Seiten

Montag, 1. Juni 2015

Der Décadent der Fantasy (5)

Der fünfte {und etwas kürzere} Teil meiner ausufernden Schreibereien über Clark Ashton Smith, George Sterling und das kalifornische Fin-de-siècle.



Perfecti & Credentes

In den goldenen Tagen von Piedmont, als ihre Freundschaft noch jung gewesen war, hatte Jack London einmal in einem Brief an George Sterling geschrieben:

I speculate and speculate, trying to make you out, trying to lay hands on the inner side of you – what you are to yourself in short. Sometimes, I conclude that you have a cunning and deep philosophy of life, for yourself alone, worked out on a basis of disappointment and disillusion. Sometimes I say, I am firmly convinced of this, and then it all goes glimmering, and I think that you don't want to think, or that you have thought no more than partly, if at all, and are living your life out blindly and naturally. (1)

Mit der Sensibilität des Freundes und Künstlers hatte London einen Wesenszug Sterlings erspürt, der dessen ganzes Leben beherrschte: Eine tiefe innere Zerissenheit, die sein Denken, seine Kunst, seine ganze Persönlichkeit kennzeichnete. Sie äußerte sich u.a in in einem Schwanken zwischen verschiedenen Positionen, die er selbst als unversöhnliche Gegensätze empfand, ohne dass er sich deshalb für eine von ihnen wirklich hätte entscheiden können: Grüblerische Melancholie & "Carpe Diem"; die Flucht in das romantische Traumland Carmel & das Bekenntnis zum Sozialismus; l’art pour l’art & soziale Verantwortung der Kunst; religiöse Sehnsucht & Atheismus.
Ohne Zweifel brachte der Dichter bereits eine entsprechende psychische Veranlagung mit, doch waren es die Umstände seines Lebens, die diese Empfindung auf die Spitze trieben und zu einem unlösbaren Problem machten, an dem er schließlich auf tragische Weise scheiterte. Nicht zu unrecht nannte man ihn den König der Bohème, denn in seiner Person verkörperte sich das Schicksal des Künstlerrebellen auf exemplarische Weise. Der ewige Widerspruch in seinem Inneren war das Ebenbild des ewigen Widerspruchs der Bohème als einer antibürgerlichen Revolte, deren Träger sich doch nie ganz vom Bürgertum zu lösen vermögen.

Trotz seines unkonventionellen Lebenswandels und seiner radikalen Ansichten war Sterling in den Augen der respektablen Kreise von San Francisco kein Pariah. Im Gegenteil: Man feierte ihn als eine Art inoffiziellen poeta laureatus der Bay Area. Wahrlich groteske Formen nahm das an, als man auf der Panama-Pacific International Exposition von 1915 einige seiner Verse neben denen Shakespeares, Dantes und Goethes in das "Tor der Vier Jahreszeiten" einmeißeln ließ und ihn damit praktisch zum amerikanischen Weltgenie kürte.
Schon so mancher talentierte und eigenwillige Künstler ist in der liebevollen Umarmung des bürgerlichen Publikums zu Tode gedrückt worden. Mehr als jeder andere aus dem Piedmont-Kreis musste Jack London erfahren, wie bitter der Erfolg schmecken kann. Von denen, die man aus tiefstem Herzen verachtet und die man mit seiner Kunst bekämpfen will, bejubelt und auf Händen getragen zu werden, muss ungeheuer demoralisierend wirken. Er verarbeitete diese Erfahrung in Martin Eden, dessen Titel ursprünglich "Success" lauten sollte.

Sterling bemühte sich nach Kräften, seine geistige Unabhängigkeit zu wahren. Doch auf welche Weise glaubte er dies Ziel erreichen zu können? Gegenüber seinem Freund, dem Journalisten Gobind Behari Lal, definierte er sein Ideal des Bohèmiens einmal wie folgt:
 
Any good "mixer" of convivial habit considers he has a right to be called a Bohemian. But that is not a valid claim. There are two elements, at least, that are essential to bohemianism. The first is a devotion (or addiction) to one or more of the Seven Arts; the other is poverty. Other factors suggest themselves: for instance, I like to think my Bohemians as young, as radical in their outlook on art and life, as unconventional, and (though this is debatable) as dwellers in a city large enough to have the somewhat cruel atmosphere of all great cities. (2)
 
Armut erscheint hier nicht als die all zu häufige Begleiterscheinung einer ernsthaften Hingabe an die Künste, sondern geradezu als eine Art moralischer Pflicht. Natürlich wollte Sterling damit zum Ausdruck bringen, dass der Bohèmien sich nicht einer Moral unterwerfen darf, die im größtmöglichen finanziellen Erfolg das höchste aller menschlichen Ziele sieht. Wie er in seinem Gedicht In the Market-Place schrieb:

In Babylon, dark Babylon,
Who take the wage of shame?
The scribe and singer, one by one.
That toil for gold and fame.
They grovel to their masters' mood;
The blood upon the pen
Assigns their souls to servitude
Yea and the souls of men. (3)

Wahre Kunst war für Sterling immer eine Form der Rebellion gegen die herrschende Gesellschaftsordnung und ihre materialistischen Wertvorstellungen. Und damit hatte er vollkommen recht. Auch steht außer Frage, dass großer finanzieller Erfolg auf Künstler und Künstlerinnen korrumpierend wirken kann. Wir brauchen uns nur ein Bisschen in der Kulturszene der Gegenwart umzuschauen. Doch muss ein Künstler deshalb unbedingt arm sein? 

Die Glorifizierung der Armut enthält stets ein starkes Element des Pessimismus. Statt auf die Überwindung der herrschenden Verhältnisse hinzuarbeiten, die man als ungerecht und entwürdigend erkannt hat, stellt man sich auf ein Leben unter ihnen ein, wobei man nur noch versucht, sich selbst vor jeder "Verunreinigung" durch die einen umgebenden korrumpierenden Mächte zu schützen – eine Art innerer Emigration. Allerdings befreit einen das letztlich nicht von der Sorge um das tägliche Brot. Man kann seine Bedürfnisse wohl herabsetzen, aber man kann sie nicht auf Null reduzieren. Wer nicht wie Diogenes in einer Tonne hausen will, wird seine Schwierigkeiten damit haben, in dieser Hinsicht hundertprozentige Unabhängigkeit zu bewahren. 

Im 12./13. Jahrhundert existierte im Languedoc und in Norditalien die mächtige Ketzerbewegung der Katharer, die für Jahrzehnte eine äußerst ernstzunehmende Bedrohung für die katholische Kirche darstellte, bis sie den Schwertern der Kreuzfahrer, den Predigten der Dominikaner und dem vielgestaltigen Instrumentarium der Heiligen Inquisition zum Opfer fiel. Die Gemeinschaft der Katharer zerfiel in zwei Klassen von Anhängern. Die "Vollendeten" (perfecti) führten ein "reines" Leben ohne Besitz und im Zölibat – sozusagen stellvertretend für alle übrigen. Sie galten als die Verkörperungen gefallener Engel und hielten sich frei von allem Bösen dieser Welt, in der sie eine Schöpfung des Teufels sahen. Die breite Masse der einfachen Gläubigen (credentes) hingegen brach nicht mit dem weltlichen Lebenswandel. Sie galten deshalb auch weiterhin als "Kinder Satans", und ihre ganze Hoffnung bestand in einer künftigen Wiedergeburt als perfecti. Sie lauschten den Predigten der "Vollendeten" und versorgten diese mit allem Notwendigen – Kleidern, Nahrung und Unterkunft. Überall dort, wo die Katharer sich fest zu etablieren vermochten, gehörten auch vermögende Vertreter der herrschenden Klassen zu den credentes. In Südfrankreich zählten z.B. beinahe der gesamte Kleinadel und nicht wenige reiche Kaufleute zu den "einfachen Gläubigen".

Sterlings Bohèmiens sind auch so eine Art perfecti, und wie diese brauchen sie ihre freigebigen credentes, um überleben zu können. Man braucht sich nur das Beispiel des Dichters selbst anzuschauen: Kurz vor seiner Übersiedelung nach Carmel hatte er seinen Job im Büro von Frank C. Havens gekündigt, aber auch in den folgenden Jahren lebte er hauptsächlich von der finanziellen Unterstützung seines steinreichen Onkels. Ich mache ihm daraus keinen Vorwurf, denn weder halte ich Armut für eine Tugend, noch glaube ich, der Umstand, dass Erzbohèmien Baudelaire einen Gutteil seiner Zeit damit verbrachte, vor seinen Gläubigern kreuz und quer durch Paris zu fliehen, habe entscheidend zur Qualität der Fleurs du Mal beigetragen. Dennoch fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass der Widerspruch zwischen der so laut proklamierten Freiheit der Bohème und der Abhängigkeit vom Geldbeutel eines skrupellosen Immobilienspekulanten bedrückend auf Sterling gewirkt haben muss. Ab 1914 wurde sein Leben dann immer stärker von Armut und Alkoholismus geprägt. Er war gezwungen, vermehrt irgendwelche Kurzgeschichten zu schreiben, die sich deutlich besser verkauften als Oden und Sonette. Nach dem Krieg versuchte er außerdem, ein paar Dollars in der aufblühenden Hollywood-Industrie zu verdienen – mit eher geringem Erfolg, wenn man von der interessanten Episode seiner Mitarbeit an Raoul Walshs Thief of Bagdad absieht. (4) Letztenendes blieb er aber auch weiterhin auf die Freigebigkeit reicher Mäzene wie Albert Maurice Bender angewiesen. Die letzten acht Jahre seines Lebens bewohnte er ein Zimmer im luxuriösen Clubhaus des Bohemian Club, das ein anonymer Freund für ihn bezahlte. 

In diesem Club, in den Sterling 1904 aufgenommen worden war und für dessen Mittsommerfest ("High Jinks") von 1907 er das Theaterstück The Triumph of Bohemia verfasste, fand die zwar selten harmonische, aber scheinbar doch nicht auf Dauer zu lösende Verbindung zwischen Bohèmiens und bürgerlichem Establishment ihren vielleicht extremsten Ausdruck. Trotz seines Namens war der Bohemian Club keine Gemeinschaft von armen Poeten, Halbwelt-Musen und studentischen Revoluzzern, sondern eine der exklusivsten Institutionen Kaliforniens. 1872 von einer Gruppe von Journalisten zur Förderung der Kultur ins Leben gerufen, hatten seine Tore von Beginn an nicht nur Künstlern, sondern auch jenen offengestanden, „who had money as well as brains“. Denn wie es Gründungsmitglied Edward Bosqui, selbst nicht eben ein Hungerleider, amerikanisch-pragmatisch ausdrückte: „It was apparent that the possession of talent, without money, would not support the club.“ (5) Als Oscar Wilde auf seiner berühmten "Amerika-Tournee" 1882 den Club besuchte, bemerkte er anschließend: „I have never seen so many well-dressed, well-fed, business-like looking bohemians in all my life.“ Zu seinen Mitgliedern gehörten zwar auch Ambrose Bierce, Xavier Martinez, Robert I. Aitken, Herman Schefffauer und Jack London, aber der Club befand sich bereits auf dem besten Weg das zu werden, was er heute ist: Eine elitäre und erzkonservative Vereinigung äußerst reicher und mächtiger Männer, eine Art Schmiede des Klassenbewusstseins der amerikanischen Bourgeoisie. Es fällt schwer, eine bessere Illustration für die unwürdige Rolle des rebellischen Künstlers als Hofnarren des Geldadels zu finden, als wenn man sich Sterling und London neben W. R. Hearst und den Erben der "Big Four" unter den Bäumen des "Bohemian Grove" vorstellt. 
Selbstverständlich gab es immer mal wieder Proteste gegen diese Entwicklung. So war um die Jahrhundertwende ein kleines Büchlein unter dem Titel Early Bohemia erschienen, in dem sich ein frühes Mitglied anonym beklagte: „The entering of the money-social element has not benefited the club, as a Bohemian Club“, man verfolge nunmehr „social aspirations which means death to genius and a general dead-level mediocrity [...] In the beginning, rich men were absolutely barred, unless they had something of the elements of true Bohemianism (could do something) ... Now they get in because they are rich.“ (6) Sterling mag ähnlich empfunden haben, dennoch hielt er dem Club unverbrüchlich die Treue.

Die besondere Ironie besteht darin, dass sein "Grove Play" (7) ausgerechnet mit dem Sturz Mammons endet, der seinen Anhängern zuvor alle weltlichen Freuden versprochen hatte:
Listen: in midnight palaces of mine,
Music shall serve you at the gleaming feast
And Bacchus tempt your lips with all his wines.
The Seven Sins shall bare for you their breasts
And lead you to their chambers. All your toil
Shall end, and pleasure clothe you as a robe.
Ye shall go forth as kings, and know all bliss,
Beholding nations as your servitors.
Was mögen all die betuchten "Bohos" da wohl gedacht haben? War denn die Mittsommerfeier nicht eben jenes "gleaming feast", auf dem sie sich mit dem Segen Mammons an allen Sieben Todsünden delektierten? – Vermutlich dachten sie sich überhaupt nichts, denn das Stück war weder ironisch noch als versteckte Kritik gemeint. So etwas hätte man während eines "High Jinks" auch gar nicht zugelassen. Der gänzlich konventionelle Charakter zeigt sich besonders deutlich in der finalen Verwandlung des vom Spirit of Bohemia bezwungenen Mammon:
 
See, betraying Death
Hath changed that visage, and proclaims to all
That where high Mammon stood and shook his mace,
There, masked in undisclosing gold, stood Care!
But come, O friends, and hale his body hence.
Thou, Fire, shalt have thine utmost will of him,
Till ye, O Winds, make merry with his dust. (8)

Was folgt ist die zeremonielle Verbrennung der Sorgen ("Cremation of Care"), ein Ritual, mit dem bis heute die Sommervergnügungen des Bohemian Club eingeläutet werden. (9)
Sollte irgendeiner der Zuschauer die Sache mit Mammon wider Erwarten doch falsch verstanden haben, so war spätestens jetzt alles klar: Gemeint war nicht der Reichtum, sondern die mit dem Reichtum verbundenen Sorgen, die manchem Banker ja angeblich schlaflose Nächte bereiten sollen! 
Albert Parry, „a somewhat cynical student of the history of American Bohemianism“, sieht in dem Stück vor allem einen Beleg für Sterlings Naivität: „[He hadn’t] noticed that [the] happy sprites and Bacchic fauns whom he so proudly commanded in his onslaught of Mammon were in reality fat businessmen of San Francisco out on a summer picnic, ready to be amused and flattered by [his] play.“ (10)
Sei dem, wie ihm sei, jedenfalls sind keinerlei negative Reaktionen auf The Triumph of Bohemia bekannt. Ganz anders als bei dem mittelprächtigen Skandal, den der Maler Jules Tavernier in den 1880er Jahren mit einer "nicht genehmigten" Karrikatur ausgelöst hatte, die den Club gefangen im Netz der "bourgeoisen Spinnen" darstellte. (11) So etwas wollten die "Bohos" während ihrer Sommerparty in den Wäldern natürlich nicht zu sehen bekommen. Vergleichbares hätte bei Sterlings Stück schon deshalb nicht geschehen können, weil es ja vom offiziellen "Jinks-Komitee" abgesegnet worden war.

Welchen Einfluss die Abhängigkeit von verschiedenen finanzstarken Gönnern auf Sterling gehabt hat, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ganz sicher wurde er nicht zum Heuchler. Er selbst glaubte fest an sein Ideal der Bohème. Doch die Tatsache, dass er in letzter Konsequenz auf jene Reichen, die er so verachtete, angewiesen war, muss auf Dauer eine demoralisierende Wirkung entfaltet, sein Selbstbewusstsein untergraben und die Widersprüche in seinem Inneren auf die Spitze getrieben haben. Davor konnte ihn auch sein Armutsgelübde nicht bewahren. Und seine sozialistische Überzeugung verschärfte die Misere vermutlich nur noch, da sie deren Verdrängung erschwerte.


(1) Zit. nach: Charmian Kittredge London: George Sterling - As I Knew Him.
(2) Vgl.: Gobind Behari Lal: GeorgeSterling’s Bohemian Creed.
(3) George Sterling: In the Market-Place. In: Ders.: Beyond the Breakers and Other Poems. S. 76.
(4) Er verfasste Zwischenstitel für den Stummfilm, von denen aber nur einige wenige tatsächlich verwendet wurden.
(5) Edward Bosqui: Memoirs of Edward Bosqui. S. 126f. Zit. nach: G. William Domhoff: The Bohemian Grove and Other Retreats. A Study in Ruling-Class Cohesiveness. S. 54.
(6) Early Bohemia. S. 4f. Zit. nach: G. William Domhoff: The Bohemian Grove and Other Retreats. S. 55.
(7) So benannt nach der von Mammutbäumen umstandenen Lichtung, auf der die "High Jinks" traditionell aufgeführt werden. Heute bezeichnet der Name "Bohemian Grove2 ein riesiges, ca. 1092 ha umfassendes Gelände, das dem Club gehört und auf dem sich jeden Sommer Aberhunderte ausschließlich männliche Vertreter der Elite für drei Wochen zu einer Mischung aus Pfadfinderlager und Frat-Boy-Party versammeln. Wer einen Eindruck davon bekommen will, welche Vergnügungen nach dem Geschmack der amerikanischen Plutokratie sind, dem sei Philip Weiss’ Artikel Masters of the Universe Go To Camp empfohlen.
(8) George Sterling: The Spirit of Bohemia. In: Ders.: A Wine of Wizardry and Other Poems. S. 129; 136.
(9) Diverse Verschwörungstheoretiker – allen voran der rechtsextreme Radiomoderator Alex Jones – halten den Club freilich für die geheime Weltregierung und die Zeremonie für ein Menschenopfer an den Gott Moloch. Die entsprechenden "Enthüllungsstories" lesen sich wie das Drehbuch zu einem echt miesen Horror - B-Movie.
(10) A. Parry: Garrets and Pretenders. S. 238f. Zit. nach: G. William Domhoff: The Bohemian Grove and Other Retreats. S. 56.
(11) Das Motto des Bohemian Club lautet: "Weaving Spiders Come Not Here". Ein Zitat aus Shakespeares A Midsummer Night's Dream.
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen