieser Sequenz ist außerdem ein beeindruckend gemachter Film-im-Film, der die offizielle Version der Entstehung des Regimes vermitteln soll. Der Propandastreifen beginnt mit Szenen des Weihnachtsfriedens von 1914, die dazu verwendet werden, die Idee der "germanischen Brudervölker" zu vermitteln, die vom "Weltjudentum" gegeneinander aufgehetzt wurden. Die spontanen Fraternisierungen zwischen britischen und deutschen Soldaten erscheinen somit in perverser Weise als Vorwegnahme des Bündnisses zwischen dem Dritten Reich und dem faschistischen England. Es folgt die "Kampfzeit der Bewegung" in den 20er/30er Jahren. Wir sehen Oswald Mosley als Redner bei einer Demonstration. Es kommt zu einer Straßenschlacht zwischen Schwarzhemden und Kommunisten, die einen an die "Schlacht von Cable Street" vom Oktober 1936 denken lässt. Als Hauptfeinde erscheinen neben den "Bolschewiken" die "jüdischen Großkapitalisten", deren Einfluss auf die schwache, korrupte und desorientierte Regierung erst zum Chaos im Inneren und schließlich zum Krieg gegen Deutschland geführt habe. Die deutsche Invasion wird selbstverständlich als Befreiung dargestellt, die es den "wahren Patrioten" erlaubt habe, mit der Zerschlagung des Bolschewismus, der Errichtung des korporatistischen Staates und der "Lösung der jüdischen Frage" England zu wahrer Größe und Ehre zurückzuführen.
Die Sequenz findet ihren Abschluss in der lange Zeit zensierten, sechsminütigen Szene. In der Rolle faschistischer Ausbilder versuchen Frank Bennett und zwei weitere Neonazis einer Gruppe von Rekrutinnen, zu denen auch Pauline gehört, die "nationalsozialistische Weltanschauung" darzulegen. Den Rekrutinnen ist es erlaubt, Fragen zu stellen und ihre Zweifel vorzubringen. Für mich war das eine der effektvollsten Szenen des ganzen Filmes. Die Nazi-Ideen vom "jüdischen Untermenschentum" und den "Vorzügen der Euthanasie" wirken nur um so grauenerregender, wenn sie einem nicht als Parolen entgegengebrüllt, sondern in einem ruhigen, "vernünftigen" Tonfall vorgetragen werden. Und da die Rekrutinnen diese Ideen zumindest "maßvoll" hinterfragen dürfen, wird zugleich die Absurdität dieser Weltanschauung bloßgestellt. So erklären Bennett & Co z.B., der Bolschewismus und das Judentum seien "quasi identisch", palavern aber wenig später vom "jüdischen Kapitalismus". Auf diesen Widerspruch angesprochen, wissen sie natürlich keine vernünftige Antwort zu geben. Überhaupt können sie auf sämtliche Einwürfe nicht anders reagieren als mit der stupiden Wiederholung vorgefertigter Parolen.
Jim Linwood hat die Publikumsreaktion auf diese Szene während einer der ersten Aufführungen im Jahr 1964 einmal so geschildert:
The Board of Deputies of British Jews [...], whilst applauding the film's motives, thought that the six-minute improvised scene in which the real Nazis (including Frank Bennett) propounded their views to Pauline might influence immature minds. In fact in this scene the fascists' opinions were so self-condemning and ludicrous that at the Odeon Leicester Square showing the audience burst into derisive laughter, drowning out Bennett and his cronies who had come along to applaud.
Eine der Stärken von It Happened Here besteht darin, dass der Film den Faschismus nicht einfach als eine Ausgeburt des Bösen darstellt, die sich jedem rationalen historischen Verständnis entzieht. Indem er einige seiner zentralen ideologischen Standpunkte zur Sprache bringt, lässt er zumindest implizit erahnen, wie der Faschismus zur Macht gelangen konnte. Der starke Staat als Retter in einer von heftigen sozialen Konflikten geprägten Zeit. Populistische antikapitalistische Phrasen. Die enge Verflechtung von Antisemitismus und Antikommunismus. Vor allem letzteres ist von großer Bedeutung, wenn man das Phänomen der Kollaboration verstehen will. Die englische Freiwilligenlegion und die englischen SS-Verbände sind ja den realen Vorbildern ebensolcher Einheiten aus einer ganzen Reihe europäischer Länder nachempfunden, welche nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion entstanden, um das Hitlerregime in seinem selbsterklärten "Kreuzzug der europäischen Völker gegen den Bolschewismus"**** zu unterstützen, der schließlich auch den Weg zum Holocaust ebnete.

Freilich bleibt es in It Happened Here unklar, welche Teile des alten Establishments sich mit den Nazibesatzern arrangiert haben. Zu unbedeutend kann dieser Bestandteil jedoch nicht sein, andernfalls wäre Mosleys Regime kaum funktionstüchtig und wäre nach dem Abzug der meisten Wehrmachtseinheiten sehr schnell zusammengebochen. Auffällig ist, dass der Film nirgends auch nur andeutet, wie sich das britische Königshaus angesichts der Invasion verhalten hat. Diese hypothetische Frage war vielleicht selbst für Brownlow und Mollo ein zu heißes Eisen.

Doch nun zurück zur eigentlichen Handlung.

Auch nach ihrer IAO-Ausbildung ist Pauline keine hundertprozentig überzeugte Nationalsozialistin geworden. Das wird durch eine ganze Reihe kleiner Szenen verdeutlicht. Sie blättert offensichtlich gelangweilt durch einen Stapel von Propagandamagazinen, wechselt während der Radioübertragung einer Rede des "Leaders" (Mosley) den Sender und reagiert zunehmend genervt auf die allgegenwärtige Marschmusik. Auch ist deutlich zu erkennen, wie unwohl sie die Blicke machen, die man ihr in ihrer schwarzen Uniform im Bus zuwirft. Doch als sie ihren alten Freund Dr. Fletcher und seine Frau besucht und feststellen muss, dass die beiden Kontakt zum Widerstand unterhalten, verteidigt sie ihre Entscheidung, sich auf die Seite der "Ordnung" gegen die "mörderischen Partisanen" gestellt zu haben.
Allerdings käme es ihr nie in den Sinn, das Paar an die Polizei zu verraten. Als es dennoch zur Verhaftung der Fletchers kommt, hat das auch für Pauline unangenehme Konsequenzen, da sie bei ihren Besuchen vom örtlichen Blockwart beobachtet wurde. Sie wird gemaßregelt und zur "Rehabilitation" in ein ländliches Hospital versetzt.
Zuerst scheint sich diese Strafversetzung als überraschend angenehm zu erweisen. Das Krankenhaus ist ein idyllisch gelegenes altes Gebäude inmitten eines großen Parks. Sie wird vom Personal sehr freundlich aufgenommen. Und sie darf sogar ihre Uniform ablegen und endlich wieder in die normale Krankenschwestertracht schlüpfen. Die Hauptaufgabe des Hospitals besteht offiziell in der Behandlung von osteuropäischen Zwangsarbeitern aus einem nahe gelegenen Lager, die an Typhus erkrankt sind. Doch dann muss Pauline mit Grauen feststellen, dass das Krankenhaus in Wirklichkeit ein Euthanasie-Zentrum ist. Keiner der russischen oder polnischen Männer, Frauen und Kinder verlässt lebend das Gelände. In einer extrem eindringlichen Szene bekommen wir zu sehen, wie all die "netten" Krankenschwestern und Ärzte Pauline zu erklären versuchen, warum das, was sie hier tun völlig in Ordnung und letztenendes sogar human sei. Die Banalität des Bösen.
Hiermit ist der Punkt erreicht, an dem Pauline nicht länger stillschweigend mitmachen kann. Wir sehen, wie sie in Handschellen nach London transportiert wird. Doch bevor sie dort ankommt, wird der Zug von Partisanen überfallen.

Der Film endet auf einer sehr düsteren Note. Pauline hat sich bereit erklärt, als Krankenschwester für die Partisanen und ihre amerikanischen Verbündeten zu arbeiten. Aus dem Radio erklingen Durchsagen der "British Liberation Army", die ähnlich propagandistisch aufgeblasen wirken wie die faschistischen Radioprogramme, die wir zuvor immer wieder zu hören bekommen haben. Zur selben Zeit werden in einem nahegelegenen Dorf Angehörige der englischen Freiwilligenlegion nach ihrer Kapitulation von den Partisanen mit Maschinengewehren niedergemacht.
Diese Schlussszene muss wohl im Zusammenhang mit einer Bemerkung gesehen werden, die Dr. Fletcher früher im Film gemacht hatte: "The appalling thing about fascism is that you've got to use fascist methods to get rid of it". Eine meiner Ansicht nach höchst fragwürdige Einschätzung.

Doch auch wenn mir dieses Ende etwas problematisch erscheint, ist It Happened Here ganz ohne Frage einer der beeindruckendsten Filme, die ich seit langem gesehen habe.


* Digital Drama hat eine Hörspielversion des Stückes produziert, die ich mir aber noch nicht angehört habe.
** Ich nehme mal an, der Titel wurde in Anlehnung an Sinclair Lewis' dystopischen Roman It Can't Happen Here (1935) ausgewählt, der die Entstehung eines faschistischen Regimes in den USA  beschreibt.
*** Linwood lebte Anfang der 60er zusammen mit ein paar Kumpels in einem Haus in West Hampstead, "[where] we played host to some of the less conservative elements in Anglofandom [...] including, at one time or another, Les Spinge editor Dave Hale, Mike Moorcock, Barry Bayley, George Locke, Ivor Mayne, Chris Miller (founder of the Oxford University SF Group), Ken Potter, Tony and Simone Walsh, Cliff Teague, Rog Peyton, and assorted girlfriends. The most significant event although we didn’t realise it at the time occurred one evening when a breathless Moorcock crashed into the communal kitchen announcing: "I've got New Worlds." The card school paused for a moment and then resumed play, not knowing then how those four words would change forever both the fannish world we knew and science fiction almost beyond recognition."
**** "We shall fight on the beaches, we shall fight on the landing grounds, we shall fight in the fields and in the streets, we shall fight in the hills; we shall never surrender" (Winston Churchill, 4. Juni 1940)
***** Vgl. Arno J. Mayer: Der Krieg als Kreuzzug. Das Deutsche Reich, Hitlers Wehrmacht und die "Endlösung". S. 341.

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