Seiten

Mittwoch, 29. Februar 2012

Eine Pflichtarbeit (II)

Verspätete Gedanken über den Töpferjungen


George Orwell schreibt in einem seiner Essays: "[T]he school story is a thing peculiar to England. So far as I know, there are extremely few school stories in foreign languages. The reason, obviously, is that in England education is mainly a matter of status. The most definite dividing line between the petite-bourgeoisie and the working class is that the former pay for their education, and within the bourgeoisie there is another unbridgeable gulf between the ‘public’ school and the ‘private’ school. It is quite clear that there are tens and scores of thousands of people to whom every detail of life at a ‘posh’ public school is wildly thrilling and romantic. They happen to be outside that mystic world of quadrangles and house-colours, but they can yearn after it, day-dream about it, live mentally in it for hours at a stretch." (1)

Nun erfüllt Rowlings magische Internatsgeschichte zwar sicher nicht die alte Funktion des Träumens vom tollen Leben, das ‘die da oben’ angeblich führen, aber dennoch ist die institutionalisierte Verknüpfung von Klasse und Bildung, die Orwell als Hintergrund der ‘school story’ ausgemacht hat, auch für das Verständnis von Harry Potter von Bedeutung. Hogwarts ist nämlich in der Tat ganz nach dem Vorbild einer traditionellen britischen ‘public school’ gezeichnet, die man nicht etwa mit einer deutschen ‘öffentlichen Schule’ verwechseln darf. So wird ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass der Unterricht an einer so berühmten Lehranstalt natürlich nicht kostenlos ist. Die Eltern angehender Zauberer oder Hexen haben nicht nur allem Anschein nach Schulgeld zu entrichten, sie müssen auch für die kostspieligen Lehrmittel aufkommen. Das führt dazu, dass das Umfeld, in dem Harry Potter spielt, eine deutlich erkennbare klassenspezifische Einfärbung erhält. Nicht nur Hogwarts, sondern Rowlings ganze Zaubererwelt ist ein Universum der Mittelklasse. Ein großer Teil der realen Gesellschaft bleibt damit von vornherein aus dieser Parallelwelt ausgeschlossen. Selbst Hermine, die als Tochter zweier Muggel doch zu den von Magier-Chauvinisten wie den Malfoys verachteten 'Schlammblütern' gehört, entstammt derselben sozialen Klasse wie ihre 'reinblütigen' Mitschüler. Ihre Mutter ist keine Supermarktkassiererin, ihr Vater kein Staplerfahrer, beide gehen vielmehr dem respektablen Beruf des Zahnarztes nach. (2)


Natürlich existieren auch in Rowlings Zaubererwelt Besitzunterschiede. Und in der Form des exemplarisch ausgeführten Gegensatzes zwischen den unvermögenden, aber guten Weasleys und den reichen, aber bösen Malfoys spielen diese sogar eine nicht unwichtige Rolle. Doch zum einen gehören auch die Weasleys dem Mittelstand an (Rons Vater ist Beamter im Zaubereiministerium), zum anderen sind die Malfoys nicht einfach bloß reich, sie sind vor allem aristokratische Snobs. Als solche stellen Draco und seine Familie eine Karrikatur des traditionellen britischen Establishments dar, und wäre Harry Potter dreißig Jahre früher geschrieben worden, hätte das den Büchern vielleicht einen ‘progressiven’ Anstrich verleihen können. Aber heutzutage wirkt der hier konstruierte Konflikt zwischen biederen Mittelständlern und eingebildeten Aristokraten bloß noch wie ein anachronistisches Klischee. Seit der Thatcher-Ära der 80er Jahre ist es zum Aufstieg einer Schicht von Yuppies, Spekulanten und Neureichen gekommen, die nichts mehr mit den aristokratischen Traditionen und der snobistischen 'Kultur' der alten Elite Englands zu tun haben. Oft stehen sie ihnen sogar eher feindlich gegenüber, denn zum einen entstammen sie selbst ja nicht diesen 'kultivierten' Kreisen, zum anderen sehen sie in dem verknöcherten Konservatismus, der die britische Bourgeoisie so lange prägte, bloß noch ein lästiges Hindernis bei ihrer nicht enden wollenden Jagd nach Reichtum und Ansehen. Vor dem Hintergrund eben dieser gesellschaftlichen Entwicklung muss Harry Potter gesehen werden.

Die von den Medien zu einem Cinderella-Märchen aufgebauschte Geschichte von der alleinerziehenden Mutter und Sozialhilfeempfängerin, die durch das Schreiben von Kinderbüchern zur Millionärin wurde, verdeckt ein wenig die Tatsache, dass Rowling selbst aus einer typischen Mittelklassefamilie stammt. Sie studierte in Exeter und Paris, arbeitete erst für Amnesty International und später als Lehrerin in Portugal. Als sie Harry Potter und der Stein der Weisen zu schreiben begann, war sie mitnichten die verzweifelte Arbeitslose: "I'm often informed that I wrote the first book as escapism, because my life was so horrible. Well, that's just not true. When I started writing the books, I was working, in a very happy relationship, life was fine, no one had died. Everything was okay." Ihr ungeheurer Erfolg offenbarte nicht nur ihr Talent als clevere und harte Geschäftsfrau, sondern machte sie auch zu einem Mitglied der oben genannten Schicht von Parvenüs, und alles deutet darauf hin, dass sie sich in ihr sehr wohl fühlt. Zu ihren engen persönlichen Freunden gehören der ehemalige Labour-Premier George Brown und seine Ehefrau Sarah. Eine vielsagende Freundschaft. Neben Tony Blair war Brown der zweite Initiator von New Labour, d.h. der Verwandlung der alten sozialreformistischen Partei in ein williges Werkzeug des Finanzkapitals. In Blairs Kabinett war Brown Finanzminister und als solcher der treue Erbwalter des Thatcherismus. Selbstverständlich unterstützte er auch die Invasion Afghanistans und den Überfall auf den Irak. Obwohl persönlich der große Rivale Blairs, setzte er als dessen Nachfolger in Downingstreet No. 10 seine Politik beinah ungebrochen fort und schaffte es, Labour bei der arbeitenden Bevölkerung Großbritanniens endgültig so verhasst zu machen, dass er bei den Parlamentswahlen 2010 eine demütigende Niederlange einstecken und die Regierung an den Tory Cameron übergeben musste. Da konnten auch die eine Millionen Pfund nichts mehr helfen, die Rowling der Partei hatte zukommen lassen. Wer den schleimigen Lobgesang lesen will, den die Schriftstellerin auf ihren Freund verfasst hat, möge hier nachschauen.
Anlässlich des G20-Gipfels im Frühjahr 2009 trug Rowling den Ehefrauen der ‘Weltführer’ Passagen aus ihrem Potter-‘tie-in’-Buch The Tales of Beedle the Bard vor. Anschließend gab’s ‘standing ovations’ und Sarah Brown dankte ihr mit folgenden Worten: "I think I can speak on behalf of all G20 spouses when we say thank you so much. In this difficult time, with the difficult summit taking place down the road. You remind us all about the part that culture plays in keeping us all alive." Welche Schriftstellerin mit einem Minimum an kritischem Verstand und Selbstachtung würde sich für so eine widerliche Komödie hergeben?

Der einzige mir bekannte Kritiker, der auf den Mittelklassecharakter der Potter-Welt hingewiesen hat, ist Harold Bloom. Selbst erklärte Rowling-Hasser wie Daniel Hemmens scheinen dem gegenüber blind zu sein, aber vielleicht hat sich ‘Minority Warrior’ Dan auch zu sehr in den Fallstricken der ‘Identitiätspolitik’ verheddert, um solchen ‘marxistisch’ anmutenden Fragen seine Aufmerksamkeit schenken zu können. Ich jedenfalls halte diesen Charakter für sehr wichtig. In ihm, so glaube ich, liegt auch der Schlüssel zur nostalgischen Seite von Harry Potter. Rowling sehnt sich zwar nicht zurück in vergangene Zeiten, aber sie fühlt sich offenbar wohler in einer Welt, die in ihrer sozialen Zusammensetzung einer klassischen 'public school' gleicht. (3) Also schreibt sie eine magische ‘school story’. Der wichtigste Aspekt der heutigen Realität, der dabei ausgeschlossen bleibt, ist die immer monströsere Ausmaße annehmende soziale Polarisation, die mehr und mehr jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens ihren Stempel aufdrückt.

Es geht mir wohlgemerkt nicht darum, der Geschichte mangelnden Sozialkritik vorzuwerfen. Kinderbücher sind keine politischen Pamphlete und sollten es auch nicht sein. Entscheidend ist vielmehr die Frage, was es braucht, um eine lebendige Welt, bevölkert mit lebendigen Figuren zu beschreiben? Rowling bildet sich sehr viel darauf ein, in ihren Büchern kein märchenhaftes Wunderland, sondern eine mehr oder weniger ‘realistische’ Welt mit all ihren realen Problemen geschaffen zu haben. Ihre zahlreichen Bewunderer bestärken sie noch in diesem Irrglauben. Glaubhafte literarische Figuren aber brauchen ein glaubhaftes soziales Umfeld, dem sie entwachsen sind und in dem sie sich bewegen. Das Potterversum kann dies nicht liefern. Die Bücher wollen eine Geschichte vom Erwachsenwerden erzählen. Doch wie können sie das, wenn sie eines der wichtigsten Probleme, mit denen sich junge Menschen in der Realität konfrontiert sehen, einfach ignoriert? Ein simples Beispiel: Ron kommt aus einer 'armen' Familie. Aber muss er sich deshalb auch nur einen Ferienjob suchen? Nicht doch! Vielmehr unternehmen die Weasleys Urlaubstrips nach Ägypten! Die Folgen von Armut reduzieren sich in den Potter-Büchern offenbar darauf, dass man zu kurze Zaubererumhänge tragen muss und deshalb von arroganten Arschlöchern wie Draco verspottet wird. Solange die Geschichte noch aus der Perspektive eines Elfjährigen erzählt wird, könnte man mit Recht einwenden, dies entspräche ja tatsächlich der kindlichen Erfahrungswelt. Aber leider werden im Laufe der Serie die Helden zwar älter, die Story selbst jedoch nicht erwachsener.

Dieser Mittelklassegeist durchdringt auch alle Versuche Rowlings, ernstere Themen wie Rassismus oder Dikatur anzupacken, und lässt sie letztenendes scheitern, denn er verstärkt noch die in der ‘klassischen’ Fantasy ohnehin bereits angelegte Tendenz, komplexe Probleme in einer abstrakten (und letztlich mythisch-religiösen) Gegenüberstellung von Gut und Böse aufzulösen. Klar, Voldemort ist ein zauberkundiger Hitler ohne Nase und Bärtchen, die ‘Todesser’ sind Möchtegern-Nazis in schwarzen Kutten, aber das macht die Geschichte noch lange nicht zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Rassimus und Faschismus. Im Potterversum besitzen diese nämlich keinerlei soziale oder politische Wurzeln, sondern sind willkürliche Bestandteile des Psychogramms eines Bösewichts – neben dem Wunsch nach Unsterblichkeit etwa oder der mangelnden Fähigkeit zu lieben. Bestenfalls bekommen wir eine Erklärung im Stile der Westentaschenpsychologie zu hören: Voldemort ist selbst ein ‘Schlammblut’, sein Muggel-Hass also in Wirklichkeit eine Form von Selbsthass, hervorgerufen durch die Lieblosigkeit seines Vaters. Tja, wir haben’s ja schon immer gewusst, Hitler war in Wirklichkeit ein Halbjude mit Ödipuskomplex ... O barmherziger Freud! Ähnlich lächerlich wirken die Methoden, mit denen die ‘Todesser’ in Harry Potter und die Heiligtümer des Todes schließlich an die Macht gelangen. Mit Hilfe einiger Terrorakte und schwarzer Magie kapert eine kleine Clique von Schurken den Staatsapparat! Als Warnung vor den Gefahren des Autoritarismus bewegt sich das ungefähr auf dem gleichen Niveau wie George Lucas’ Revenge of the Sith ...

Ich höre bereits den Einwand: ‘Schön und gut, Rowlings Bücher mögen ja reichlich naiv sein, aber sind sie nicht trotzdem "a prolonged argument for tolerance"?" Ach ja, Toleranz, dieser oft gebrauchte und wunderbar verschwommene Begriff ... So weit ich das überschauen kann, bedeutet Toleranz im Potterversum bloß, dass Harry die krassesten Vorurteile der Zaubererwelt nicht gar zu offensiv zum Ausdruck bringt. Er behandelt Halbriesen, Hauselfen und Kobolde halt nicht von vornherein wie den letzten Dreck. Aber außer im Umgang mit ‘Schlammblütern’, die ja immerhin auch Zauberer sind, besitzt diese ‘Toleranz’ einen ausgesprochen herablassenden, paternalistischen Zug. Schlimmer noch aber ist, wie Rowling die Reaktion der Unterdrückten auf diese Freundlichkeit darstellt. Die so geehrten vergehen schier vor unterwürfiger Dankbarkeit. – Oh Gott, wie ich Dobby hasse! (4) Hätte Rowling nicht eines dieser verachteten Wesen ihren menschlichen Helden als ebenbürtigen Partner zur Seite stellen können? Aber nein – ganz so wie die Muggel bleiben auch sie sozusagen Almosenempfänger der magiebegabten Herrenklasse. Wirklich unheimlich wird es bei den Hauselfen, einer Rasse von Sklaven, deren Angehörige offenbar überhaupt nicht frei sein wollen (mit Ausnahme von Dobby). Als Elfe Winky gegen ihren Willen in Freiheit gesetzt wird, ist sie todunglücklich und wird zur Alkoholikerin! Wo sind wir denn da bloß gelandet? Bei den treuen und glücklichen Negersklaven aus Vom Winde verweht? Hermines Versuch, mit der Gründung von SPEW (‘Society for the Promotion of Elfish Welfare’) für ‘Elfenrechte’ zu kämpfen, lässt sie einerseits als rechthaberische Radikale und Karrikatur der linken Aktivistin erscheinen und beweist andererseits, dass Sklaven sich offenbar nicht selbst befreien können, sondern auf das wohlwollende Engagement der bessergestellten Teile der Gesellschaft angewiesen sind. Kann es einen krasseren Ausdruck für die Arroganz des Mittelklasse-Gutmenschen geben? In einer ihrer Frage-und-Antwort-Stunden im Netz erzählte Rowling über Hermines Leben nach dem Untergang Voldemorts: "Hermione began her post-Hogwarts career at the Department for the Regulation and Control of Magical Creatures where she was instrumental in greatly improving life for house-elves and their ilk. She then moved to the Department of Magical Law Enforcement where she was a progressive voice who ensured the eradication of oppressive, pro-pureblood laws." Die Botschaft ist eindeutig: Nicht der Kampf der Unterdrückten für ihre Freiheit, sondern die Gesetzesinitiativen aufgeschlossener Reformpolitiker sind der Weg zu politischen und sozialen Verbesserungen.
Kurioserweise hat Rowling häufiger verlauten lassen, ihr großes Idol sei die Sozialistin Jessica Mitford, und die Blackschwestern Bellatrix, Narcissa und Andromeda sind möglicherweise nach dem Vorbild des aristokratischen Mitfordclans gezeichnet. Jessicas Schwestern Unity und Diana waren begeisterte Faschistinnen, so wie Narcissa und Bellatrix ‘Todesser’ sind, während Andromeda sich dem Orden des Phönix anschließt. Dass weder Rowling selbst noch ihren Verehrern der Widerspruch zwischen Mitfords politischen Idealen und dem Paternalismus der Potter-Bücher aufgefallen ist, zeugt von einer tiefen intellektuellen Verwirrung. Philantropie hat absolut nichts mit Sozialismus gemein.

Aber ich habe mich schon viel zu weit in ungelesenes Territorium vorgewagt und sollte deshalb wohl besser zu Harry Potter und der Stein der Weisen zurückkehren. Offen politische Themen finden wir in diesem Buch nicht, aber dennoch hat der Mittelklassegeist auch hier seine Spuren hinterlassen.
Was mir beim Anschauen der ersten Potter-Filme sofort unangenehm aufgefallen ist und was ich durch das Lesen des Buches nun bestätigt bekommen habe, ist die außergewöhnlich große Rolle, die das Motiv des Wettbewerbs im Potterversum spielt. In Band 1 geht es mindestens ebenso sehr darum, wer den Hauspokal gewinnt, wie ob Voldemorts Rückkehr verhindert werden kann. Ständig werden Punkte vergeben oder abgezogen, und Harrys Ansehen hängt völlig davon ab, ob seine Handlungen Gryffindors Punktestand verbessern oder verschlechtern. Was keineswegs als Kritik an dem zugrundeliegenden Wertesystem gedacht ist, denn die Heldentaten Harrys, Rons und Hermines finden ihre wirkliche Bestätigung erst in Dumbledores finaler Punktevergabe und dem damit errungenen Sieg der Gryffindors über die Slytherins. Sollte ein Kinderbuch, dessen eigentliches Thema doch der Wert von Freundschaft ist, zugleich eine Geschichte darüber sein, wie ich meine Konkurrenten aussteche und deren öffentliche Demütigung herbeiführe? (5) Ilias Yocaris übertreibt sicher ein wenig, wenn er Harry Potter als "an invasion of neoliberal stereotypes in a fairy tale" bezeichnet, aber es ist schon auffällig, mit welcher Verve hier dem Kult des Gewinnens gefrönt und einer Ethik des Wettbewerbs das Wort geredet wird: Der ewige Konkurrenzkampf der vier ‘Häuser’, das Trimagische Turnier und natürlich vor allem die regelmäßigen Quidditch-Turniere. Diese spielen eine derart zentrale Rolle in den Büchern, dass selbst in Harry Potter und der Halbblutprinz – wenn die ‘Todesser’ mit Terroranschlägen Angst und Schrecken verbreiten und die Zaubererwelt unmittelbar vor dem Ausbruch eines Krieges steht – es eine der wichtigsten Fragen zu sein scheint, wie Ron sich als ‘Hüter’ (Torwart) schlägt!

Die prominente Stellung, die der Sport im Potterversum einnimmt, ist zuerst einmal nur ein weiteres Erbstück der alten ‘school story’. Dem Mannschaftssport, insbesondere dem Cricket, kam ein zentraler Platz in der traditionellen englischen ‘public school’ zu. Dabei spielte der Wettbewerb zwischen verschiedenen Schulen oder ihren ‘Häusern’ natürlich gleichfalls eine wichtige Rolle. Dennoch hat Quidditch nur sehr wenig mit seinem realen Vorbild gemein. Cricket nämlich sollte vor allem der Charakterbildung dienen und den Schülern Werte wie Loyalität, Teamgeist, Fairness und Selbstbeherrschung vermitteln. Im Falle des Falls auch ein guter Verlierer sein zu können, war ein wichtiger Bestandteil dieser Ethik. (6) Bei den Turnieren in Hogwarts hingegen geht es einzig und allein um den Sieg. Irgendeinen pädagogischen Wert besitzt das Herumsausen auf Hexenbesen ganz offenbar nicht. Auch ist Quidditch, wie Farah Mendlesohn ganz richtig erkannt hat, ein Sport für Reiche, denn nur der hat hier eine Chance, der sich die modernsten und teuersten Besen leisten kann. Das Spiel ähnelt deshalb sehr viel mehr dem aristokratischen Polo als dem ‘demokratischen’, ursprünglich vom ländlichen Kleinbürgertum Englands geschaffenen Cricket. Die Hauptfunktion der Quidditch-Spiele ist es, Harry in besonders glänzendem Licht erscheinen zu lassen. Dies erklärt auch die eigentlich ziemlich unsinnige Regel vom Sucher und dem Goldenen Schnatz. Wie so vieles in Rowlings Welt scheint auch sie keine andere Funktion zu haben, als dem Plot zu dienen – in diesem Fall dem Heldenkult um Potter, wobei Ron und Hermine beinahe im Wortsinn als seine Cheerleader fungieren. Für den Sucher ist Quidditch nämlich überhaupt kein Mannschaftssport, aus den Aktionen seiner Teamkameraden hat er sich vielmehr so gut es geht herauszuhalten. Dennoch entscheidet seine individuelle Leistung in fast allen Fällen über den Ausgang eines Spiels. Und so tritt an die Stelle von Teamgeist Heldenverehrung. Kein Wunder, dass wir über Harrys Mitspieler (zumindest im ersten Buch) so gut wie nichts erfahren. Einzig seine Taten zählen.

Rowlings phantastische Welt ist durch und durch kapitalistisch. Das unterscheidet sie z.B. sehr deutlich von der-jenigen Tolkiens, dessen Werk in der Tradition des romantisch-konservativen Antikapitalismus Thomas Carlyles und John Ruskins steht. Es fällt darum auch nicht schwer, in dem Motiv des Wettbewerbs eine Widerspiegelung der vorherrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen unseres neoliberalen Zeitalters zu sehen. Aber wie an allen Ecken und Enden von Rowlings Werk tun sich auch hier sofort Widersprüche auf. Quidditch – diese sportliche Apotheose des Konkurrenzkampfes – dient zwar als Brennpunkt des um Harry zelebrierten Heldenkultes. Doch bei genauerer Betrachtung ist es gerade die Hauptfigur, die im merkwürdigen Gegensatz zur Wettbewerbsethik von Hogwarts steht.


(1) George Orwell: Boys' Weeklies.
(2) Ist es bloß ein Zufall, dass einzig Tom Riddle (alias Voldemort) und Severus Snape aus wirklich armen Verhältnissen zu kommen scheinen?
(3) Die Gründe, die Rowling selbst für die Wahl des Schauplatzes angegeben hat ("the school had to be a boarding school because most of the magic happens in the middle of the night, and if it was a day school you wouldn't get the same sense of community"), klingen wenig überzeugend, da Hogwarts mit seinen ‘Häusern’, Schuluniformen und Quidditch-Turnieren eben nicht einfach ein Internat, sondern das zauberisch eingefärbte Ebenbild einer alten ‘public school’ ist. Und genau diese Elemente spielen ja eine wichtige Rolle in der Erzählung.
(4) Es geht das Gerücht um, Rowling habe den Hauself nach der radikalen Anwältin und Gewerkschaftsaktivistin Dobby Walker benannt. Wenn dem so ist, wäre das eine Frechheit – ungefähr so, als würde man Onkel Tom und Malcolm X miteinander gleichsetzen!
(5) Dass es meiner Meinung nach auch den guten Oberlehrer nicht zu geben bräuchte, der einem am Ende erklärt, dass man alles richtig gemacht hat, will ich lieber nicht über die Maßen betonen. Schließlich endet die wunderbar trashige und charmante 80er-Jahre-Verfilmung von Jill Murphys The Worst Witch (offenbar eine von JKRs uneingestandenen ‘Quellen’) mit einer ähnlichen Szene (nur dass Tim Curry {Dr. Frank N. Furter} als Grand Wizard natürlich tausendmal cooler ist als der Gandalfabklatsch Dumbledore. Und die unsterbliche Diana Rigg {Mrs. Emma Peel} ist auch mit von der Partie!)
(6) Der radikale Schriftsteller und Cricket-Experte C.L.R. James hat dies auf bestechende Weise in seinem Buch Beyond a Boundary dargelegt.

Montag, 27. Februar 2012

Jim Hensons Fantasy (I)

Im letzten Jahr hätte der leider viel zu früh verstorbene Jim Henson seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag feiern können. Grund genug, sich einmal anzuschauen, welchen Beitrag der Schöpfer der Muppets in Kino und Fernsehen zur filmischen Fantasy geleistet hat. In den nächsten Wochen werde ich hier meine Gedanken zu The Dark Crystal, Labyrinth und The Storyteller darlegen. Doch bevor es richtig losgeht, zuerst einmal ein surreales Frühwerk Hensons aus dem Jahr 1967 mit dem Titel Ripples – ganz ohne Puppen:


Samstag, 25. Februar 2012

Eine Pflichtarbeit (I)

Verspätete Gedanken über den Töpferjungen


Niemand, der sich ernsthaft für Fantasyliteratur interessiert, wird darum herum kommen, sich irgendwann einmal auch mit Harry Potter befassen zu müssen. Nicht dass Joanne K. Rowling dem Genre irgendetwas neues hinzugefügt hätte. Alle wirklichen Kenner des Metiers sind sich da wohl einig: Von der angeblichen Originalität der Autorin konnten nur jene Kritiker faseln, die ein Fantasybuch zuvor vermutlich noch nicht einmal mit der Kneifzange angefasst hätten. Dass Die Zeit Rowling letztes Jahr sogar zum Genie erklärt hat, erschiene bloß bizarr, würde der entsprechende Artikel nicht so offensichtlich Genialität mit Geschäftserfolg verwechseln. Und tatsächlich ist es ausschließlich der gewaltige kommerzielle Erfolg der Bücher und darauf basierend ihr nicht unerheblicher Einfluss auf den phantastischen Buchmarkt der letzten Dekade, der die Geschichte vom Zauberlehrling von Hogwarts zu einem Phänomen gemacht hat, das man nicht ignorieren kann.

In den Tagen des großen Potter-Hypes war mein Interesse für Fantasy eher gering, und es gab darum auch keinen Grund für mich, eines von Rowlings Büchern zur Hand zu nehmen. Ein Wort wie ‘Quidditch’ hätte nur ein unwissendes Achselzucken bei mir hervorgerufen, und ‘Muggel’ war für mich lediglich der Name einer gänzlich unphantastischen Kneipe in meiner Nachbarschaft. Erst in den letzten Jahren habe ich meine alte Liebe zur Phantastik wiederentdeckt. Dabei stand die Geschichte vom Töpferjungen freilich nicht an der Spitze meiner Liste der bald möglichst zu lesenden Bücher. Die ersten fünf Potter-Filme hatten mich zwar nicht direkt abgeschreckt, doch ebensowenig war es ihnen gelungen, mein gesteigertes Interesse zu wecken. Nummer Eins und Zwei besaßen noch einen gewissen altmodischen Charme, doch was danach kam unterschied sich in meinen Augen in nichts von den übrigen, meist recht drögen Erzeugnissen des aktuellen Fantasyfilme-Booms. (1) Dennoch blieb der bohrende Gedanke: Du wirst an Harry Potter auf Dauer nicht vorbeikommen, wenn du dir ein einigermaßen vollständiges Bild von der zeitgenössischen Fantasy machen willst. Im August letzten Jahres schließlich war es soweit. Es bot sich mir die Gelegenheit, den ersten Band für den Preis von einem Euro zu erwerben. Irgendwelche Ausreden zogen nicht länger ...

Bin ich nach der Lektüre von Harry Potter und der Stein der Weisen schlauer als zuvor? Nicht wirklich. Freilich hatte ich auch nicht erwartet, den Erfolg Rowlings danach besser verstehen zu können. Ich bin ja wahrhaftig nicht der Erste, der sich über dieses wohl einmalige Phänomen erfolglos den Kopf zerbrochen hätte.
Zugegeben, das Buch ist handwerklich ganz ordentlich gemacht, flüssig und spannend geschrieben (auch wenn wohl niemand ernsthaft behaupten wird, JKR sei eine stilistisch versierte Schriftstellerin) und in manchen Details sogar richtig gehend charmant. (2)
Insbesondere die Figur des Snape verdient Anerkennung. Der unsympathische und feindselige Lehrer, den Harry wie selbstverständlich für den Bösewicht hält, entpuppt sich am Ende als einer seiner Lebensretter – das ist eine Form von Komplexität, wie sie einem Buch für diese Altersgruppe angemessen ist. Was die Autorin im weiteren Verlauf der Serie aus Severus gemacht hat, spielt dabei erst mal keine Rolle. Im Kontext der Geschichte des phantastischen Kinderbuches kann ich ihm dennoch nur einen sehr bescheidenen Platz zugestehen. Selbst wenn wir Lewis Carrols Meisterwerke Alice’s Adventures in Wonderland und Through the Looking-glass für den Moment beiseitelassen, müsste sich Rowling immer noch gegen Werke behaupten wie die Bücher Edith Nesbits, J. M. Barries’ Peter Pan, L. Frank Baums The Wonderful Wizard of Oz, J.R.R. Tolkiens Hobbit, Astrid Lindgrens Mio, mein Mio, Die Brüder Löwenherz und Ronja Räubertochter, Ottfried Preußlers Krabat, Lloyd Alexanders Prydain-Zyklus, Joy Chants Red Moon and Black Mountain ... (3) Eine mächtige Konkurrenz. Meiner Meinung nach könnte sie nicht einmal Michael Ende, dem ich im Grunde ausgesprochen skeptisch gegenüberstehe, das Wasser reichen. Und wer unbedingt Geschichten über Jungen lesen will, die Zaubererschulen besuchen, sollte sich doch lieber Wizzard of Earthsea vornehmen. Ursula K. Le Guins 1968 erschienener Klassiker spielt in einer völlig anderen Liga und stellt in mancherlei Hinsicht tatsächlich einen Meilenstein der Fantasy dar. Die große alte Dame der Phantastik selbst bewertete Harry Potter und der Stein der Weisen übrigens als "a nice fantasy for kids, very lively, though perhaps on rather shaky moral ground." Den Einwand gilt es sich zu merken.

Gerade weil Rowlings Werk zusammen mit Peter Jacksons Herr der Ringe - Filmen in hohem Maße das gegenwärtige Image des Genres geprägt hat, muss es einer besonders kritischen Betrachtung unterzogen werden. Mein Ergebnis? – Alles in allem weiß ich leider nur wenig positives über Harry Potter und der Stein der Weisen zu berichten. Die ersten Kapitel wirkten auf mich beinahe unlesbar, so grobschlächtig ist Rowlings Karrikatur des spießigen Ehepaares Dursley und ihres missratenen Sohnes geraten. Nun gut, Harry muss der unterdrückte Außenseiter sein; der verborgene Prinz; das hässliche Entlein, das sich als Schwan entpuppt. Das gehört wohl zu den Konventionen einer solchen Geschichte. Aber die reine Bösartigkeit seiner Ersatzfamilie ist derart überzeichnet, dass neben ihr selbst Aschenputtels Stiefmutter wie eine aus dem Leben gegriffene Figur wirken würde. Sohn Dudley ist außerdem ein besonders extremes Beispiel für die uralte – und ebenso dümmliche – Methode, das Aussehen eines Menschen zum Indiktaor für seinen Charakter zu machen: „Er hatte ein breites, rosa Gesicht, nicht viel Hals, kleine, wässrige blaue Augen und dichtes blondes Haar, das glatt auf seinem runden, fetten Kopf lag. Tante Petunia sagte oft, dass Dudley aussehe wie ein kleiner Engel – Harry sagte oft, Dudley sehe aus wie ein Schwein mit Perücke." (S. 27) (4) Und wer so aussieht, kann natürlich nur ein Fiesling sein. Wohl nicht ganz zu unrecht hat man Rowling vorgeworfen, sie verwende in ihren Büchern öfters Übergewicht als äußeres Anzeichen für Bösartigkeit. Ironischerweise legen ihre Helden selbst eine geradezu obsessive Fresslust an den Tag, wenn es z.B. um Süßigkeiten oder das Weihnachtsessen in Hogwarts geht – was an deren schlanker Statur freilich nichts zu ändern vermag. (5) In einer der moralisch fragwürdigsten Szenen des Buches wird dem fiesen Fettwanst Dudley dann sogar ein Schweineschwanz angehext – nicht etwa als temporärer Fluch, sondern als permanentes Anhängsel, das erst mittels eines chirurgischen Eingriffs entfernt werden kann!
Kein sehr vielversprechender Anfang. Hat Harry die Muggel-Welt dann endlich hinter sich gelassen, sieht es zwar etwas erträglicher aus, aber im Grunde wird auch Hogwarts von einem Sammelsurium plattester Klischees bevölkert. Angefangen bei dem gutmütigen, aber nicht besonders hellen ‘Proletarier’ Hagrid über den ebenso exzentrischen wie weisen Graubart Dumbledore, den arroganten Bösewicht Draco Malfoy mit seinen Speichelleckern Crabbe und Goyle sowie den ewigen Pechvogel Neville, bis hin zur besserwisserischen Streberin Hermine/Hermione und dem idealen Kumpel Ron – als Kind aus einer ‘armen’ Familie Underdog genug, um unsere Sympathie zu wecken und Harrys Toleranz hervorzuheben, zugleich jedoch stets bereit, als Potters vor Bewunderung vergehender Höfling zu dienen.
Aber nicht nur das Figurensortiment, auch die Erzählung selbst verbleibt fest im Rahmen altbekannter Stereotypen. Genauer gesagt, sie bildet ein Gemisch aus zwei verschiedenen, aber gleichermaßen klischeebelasteten Erzähltypen: Der ‘klassischen’ Fantasygeschichte mit ihrem auserwählten Helden und seinem epischen Kampf gegen das Böse, sowie der ‘school story’, einem Genre, an dessen Anfang Romane der viktorianischen und edwardianischen Ära wie Thomas Hughes Tom Brown’s School Days und Rudyard Kiplings Stalky & Co stehen. Letzterem Genre entstammen u.a. der Schauplatz des Internats mit seinen rivalisierenden ‘Häusern’, das Elemente des Patriotismus nachäffende Ethos des schulischen Korpsgeistes (Hogwarts besitzt sogar eine – zugegeben recht lächerliche – Schulhymne; höchstes Ziel aller Schüler von Gryffindor ist es ihrem ‘Haus’ Ehre zu machen und den Slytherins eins auszuwischen etc.), die zentrale Bedeutung des Sports sowie Figuren wie die stets irgendwelche (harmlosen) Streiche ausheckenden Zwillinge Fred und George Weasley.

Das Buch enthält ein gerüttelt Maß an Nostalgie, exemplarisch verkörpert in der Dampflok, die die Schüler und Schülerinnen vom Bahnsteig King’s Cross 9 ¾ nach Hogwarts befördert und in den Worten der bekannten Literaturwissenschaftlerin Farah Mendlesohn "helps to recreate the atmosphere of the pre-war boys’ school story, complete with sweets shared in old-fashioned closed carriages". Die Zaubererwelt trägt denn auch in vielem die Züge eines romantisch verklärten und zugleich auf sanfte Weise parodierten ‘old England’, wozu auch die weitgehende Abwesenheit moderner Technik gehört, für die die Magier aufgrund ihrer arkanen Fähigkeiten keine Verwendung haben. Und doch steht die Erzählung in einer Reihe wichtiger Punkte im Widerspruch zu dieser Atmosphäre. Man läge ziemlich falsch, wollte man annehmen, Rowling sehne sich tatsächlich zurück in viktorianische Zeiten oder auch nur ins England der Vorkriegsära. Dem widerspricht vor allem die verschwommen egalitäre Moral ihrer Geschichte. In den alten ‘school stories’ wäre der versnobte Draco ja keineswegs der Bösewicht, sondern einer der Helden gewesen. Diese Moral erhält in den späteren Bänden eine pointiertere Ausformung, wenn uns Voldemort und seine Anhänger – die ‘Todesser’ – recht ungeschminkt als faschistoide Rassisten vorgeführt werden. Im Stein der Weisen besteht der offensichtlichste Verstoß gegen die konservative Atmosphäre der ‘school story’ in der Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen in Hogwarts. Diese wird allerdings eher proklamiert, denn erzählerisch ausgeführt.
Die Art, in der Rowling ihre weibliche Hauptfigur Hermine einführt, legt eine ihrer größten Schwächen bloß: Sie ist unfähig, sich von überkommenen Klischees zu lösen, selbst wenn diese ihrer eigentlichen (6) Erzählabsicht völlig entgegengesetzt sind. Hermine ist zwar das klügste und talentierteste Kind ihres Jahrgangs – vielleicht sogar der ganzen Schule –, doch bringt ihr das weder den Respekt ihrer Mitschüler, noch den der Erzählerin ein. Ihr Lerneifer und ihr Bücherwissen sind vielmehr immer wieder Gegenstand des Spottes. Der Erwerb von Wissen um seiner selbst willen besitzt keinen hohen Stellenwert im Potterversum. Das einzige ‘unpraktische’ Unterrichtsfach – Geschichte der Zauberei – wird nicht zufällig als das "bei weitem langweiligste" (S. 147) abqualifiziert. (7) Und so erscheint Hermine auch nicht als aufgewecktes und wissbegieriges Mädchen, sondern als eingebildete Streberin. Als es ihr als einziger gelingt, in Professor Flitwicks Unterricht eine Feder zum Schweben zu bringen, wird dies nicht etwa als eine besondere Leistung gewertet, auf die sie zu recht stolz sein dürfte. Vielmehr hat sie damit nur einmal mehr bewiesen, was für eine unerträgliche Göre sie ist. Denn wer mag schon des Lehrers Liebling? Bevor sie in den Freundeskreis um Harry aufgenommen werden kann, muss deshalb erst einmal ihr Stolz durch die Konfrontation mit dem Troll ausreichend gedämpft werden.
"Hermine Granger stand mit zitternden Knien an die Wand gedrückt da und sah aus, als ob sie gleich in Ohn-macht fallen würde." – "Immer noch stand sie flach gegen die Wand gedrückt, mit vor Entsetzen weit offenem Mund." – "Hermine war vor Angst zu Boden gesunken." (S. 192f.)
Das Bild der hilflosen Hermine, die von den mutigen Jungs Harry und Ron gerettet werden muss, wirkt gerade deshalb besonders unertäglich, weil ihr im Rahmen der Gesamterzählung ja offenbar die Rolle des intelligenten und selbstbewussten Mädchens zugedacht ist. Aber Rowling ist halt nicht einmal in der Lage, auf das uralte sexistische Klischee der ‘damsell in distress’ zu verzichten. Sie macht es sogar zum Ausgangspunkt für die Freundschaft der drei! Ähnlich hilflos zeigt sie sich übrigens bei der Darstellung nichtenglischer Charaktere in Harry Potter und der Feuerkelch. Über das Zeichnen karrikaturenhafter nationaler Stereotypen kommt sie dabei nicht hinaus. (8) Die meisten Versuche Rowlings, ihrer Welt einen ‘politisch korrekten’ Anstrich zu verleihen, wirken entweder ungelenk (ein paar Nebenfiguren bekommen Namen wie Anthony Goldstein, Parvati Patil oder Cho Chang verpasst [9]) oder schlicht peinlich (das ‘postume’ Outen Dumbledores als schwul [10];  die Erklärung, Hogwarts sei eine "multifaith school", obwohl dort ganz offensichtlich neben Weihnachten und Ostern keine religiösen Feiertage – ob Jom Kippur, Eid al-Adha oder sonstwas – begangen werden).
Offenbart sich in solchen Szenen sehr deutlich die intellektuelle und künstlerische Schwäche der Autorin, so bedeutet dies wie gesagt nicht, dass Rowling Sexismus, Chauvinismus und Standesdünkel, die feste Bestandteile der alten ‘school stories’ waren, gutheißen würde. Im Gegenteil – sie selbst sieht ihre Buchreihe als "a prolonged argument for tolerance, a prolonged plea for an end to bigotry". Ist Hogwarts nostalgisches Flair am Ende also bloß ein weiteres Klischee, das sie unreflektiert übernommen hätte? Schließlich ist die Sehnsucht nach der ‘guten, alten Zeit’ seit Großpapa Tolkiens wehmütigen Trauergesängen auf entschwundene heroische Zeitalter und die zuasphaltierten ‘grünen Hügel’ Englands (respektive des Auenlandes) ein weit verbreiteter Topos der Fantasyliteratur. – Aber nein, das wäre denn doch eine etwas zu simple Erklärung. Auch müsste man sich dann ernsthaft fragen, was man von einer Erzählung zu halten hätte, deren Atmosphäre in keinerlei Zusammenhang mit den in ihr zum Ausdruck gebrachten Ideen, ja sogar im Widerspruch zu diesen stände.

Warum also die Nostalgie?
Harry Potter und der Stein der Weisen ist nach einem altbekannten Schema angelegt: Ein einsames, mehr oder weniger misshandeltes und unterdrücktes Kind findet plötzlich Zugang zu einem magischen Wunderreich, wo ihm Anerkennung zuteil wird und es spannende Abenteuer erlebt – eine klassische Fluchtfantasie. Talentiertere Schriftstellerinnen haben aus diesem Stoff mitunter Beeindruckendes zu schaffen vermocht. So etwa wenn Astrid Lindgren in Mio, mein Mio von den Erlebnissen des kleinen Bosse im ‘Reich der Ferne’ erzählt, dabei sehr geschickt die sprachlichen und erzählerischen Konventionen des Märchens nachahmt und auf subtile Weise andeutet, dass es sich bei dem Ganzen vielleicht nur um einen Tagtraum des unglücklichen Waisenkindes handelt. Oder man nehme Michael Endes Unendliche Geschichte. Trotz all ihrer zum Teil gravierenden Mängel, auf die ich hier nicht eingehen kann, bleibt sie doch eine ernstzunehmende Auseinandersetzung sowohl mit dem positiven Potential wie mit den Gefahren einer solchen Flucht ins Reich der Fantasie. Auf welch primitivem Niveau hingegen J. K. Rowling das Motiv behandelt hat, zeigt sich besonders krass in der in ihrer sadistischen Schadenfreude geradezu erschreckenden Schlusspassage des Steins der Weisen:
’Ich hoffe, du hast – ähm – schöne Ferien’, sagte Hermine und sah ein wenig zweifelnd Onkel Vernon nach, entsetzt darüber, dass jemand so unfreundlich sein konnte.
‘Oh, ganz bestimmt’, sagte Harry, und sie waren überrascht, dass sich ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht breitete. ‘Die wissen ja nicht, dass wir zu Hause nicht zaubern dürfen. Ich werde diesen Sommer viel Spaß haben mit Dudley ...’" (S. 335)
Mit seiner in der Welt der Zauberer gewonnenen Macht kann Harry also nun nach Herzenslust jene quälen, die bislang ihn gequält haben! Da hat jemand die Inschrift auf dem Amulett der Kindlichen Kaiserin – "Tu Was Du Willst" – aber wirklich gründlich missverstanden! Es ist dies eine der Stellen, an denen man besonders deutlich die ‘eher wacklige moralische Grundlage’ der Geschichte erkennen kann, von der Ursula K. Le Guin spricht. Ich zumindest finde es ausgesprochen beunruhigend, wenn ein Kinderbuch wie hier das Ausleben von Macht- und Rachefantasien als erstrebenswertes Ziel darstellt. (11)
Doch wie dem auch sei, jedenfalls ergibt es sich bereits aus der Grundstruktur der Erzählung, dass Hogwarts als eine Art Zufluchtsstätte gesehen werden muss. Komplementär dazu erscheint die Welt der Muggel durchweg entweder als öde oder sogar als grausam und böse (siehe die Dursleys als exemplarische ‘Normalos’).
An dieser Stelle tut sich ein weiteres Problem auf, mit dem die Potter-Bücher belastet sind. Rowling erzählt in Wirklichkeit nämlich mehrere, sehr unterschiedliche Geschichten, die sich nicht zu einer wirklichen Einheit verbinden. Im Stein der Weisen dominiert noch sehr stark die leicht anarchische Internatsstory. Hier ist Hogwarts eine phantastische Welt, in der Ölgemälde sprechen, Geister wie der Fast Kopflose Nick durch die Korridore streifen, Treppen sich bewegen und Schokofrösche davonzuhüpfen versuchen, bevor man sie aufessen kann. Diese grotesken Züge sind es, die den unbestreitbaren Charme des Buches ausmachen. Die Bedrohung durch Voldemort fungiert in diesem Rahmen vor allem als ultimative Entschuldigung, um die Schulregeln zu brechen, nachts das riesige Gebäude zu erkunden oder spannende Abenteuer in den Kellergewölben zu erleben. Außerdem: Was wäre Neverland ohne Captain Hook? Von dieser kindlichen Perspektive aus betrachtet ist die Welt der Muggel gleichbedeutend mit der Erwachsenenwelt und erscheint deshalb verständlicherweise als langweilig und repressiv. Aber daneben existiert von Anfang an auch die 'ernstere' Geschichte, in der Harry nicht bloß ein Abenteuer erlebendes Kind, sondern der 'Auserwählte' ist, der gegen den Dunklen Lord antreten und die Welt retten muss. In dieser kann Hogwarts nicht länger für das kindliche Traumland der Abenteuer stehen. Harry ist hier kein Peter Pan auf Zeit und Voldemort nicht Hook. In dieser Geschichte ist Hogwarts einfach eine Schule, Teil einer magischen Parallelwelt, die nicht von der Traumlogik der Fantasie, sondern von den Bürokraten des Zaubereiministeriums beherrscht wird und Schauplatz des mythischen Kampfes zwischen Gut und Böse ist. Im Rahmen dieser zweiten, zwar nicht erwachsenen, aber eben auch nicht mehr kindlichen, Geschichte macht es jedoch keinen rechten Sinn, warum die Muggel-Welt ein so schlechtes Image haben sollte.
Es ist eine der großen Ironien von Rowlings Geschichte, dass Bösewicht Voldemort ein Magier-Chauvinist ist, der Muggel für minderwertig hält, die Erzählerin selbst jedoch im Grunde nicht viel anders mit den bemitleidenswerten Leutchen verfährt, die nicht über das Zauberer-Gen verfügen. Oh sicher, wenn Harry und seine Freunde schließlich den Dunklen Lord bezwingen, retten sie damit auch die ‘Normalos’. Aber die dummen Muggel bekommen von diesem epischen Kampf, der über ihr Schicksal entscheidet, so gut wie gar nichts mit. Er findet hinter ihrem Rücken oder besser gesagt über ihren Köpfen statt. Warum lässt Rowling in ihren Büchern nicht einen einzigen Muggel als positiv gezeichnete handelnde Person von einiger Bedeutung auftreten? Immerhin spielt ihre Geschichte ja nicht in Narnia oder Oz, sondern in Großbritannien, die Zauberer leben sozusagen Tür an Tür mit den ‘Normalos’, und Hogwarts liegt in Schottland! Harry selbst besitzt praktischerweise keinerlei positive Bindungen an die Muggel-Welt, nur die widerwärtigen Dursleys. Aber auch die arme Hermine, die doch gleichfalls in einem 'normalen' Haushalt aufgewachsen ist, hat in den ersten elf Jahren ihres Lebens offenbar keinerlei Freundschaften geschlossen. Ist sie denn wirklich ein so zunerträgliches Mädchen?!
Hinter dieser eigenartigen Behandlung der Muggel-Welt scheint sich für mich folgendes zu verbergen: Rowling schreckt unbewusst davor zurück, sich mit einigen grundlegenden Realitäten der heutigen Gesellschaft ausein-anderzusetzen. Darum erschafft sie sich eine Parallelwelt, in der diese nicht existieren. Hierdurch – und nicht durch ihren phantastischen Charakter – erhält die Geschichte vom Töpferjungen einen deutlich eskapistischen Zug. Hogwarts ist nicht nur für Harry, sondern auch für die Autorin eine Art Refugium. Das Motiv der Flucht des einsamen Kindes in ein Wunderreich muss keineswegs zwangsläufig zu einem Ausweichen vor der Realität führen. So ist z.B. Michael Endes Unendliche Geschichte natürlich auch als Kritik an einer fantasielosen und oft grausamen Gesellschaft aufzufassen. Doch anders als Bastian ist Harry nicht das sensible Kind, das unter einer gefühlskalten Umwelt leidet. Seine Lage lässt sich nicht verallgemeinern, hat nichts beispielhaftes an sich. Die Grausamkeit der Dursleys wirkt reichlich unmotiviert, sie selbst sind so monströs gezeichnet, dass sie nur schwer als Vertreter allgemeinerer gesellschaftlicher Tendenzen gelesen werden können. Zwar hat Rowling über ihre Geschichte gesagt: "I wanted Harry to leave our world and find exactly the same problems in the wizarding world", doch belegt dies lediglich den unbewussten Charakter ihres Eskapismus. Natürlich herrscht auch in Hogwarts – selbst vor der Wiederkunft Voldemorts – nicht bloß eitel Sonnenschein. Aber die Probleme, mit denen sich Harry in der Zaubererwelt konfrontiert sieht, sind eben nicht ‘dieselben’, mit denen wir armen Muggel uns herumzuschlagen haben – auch nicht in phantastisch verfremdeter und zugespitzter Form. Sie sind vielmehr von all jenen Elementen der Realität gereinigt, die Rowling instinktiv zu ignorieren sucht. Und damit kommen wir zurück zum nostalgischen Flair der ‘school story’, das dem Potterversum eigen ist.

Fortsetzung folgt ...


(1) Vor ein paar Wochen hab ich mir nun auch Harry Potter und der Halbblutprinz zu Gemüte geführt und kann nur sagen: Was für ein schnarchiger Film! Es geschieht so gut wie überhaupt nichts von Bedeutung. Jungs und Mädels schlagen sich stundenlang mit unerträglich klischeehaften ‘erste Liebe’ - Problemen herum, ab und an jagen die bösen ‘Todesser’ irgendwas in die Luft und in der letzten halben Stunde erleben wir ‘blathos’ pur mit Dumbledores Tod ... Präsentiert den Zauberstab!
(2) Nach allem, was man so hört, gehen diese positiven Züge spätestens ab Orden des Phönix verloren und werden durch einen peinlich überladenen Stil, schiefe Metaphern, einen wild wuchernden Plot und eine durch Abwesenheit glänzende Struktur ersetzt. Zumindest aus den Deathly Hallows sind mir da einige wirklich gruselige Bei-spiele bekannt. "The suddenness and completeness of death was with them like a presence". Aua! Vgl.: Daniel Hemmens: Harry Potter and the Deathly Hallows.
(3) Ich beschränke mich hier auf Bücher, die ich selbst gelesen habe. Die Reihe ließe sich natürlich beliebig weiter fortsetzen. Ich denke da z.B. an die Werke von Dianna Wynne Jones.
(4) Und man möge mir jetzt bitte nicht mit den Konventionen des Märchens kommen, in denen der gute Prinz ja auch stets strahlend schön, die böse Hexe abgrundtief hässlich sei. Obwohl das Märchen – und vor allem das Kunstmärchen des 19. Jahrhunderts – sicher seinen Platz in der Ahnentafel der Fantasy besitzt (siehe etwa George MacDonald), kann man beide doch nicht einfach miteinander gleichsetzen (trotz Tolkiens oft zitiertem Essay On Fairy-tales). Märchen sind eine eigene literarische Gattung mit eigenen stilistischen Regeln. Wer sich für die schöpferische Aneignung dieser Tradition durch moderne Schriftstellerinnen & Schriftsteller interessiert, der schaue sich ein bisschen im Cabinet des Fées um.
(5) Die regelmäßigen Fressgelage stammen übrigens aus der Klischeekiste der ‘school story’.
(6) Oder angeblichen? JKR besitzt die irritierende Angewohnheit, ihrer Geschichte im Nachhinein irgendwelche Bedeutungen unterschieben zu wollen, die sich aus dem eigentlichen Text nur sehr schwer ableiten lassen.
(7) Betrachtet man sich den Stundenplan von Hogwarts und vergegenwärtigt sich, dass dies die einzige Art Bildung ist, die man jungen Hexen und Zauberern angedeihen lässt, so muss man zu dem Schluss gelangen, dass die Zaubererwelt von lauter magischen Fachidioten bevölkert wird. Der Unterricht ist extrem praxisorientiert, es geht einzig um den Erwerb von magischen Fertigkeiten, also von Macht. Musische Fächer fehlen ebenso wie theoretische oder gesellschaftswissenschaftliche (wenn man vom öden Geschichtsunterricht absieht). Und anders als Le Guins Zaubererschule von Roke – auf der man doch immerhin die alten Balladen gelernt und Lehren über die ethische Verantwortung eines Magiers erteilt bekommen hat – ist Hogwarts ja nicht Teil einer vormodernen Gesellschaft, sondern steht im Großbritannien des ausgehenden 20. Jahrhunderts! In gewisser Weise setzt Rowling auch hier die Traditionen der englischen ‘public school’ fort, die den Erwerb von Wissen nie als ihren Hauptzweck ansah. Bereits im offiziellen Rugby School Book von 1856 hieß es dazu: "We are not students in England. Great Englishmen (generally speaking) are great in some departments of practical life, great in statesmanship, jurisprudence or war. Their nature is abhorrent of the Study." (Zit. nach: C.L.R. James: Beyond a Boundary. S. 165.) Der wirkliche Grund dürfte jedoch in der konsequenten Unterordnung des ‘world-building’ unter die Bedürfnisse des Plots liegen. Im großen Kampf gegen Voldemort werden Harry und seine Freunde eben in erster Linie ihre zauberischen Fähigkeiten brauchen. Warum sollten sie dann in Hogwarts irgendetwas anderes lernen?
(8) Aus eigener Anschauung kenne ich ja nur die Verfilmung, aber Christopher Hitchens’ Rezension bestätigt mir, dass sich der dabei entstandene Eindruck auf die Bücher übertragen lässt: "If a French or German or other ‘foreign’ character appears in the Harry Potter novels, it is always as a cliché: Fleur and Krum both speaking as if to be from ‘the Continent’ is a joke in itself."
(9) Interessanterweise gehörten ausgerechnet indische und chinesische Mitschüler auch in der traditionellen ‘school story’ zum exotischen Inventar eines britischen Internats. Wenn die Schülerschaft von Hogwarts tatsächlich die multikulturelle Realität des heutigen Großbritannien hätte widerspiegeln sollen, wäre wenigstens eine Schülerin pakistanischer Herkunft ein absolutes Muss gewesen.
(10) Genau genommen besteht wohl nicht nur keinerlei Beziehung zwischen JKRs nachgereichten Offenbarungen über Dumbledores sexuelle Orientierung und der tatsächlichen Schilderung des Zauberers in den Büchern, dieselbigen verraten auch eine verdächtige Nähe zu homophoben Vorurteilen, wie FerretBrain's Daniel Hemmens sehr schön in einem seiner JKR-Bashing-Artikel ausgeführt hat.
(11) In den späteren Büchern tauchen wohl noch sehr viel widerlichere Passagen auf, in denen uns das Quälen und Erniedrigen unbeliebter Menschen als ein großer Spaß vorgeführt wird. Wirklich erschreckend ist in dieser Hinsicht die Szene mit Dolores Umbridge und den Kentauren in Harry Potter und der Orden des Phönix. Wollte man die mythologischen Bezüge ernst nehmen, so würde sie nichts weniger implizieren als eine Massenvergewaltigung! Allerdings scheinen mir Rowlings Anspielungen auf antike Mythen im allgemeinen nicht mehr als oberflächliches ‘name-dropping’ zu sein, was sie in diesem Fall vor den schlimmsten Implikationen ihres eigenen Textes bewahren könnte. Anders ausgedrückt: Vielleicht wusste sie selbst nicht, was sie da eigentlich schreibt. In ihrem Interesse kann ich das nur hoffen! Der Sadismus bleibt allerdings auch dann abstoßend.
 

Mittwoch, 22. Februar 2012

Gronk, Dale, Kitty?

Ich habe einen Grund mehr, mich auf Freitag zu freuen: Katie Cooks Webcomic

                Gronk - a monster's story

Immer Ärger mit Bobby

FerretBrain’s Arthur B. hat sich auf eine epische Reise durch die hyborischen Gefilde von Conan dem Cimmerier gemacht. Ergebnis seiner Expedition ist eine detaillierte Schilderung all der rassistischen, sexistischen, faschistoiden und homophoben Elemente in den Stories von Robert E. Howard. Nicht, dass dies eine wirklich neue Erkenntnis wäre (was er auch nicht behauptet), aber Arthur wirft damit wieder einmal die Frage auf, welche Stellung man als Fantasyfan gegenüber Howard beziehen sollte, der immerhin neben Tolkien als der zweite Gründervater der modernen Fantasy und als Schöpfer der Sword & Sorcery gilt.

Arthur springt wirklich sehr ungnädig mit ‘Two Guns’ Bob um. Seine Betrachtungsweise ist zweifellos einseitig, und manches, was er schreibt, zumindest diskussionsbedürftig. Insbesondere kann ich mich nicht seinem abschließenden Urteil anschließen und Howard als bloßen 'pulp-hack' in den Mülleimer der Literaturgeschichte befördern. Eines der Probleme, die ich mit dem Aufsatz habe, ist, dass Arthur sich ausschließlich mit den Conan-Stories beschäftigt. Auf diese Weise kann man unmöglich zu einer fairen Beurteilung Howards gelangen. Unter anderem auch deshalb, weil der Cimmerier seine zwar bekannteste, aber ironischerweise auch uninteressanteste Sword & Sorcery - Figur ist. Man ver-gleiche Conan nur einmal mit Solomon Kane, Kull, Bran Mak Morn, Dark Agnes.*
Dennoch bleibt es eine unleugbare Tatsache, dass Howards Stories haufenweise fragwürdige bis abstoßende Elemente enthalten. Machwerke wie The Frost Giant’s Daughter oder The Vale of the Lost Women sind schlicht widerwärtig. Und die Lösung für dieses Problem kann sicher nicht darin bestehen, wie Howards Biograph Mark Finn zu behaupten, der alte Bob sei doch gar nicht 'so' rassistisch oder sexistisch gewesen wie die bösen Linken immer behaupten.** Fakten lassen sich halt schwer wegdiskutieren. Noch bizarrer finde ich es, wenn der in deutschen Fantasykreisen nicht ganz unbekannte Frank Weinreich erklärt, Conan sei "ein weithin unterschätztes Zeugnis der Zivilisations-kritik der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts". Mit der 'Zivilisationkritik' dieses Herren werde ich mich auch einmal ausführlich beschäftigen müssen ...

Eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit 'Two Guns' Bob und seinem Erbe ist nach wie vor dringend nötig, auch wenn diese nach Möglichkeit etwas differenzierter ausfallen sollte als Arthurs allgemeines Verdammungsurteil. Doch leider habe ich das Gefühl, dass gerade in der deutsch-sprachigen Fantasyfanszene die Einstellung immer noch weit verbreitet ist, dass man das Genre und erst recht seine ikonischen Vertreter um jeden Preis gegen alle Kritik verteidigen müsse. Aber wie Ursula K. Le Guin einmal ganz richtig bemerkt hat, ist härteste Selbstkritik die erste Voraussetzung, wenn ein Genre 'respektabel' werden will.

Was mir an Arthurs Artikel vor allem fehlt ist der Versuch, Howard in seinem historischen und sozialen Umfeld zu verorten. Nicht dass die unappetitlichen Aspekte seines Werkes dadurch irgendwie erträglicher würden. Ich habe bloß Verachtung für das dümmliche  und unter Fanboys sehr beliebte Argument übrig, dass damals doch alle weißen Amerikaner Rassisten gewesen seien, und man sich deshalb über entsprechende Passagen in den Conan-Stories nicht aufregen solle.*** Um was es mir geht ist vielmehr, dass man Howards Barbarenfantasien vor dem Hintergrund der gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen sehen sollte, die sich in den 1920er Jahren in Folge des Ölbooms in Bobs Heimatstadt Cross Plains und in ganz Texas vollzogen. Und in dieser Hinsicht bietet Mark Finns Blood & Thunder eine sehr viel erhellendere Lektüre als Arthurs 'politisch korrekte' Tiraden. Ich interpretiere Howards Werk als eine halb anarchistische, halb faschistische Form der Rebellion gegen den amerikanischen Kapitalismus, der sich hinter dem Buhmann 'Zivilsation' verbirgt. Wie Howard im Dezember 1935 in einem Brief an H.P. Lovecraft schreibt: "Every corporation that has ever come into the Southwest bent solely on looting the region’s people and resources has waved a banner of 'progress and civilization.' ... Because we were tired of seeing corporations located in other sections grab huge monopolies on resources which they sucked dry and departed with bulging money-bags, leaving a devastated land behind them ... That the capitalist looters should throw a smokescreen of claims for progress and civilization and advancement is not surprizing; as with professional soldiers, dictators and imperialists, it is their favorite slogan." Howard vertritt hier eine typische Südstaaten-Perspektive. Schon die Ära der Reconstruction nach dem Bürgerkrieg wurde sehr gerne als eine Zeit gesehen, in der skrupellose Geschäftemacher und fiese Yankees über den 'armen' Süden hergefallen waren und ihn ausgeplündert hatten. Völlig unabhängig von der vielschichtigen Realität der Reconstruction, hatte diese Sicht sowohl zur Geburt des Ku Klux Klan als auch der Legenden um Jesse James als eines Robin Hood des Wilden Westens geführt. Beide Traditionslinien finden wir in Howards Geschichten. Es wirkt aberwitzig, wenn Bob in einem Atemzug die Texaner als Opfer eines inneramerikanischen 'Kolonialismus' beschreibt und seinem eigenen 'kolonialistischen' Rassismus Ausdruck verleiht: "I resent the forcing of alien culture and habits on my native state, even if that culture is superior. The Texas people have been as ruthlessly exploited as if they were painted savages."**** Doch in eben diesem Widerspruch liegt der Schlüssel zum Verständis seines literarischen Werkes.

* Okay, letztere gehört genaugenommen nicht zum Fantasygenre.
** Vgl.: Mark Finn: Blood & Thunder. The Life & Art of Robert E. Howard. S. 79ff.
*** Dass dieses Konstrukt eines allgemeinen weiße Rassismus nicht einmal auf die (in der Tat sehr rassistische) Pulp-Literatur der Zeit zutrifft, zeigt uns Gary Romeo in seinem Essay Southern Discomfort.
**** Zit. nach: Steve Tompkins: The Shortest Distance Between Two Towers.

Donnerstag, 16. Februar 2012

Hal und die Lemuren


Wie ich zu meiner großen Freude gestern erfahren durfte, hat Hal Duncan endlich einen neuen Roman vollendet. Zu diesem Anlass lässt er sich in seinem Blog auf gewohnt amüsante und wortreiche Weise über Schreibblockaden und Strategien, sie zu überwinden, aus. Ganz nebenbei erfährt man dabei auch etwas über die unheimliche Ausstrahlung von Lemuren ...
Ich habe erst vor gut einer Woche Ink, den zweiten Band von The Book of All Hours, fertig gelesen, und um ehrlich zu sein, ich weiß immer noch nicht so recht, wie ich diesen Roman beurteilen soll. Duncan ist ohne Zweifel ein ganz großes Talent, aber er krankt an einigen typisch postmodernen Leiden. Sobald ich mit mir selbst ins Reine gekommen bin, werde ich meine Einschätzung zu seinem ersten großen Werk hier zum Besten geben. Auf jedenfall bin ich äußerst gespannt auf TESTAMENT und wünsche ihm von ganzem Herzen, dass er möglichst bald einen Verleger für seine „anarcho-socialist détournement of the gospels" findet.

Teutonen-Steampunk (II)

(Anmerkungen eines Ignoranten)

Frustriert darüber, dass sich die großen deutschen Verlage offenbar nicht für Steampunk zu begeistern vermögen, machte sich Stefan Holzhauer (alias 'Professor Xanathon') im letzten Jahr daran, einen alternativen Weg für die Veröffentlichung deutschsprachiger Steampunk-Stories zu schaffen. (1) Seine selbstgestellte 'Mission' beschrieb er wie folgt:

Das Projekt STEAMPUNK-CHRONIKEN ist ein Experiment – ein Experiment, von dem ich derzeit noch nicht sagen kann, ob es erfolgreich sein wird. Aber das ist gerade das Spannende an Experimenten. Es geht um Autoren, um Leser, um Veröffentlichungen und um eBooks. Und selbstverständlich geht es auch um spannenden Lesestoff.
Es heißt:
- die "großen, etablierten" deutschen Verlage sagten: "Steampunk interessiert niemanden"
- eBooks sind ungeliebt, teuer und mit DRM verseucht
- Man muss bei einem Verlag unterkommen, um etwas veröffentlichen zu können
- Ohne Copyright und DRM geht in Sachen eBooks gar nichts
Ich sage:
- Falsch!

Herausgekommen ist dabei die Kurzgeschichten-Anthologie Æthergarn ein hübsch anzusehendes eBook, das man sich hier für umme runterladen kann (auch wenn freiwillige Geldgaben natürlich willkommen sind). Der erste Band der Steampunk-Chroniken enthält die folgenden zehn Stories:

- Das Herz, der Schlund und das Blut von Tedine Sanss (2)
- Die Jagd nach dem Kometentier von Sean O'Connell
- Lillys Zukunft von Andreas Dresen
- Die Jesaja-Mission von Alexandra Keller
- Den Tod falsch einsortiert von Andreas Wolz
- Ruf der Sterne von Tanja Meurer
- Es ist nicht leicht, kein Held zu sein von Bernd Meyer
- Die Schatten des Æthers von Andreas Suchanek
- Gedanken an Schmetterlinge von Thomas Wüstemann
- Die letzte Grenze von Dieter Bohn

Es widerstrebt mir, mit dem Ergebnis eines so idealistischen und sympathischen Projektes gar zu hart ins Gericht zu gehen. Doch andererseits ist niemandem geholfen, wenn über die deutlichen Schwächen der Anthologie hinweg gesehen wird.

Carsten Steenbergen, Autor und Mitglied des Steamtown-Teams, schreibt in seinem Vorwort:
"Für die im Sonnlicht blinkende Rückseite des Edelmetalls – den Punk – muss man die ausgetretenen Pfade verlassen, bereit sein, sich gegen die allgemeine Meinung der Gesellschaft (beziehungsweise der Verlage und Buchhändler) zu stemmen. Vor allem Konventionen Konventionen sein lassen."
Leider jedoch wirken die meisten der hier versammelten Geschichten auf mich alles andere als unkonventionell, und auch vom Punk habe ich nur wenig spüren können.

Die mit Abstand interessanteste Story ist Thomas Wüstemanns Gedanken an Schmetterlinge. Sie unterscheidet sich so deutlich vom Rest der Anthologie, dass ich sie mir für das Ende aufsparen will. Was an den übrigen neun zuerst einmal auffällt ist, dass keine von ihnen eine Alternative zu dem sattsam bekannten pseudoviktorianischen Ambiente zu entwickeln versucht. ‘Deutschen’ Steampunk bekommen wir also nicht geboten (auch wenn der Protagonist von Lillys Zukunft einen deutschen Namen trägt). Erstaunlich (und etwas beunruhigend) fand ich es, dass die Frage des Kolonialismus außer in Bohns Die letzte Grenze nirgends angesprochen wird. Wenn man die Geschichten liest, könnte man den Eindruck bekommen, es würde überhaupt kein Empire geben. Mit ein Grund dafür mag aber auch das übergeordneten Thema der Anthologie – Raumfahrt in der Ära des Steampunk – gewesen sein, denn dieses führt beinahe automatisch fort von den gesellschaftlichen Realitäten des viktorianischen England in eher ‘klassisch’ scientifictionale Gefilde.

Ein besonders krasser Beleg dafür ist Suchaneks Die Schatten des Æthers. Die Geschichte hat genau genommen überhaupt nichts mit Steampunk zu tun, sondern ist eine fürchterlich banale SciFi-Story (gefleddert wurden u.a. die Leichen von Invasion of the Body Snatchers, Alien und Event Horizon), in die ein paar steampunkige Gimmicks eingebaut worden sind, während das britische Königreich die Rolle der Star Trek - Föderation übernommen hat (das Ætherschiff Berlin besitzt eine multinationale Besatzung, zu der u.a. ein asiatischer [!!] Offizier gehört, der allerdings nicht Sulu heißt) und die Marsianer als Ersatz-Vulkanier fungieren. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, wie diese Story ihren Weg in die Anthologie gefunden hat.

Doch keine Angst, Suchaneks Geschichte ist nicht repräsentativ für Æthergarn. Am nächsten steht ihr noch Sean O’Connells Die Jagd nach dem Kometentier. Über die Hatz auf ein Weltraumungeheuer lässt sich wenig gutes oder schlechtes berichten. Wirklich geärgert hat mich allerdings, dass der Autor das Schiff seiner Helden Pequod genannt hat. Wer auf Moby Dick anspielt, sollte schon etwas mehr zu bieten haben als eine simple Monsterjagd. Und wo wir gerade bei Anspielungen sind: Dass ein marsianisches Ætherschiff den Namen Utopia Planitia trägt, mag man noch mit dem Argument durchgehen lassen, dass so ja eine Tiefebene auf dem Roten Planeten heisst, aber wenn unser Captain dann auch noch anfängt, Earl Grey zu schlürfen, muss der kleine Trekkie in mir doch laut aufstöhnen. Falls irgendein tieferer Sinn in diesen Star Trek - Reminiszenzen stecken soll, dann ist er wohl in Richtung des ‘Boldly go where no man has gone before’ zu suchen. Doch für mich hat die sinnlose Jagd auf eine exotische Kreatur nichts mit dem Forscherdrang von Picard & Co zu tun. Andererseits lässt sich die Geschichte aber auch nicht als Kritik am Großwildjägertum der viktorianischen ‘Entdecker’ lesen (was sehr schön gewesen wäre), dazu sind die Ähnlichkeiten mit dem Walfang (einem harten Beruf, keinem Gentlemansport) zu augenfällig. Und was zum Teufel hat der Begriff ‘Oortsche Wolke’ in einer Steampunkgeschichte zu suchen? Jan Hendrik Oort postulierte die Existenz der nach ihm benannten ‘zirkumsolaren Kometenwolke’ erstmals in den 1950er Jahren! Dieser atmosphärische Fauxpax zeigt sehr schön, dass auch O’Connells Story letztenendes nichts anderes ist als oberflächlich auf Steampunk gestylte SciFi-Dutzendware.

Wenden wir uns den interessanteren Teilen der Anthologie zu. Tedine Sanss verfolgt in Das Herz, der Schlund und das Blut ein ehrenwertes Ziel. Sie will den Dreck und das Elend offenlegen, die sich unter der glänzenden Oberfläche der pseudoviktorianischen Steampunkwelt verbergen. Leider bedient sie sich dazu einer viel zu simplen Methode. Sie lässt einen bornierten Society-Journalisten zufällig auf das Maschinendeck eines Ætherschiffs stolpern, wo er dann von einem der Arbeiter herumgeführt wird und zu sehen bekommt, wieviel Schweiß und Opfer es kostet, dieses stolze Gefährt in den Weltraum aufsteigen zu lassen. Als Leser fühlt man sich dabei auf ähnliche Weise geschulmeistert wie der Protagonist. Und das ist kein gutes Gefühl. Denn es ist ja nicht so, als hätten wir das nicht ohnehin schon gewusst. Statt uns stampfende Kolben und schwitzende Proletarier zu zeigen, wäre es nötig gewesen, uns auf dramatische Weise – also anhand lebendiger Figuren, ihrer Empfindungen und Interaktionen – spüren zu lassen, was es bedeutet, in einer Gesellschaft von so krasser Ungleichheit zu leben. Wieder einmal zeigt sich, dass gute Vorsätze leider noch keine guten Geschichten machen.

Der Plot von Lillys Zukunft wirkt auf den ersten Blick wie ein echt grauenhaftes Klischee: Netter Junge aus der Oberschicht versucht die goldherzige Prostituierte, in die er sich verliebt hat, aus den Klauen ihres fiesen Zuhälters zu befreien. Oh Gott! Doch glücklicherweise ist Andreas Dresens Geschichte ein gut Stück intelligenter als ich anfangs befürchtete. Sein naiver Protagonist Johann identifiziert sich nämlich mit den Helden der zeitgenössischen Abenteuerliteratur:
Alles, was er wusste, hatte er von seinem Privatlehrer gelernt und aus den Büchern seines Vaters. Aus ihnen wusste er, wie er sein Leben gestalten wollte und wie man sich als Held zu benehmen hatte. So wie Phileas Fogg seine Aouda in Jules Vernes »In achtzig Tagen um die Welt« vom Scheiterhaufen der Brahmanen rettete und aus Indien mit ins zivilisierte London nahm, so wollte er seine Lilly den Klauen Eugenes entreißen und entführen in ein besseres Leben an seiner Seite in den Kolonien. Kein Widerstand, keine Gefahr waren zu groß, um dieses edle Ziel zu erreichen. Dass sich sein Vater um die Details kümmern müsste, störte Johann nicht mehr. Denn auch Phileas Fogg wäre ohne seinen Diener Passepartout wahrscheinlich noch nicht einmal über den Ärmelkanal gekommen." (S. 60)
So lässt sich Johanns letztlich erfolgloser Versuch, seine Angebete zu retten, sehr wohl als eine Kritik an der Weltfremdheit und dem inhärenten  Chauvinismus und Paternalismus des viktorianischen Bildes vom Gentleman-Helden lesen. Die Machinaisten mit ihrer Maschinenreligion wirken dabei freilich wie überflüssiges Beiwerk. Sie hinterlassen den Eindruck, als habe der Autor mit ihnen zweifelsfrei beweisen wollen, dass seine Geschichte das Label Steampunk verdient.

Der erfrischend ironische Ton von Alexandra Kellers Die Jesaja-Mission ließ mich einiges erwarten, doch leider hat mich die Auflösung um so mehr enttäuscht. Was als Satire auf das kolonialistische ‘Entdeckertum’ (inklusive christlichem Missionseifer) beginnt, endet in einer etwas wirren Story über superintelligente Ratten, die offenbar die Invasion der Erde planen. Es kann aber auch sein, dass ich da irgendwas mit dem ‘Rattenmenschen’ von Todt nicht mitbekommen habe. Eine Anspielung vielleicht? Wenn, worauf? Ich bin etwas verwirrt. Denn sprachlich hätte die Autorin wirklich sehr viel mehr erreichen können. Besonders gut hat mir eine Szene gefallen, die aus der Sicht des Bordhundes Attila geschrieben ist.

In Andreas Wolz’ Den Tod falsch einsortiert geht es um mechanische Kalkulatoren (3) und den ‘menschlichen Faktor’, aber irgendwie hat mich das alles kalt gelassen. Nicht dass es eine schlechte Geschichte wäre, sie enthält bloß nichts, was mein Interesse hätte wecken können. Auch habe ich eine tiefe Abneigung gegen Stories, die Auftragskiller in einem sympathischen Licht erscheinen lassen, auch dann, wenn es sich bei ihren Opfern ‘bloß’ um jene handelt, die ‘ihrer gerechten Strafe’ entgangen sind. Selbstjustiz als „Müllabfuhr der Gerechtigkeit" (S. 104) ist ganz und gar nicht nach meinem Geschmack. (Womit ich natürlich nicht sagen will, Wolz würde solche Taten tatsächlich gut heißen. Aber sie sollen offenbar keinen Abscheu in uns auslösen.)

Mit Tanja Meurers Ruf der Sterne tue ich es mir aus anderen Gründen schwer. Wie man auf ihrer Website erfahren kann, hat die Autorin bereits früher Geschichten über Annabelle Talleyrand – eine Wissenschaftlerin in einem mechanischen Körper – und ihre Freundin Zaida – eine unsterbliche angolanische Magierin – geschrieben. Derzeit arbeitet sie an einem Roman über die beiden. Insofern ist es vielleicht verständlich, dass wir in Ruf der Sterne nur wenig Hintergrundsinformationen über das Paar erhalten. Für den unbedarften Leser ist das allerdings ziemlich irritierend. Annabelles Roboterkörper mag man als Steampunk-Gimmick abbuchen, aber was soll man mit der seltsamen Zauberin anfangen, die einen kurzen Auftritt hat (und offenbar eine wichtige Person ist), jedoch absolut nichts von Bedeutung für die Handlung beiträgt? Apropos Zaida: Vielleicht werde ich in nächster Zeit einmal etwas über die Stories schreiben, die Tanja Meurer auf ihrer Website veröffentlicht hat. Da das Element, das mir bei diesen besonders große Probleme bereitet, in Ruf der Sterne kaum vorhanden ist, beschränke ich mich darauf, ganz vorsichtig die Frage zu stellen, ob ich der einzige bin, für den eine afrikanische Magierin in einem viktorianisch-englischen Setting ein bisschen nach Exotismus schmeckt? Zur Beurteilung der vorliegenden Story sehr viel wichtiger sind freilich einige recht gravierende Logiklöcher. Sollte tatsächlich niemand außer der brillanten Annabelle in der Lage sein, zu erkennen, dass die angeblichen Raumschiffe gemäß newtonscher Gesetze unmöglich fliegen können? Und warum ermordet Ingenieur Erhardt, der den Tod seines Sohnes rächen will, nicht einfach seinen Partner Vock, sondern jagt stattdessen ein ganzes Werk mitsamt einhundertfünfzig Arbeitern in die Luft? Wahnsinn? Das ist mir eine etwas zu simple Begründung.

Mit Es ist nicht leicht, kein Held zu sein betreten wir erneut humoristische Gefilde. Die Ironie ist manchmal vielleicht etwas bemüht, aber alles in allem ist die Geschichte über den gar nicht heroischen, sondern eher etwas trägen und versnobten Sir Geoffrey, von dem dennoch jeder erwartet, dass er als ein ‘echter Nelson’ ein geborener Kriegsheld sein müsse, wirklich amüsant. Am Ende rettet Butler Lionel den Tag und die Familienehre seines Herren.

Und dann wäre da noch Dieter Bohns Die letzte Grenze, eine Geschichte, die mich trotz eines wirklich originellen Einfalls, verärgert zurück gelassen hat. Thema ist mal wieder der erste Flug zum Mond, was technisch anders, aber nicht wirklich realistischer, als bei Verne oder Wells abläuft. An Bord der der Explorer befinden sich Lord Nicolas McGuire, Lord Ralph Cumberland und Lady Ellen Thornton. Während Cumberland ein erzkonservativer Vertreter von König und Vaterland ist, gibt Lady Ellen die Radikale. McGuire ist in erster Linie Gentleman. Während ihres Flugs in den Weltraum ergehen sie sich in erhitzten Streitgesprächen, wobei es vor allem um den Fluch oder Segen des Kolonialismus geht. Das hört sich dann so an:
»Und was geschieht, wenn wir diese neuen Welten erobert haben?«, fragte die junge Frau [...]. »Werden wir dann das Leid, mit dem wir unseren eigenen Planeten zu Grunde richten, auch auf neue Planeten exportieren? Ich war in Afrika und ich habe gesehen, was wir zivilisierten Weißen mit den schwarzen Eingeborenen gemacht haben! Sie haben uns mit offenen Armen empfangen – und wir machten Leibeigene aus ihnen!« »Mich dünkt, Eure Ansichten sind recht … liberal, Mylady«, sagte Lord Cumberland mit einem missbilligenden Heben der Augenbraue. »Bei Ihnen klingt das wie ein Schimpfwort! Spricht es denn gegen die Würde unseres Standes, die Würde anderer Menschen … die Würde aller Menschen zu achten?« (S. 191f.)
Oder so:
»Warum sind Sie überhaupt mitgekommen? Auf einer Reise, die möglicherweise das Fundament für neue Kolonien legt?« »Um zu verhindern, dass Menschen wie Sie für Gott und den König Besitz von anderen Wesen und deren Ländereien ergreifen und zugrunde richten – wie es in Afrika oder der Neuen Welt geschehen ist!« »Sie beleidigen Ihr Land, Mylady! Wenn Sie ein Mann wären…« »Was dann? Würden Sie mir dann in männlichem Imponiergehabe den Fehdehandschuh hinwerfen? Um einen Menschen, der anderer Meinung ist als Sie, mundtot zu machen? – Ja nicht auf die Argumente der anderen hören, lieber gleich diese Meinung tilgen(S. 197f.)
Habe ich mich bei den übrigen Geschichten darüber beklagt, dass sie die Existenz des Empire einfach ignorieren, so ist diese Behandlung des Themas für mich genauso unbefriedigend. Zuerst einmal ist es nie gut, wenn man als Schriftsteller eine Figur als Sprachrohr für die eigenen Ideen verwendet. Außerdem hätte man in der Aristokratie des edwardianischen England mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemanden mit ähnlich fortschrittlichen Ansichten finden können. Niemand hätte sie als ‘liberal’ bezeichnet. Einen so entschiedenen Antikolonialismus vertraten zu dieser Zeit nur die Anhänger und Anhängerinnen der radikalen sozialistischen Linken. Selbst die Fabier (4) und Henry Hyndman – der Führer der Social Democratic Federation – lehnten den Kolonialismus nicht grundsätzlich ab, sondern wollten ihn bloß reformieren und ‘humanisieren’. Erschwerend kommt hinzu, dass Cumberland und Lady Ellen Karrikaturen, keine Personen sind.
Der wahre Held der Geschichte ist der ‘gemäßigte’ Lord Nicolas, der sich weniger Gedanken über das Empire oder andere politische oder weltanschauliche Fragen macht, sondern sich stattdessen lieber in die streitbare Lady verliebt,  „dieses aufgeschlossene, scharfzüngige, quirlige, streitbare, starke … und zarte Wesen" (S. 196). Allein schon diese Formulierung lässt einen befürchten, wohin das ganze sich entwickeln wird. Und – leider leider – man wird nicht enttäuscht. Den großen Gag, der den Höhepunkt der Handlung bildet, möchte ich hier nicht verraten. Es sei nur so viel gesagt, dass die ‘letzte Grenze’ aus dem Titel nicht nur eine Anspielung auf Star Trek 5 ist. Was mich jedoch wirklich angekotzt hat – ein milderer Ausdruck wird meinen Gefühlen nicht gerecht –, ist, dass wir es bei Bohns Story letztenendes mit der x-ten Variante des ‘radikale Emanze wird durch die Liebe eines Mannes von ihren überspannten Ideen geheilt’ zu tun haben. Denn natürlich sinkt Ellen am Ende aufseufzend in die Arme ihres Nicolas, und sobald die beiden auf die Erde zurück gekehrt sind, wird’s ans Kindermachen gehen:
»Wird man uns überhaupt glauben, Nicolas?« Seit dem Start hatte sie seine Nähe gesucht, so als bräuchte sie in einen Halt für ihr Leben. »Dürfen wir das den Menschen überhaupt sagen?« »Die Wahrheit lässt sich nicht verschweigen! Eine Weile kann man sie vielleicht unterdrücken, aber es werden andere kommen.« Nicolas legte seinen Arm um sie … und sie ließ es sich gefallen. Die Zeiten des demonstrativen Zurschaustellens ihrer Unabhängigkeit waren vorbei. [...] Er drückte seine Stirn an ihre. »Ich werde bei Dir sein und wir werden die Unruhen, die da kommen mögen, überstehen. Gemeinsam!« Sie sah ihn mit einem Augenaufschlag an und ein klein wenig blitzte in ihren Augen der Lausejunge auf. »Dann können wir die Geheimnisse vielleicht Nicolas John McGuire, dem Vierten, überlassen?« (S. 206f.)

Wenden wir uns lieber ganz schnell Thomas Wüstemanns Gedanken an Schmetterlinge zu!
Was an dieser Geschichte sofort positiv auffällt ist die Originalität des Settings. Endlich einmal kein pseudoviktorianisches England, keine korsetttragenden Ladies und distinguierten Gentlemen. Stattdessen finden wir uns an Bord des mexikanischen ‘Drachen’ (Luftschiffs) Acalli (5) wieder, der im Auftrag der jungen Republik in den Kampf gegen die ehemalige Kolonialmacht Spanien zieht. Wüstemann kombiniert die Geschichte des Mexikanischen Unabhängigkeitskrieges von 1810-21 mit Steampunk-Elementen. Kommandant der Acalli ist Agustin de Iturbide, der allerdings eher wie eine Mischung aus dem realen ‘Libertador’ und dem ‘Napoleon des Westens’ López de Santa Anna wirkt. Seine Rolle in dieser Alternativhistorie ist zudem ungleich bedeutender als in der realen Geschichte Mexikos, da die Aufständischen nur dank seiner in den Besitz der überlegenen, auf Dampfkraft basierenden Technologie der Spanier gelangt sind. Seitdem gilt er als der große Held der Revolution.

Eine der faszinierendsten Aspekte des ‘Drachen’ ist die (der patriotischen Ideologie seiner Erbauer entsprungene) Verknüpfung von Technik und aztekischer Mythologie:
Die Acalli war das erste Schiff, das in Auftrag und alleiniger Ausführung der neu entstandenen Republik gebaut worden war, und es stand ganz im Zeichen der Geschichte. Mateo war ein Nahua, ein Nachfahr der großen Azteken. So blickte er mit dem Gedanken an seine Ahnen auf den Schlund des Drachen, jedes Mal wenn er eine Schaufel Kohle ins Feuer beförderte: die metallene Verkleidung der Maschine war verziert mit Ideogrammen aus der alten Zeit, einer Darstellung von Mictlan, der Unterwelt, und von Mictlantecuhtli, dem Herrscher über die Toten. Dies war die Art der Konstrukteure, die Hierarchien an Bord zu versinnbildlichen – hier unten herrschten der Tod und das Feuer. Oben an Deck, an der Spitze des Schiffes, thronte Ehecatl, der Herr des Windes, und lenkte sie in die Kälte der Stratosphäre." (S. 161)
In diesem mythischen Element drückt sich auch etwas von der Beziehung zwischen den Arbeitern und der riesigen Maschine aus. Das Luftschiff ist für sie beinahe so etwas wie ein Lebewesen, doch sehen sie in ihm nicht etwa eine Art Reittier (was ja vielleicht naheliegend wäre), sondern eher ein quasigöttliches Ungeheuer, dem sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Aus gutem Grund wird das Maschinendeck mit der Unterwelt identifiziert, die dort schuftenden Maschinisten als „namenlose Höllendiener" (S. 171) beschrieben.
Held der Geschichte ist der fünfzehnjährige Emilio, ein ebenso verträumter wie nachdenklicher Junge, der auf Drängen seiner Mutter und unter der Obhut des ‘Drachenbändigers’ (Maschinisten) Mateo an Bord der Acalli gelangt ist und dort als einer der ‘Weichensteller’ dient, „die über große Ventile den Verlauf des Dampfes durch das Schiff" lenken. Seine Beziehung zu dem ‘Drachen’ ist vielschichtig und ambivalent. Technisch interessiert – er liest entsprechende Handbücher – pflegt er zugleich eine quasiromantische Sicht auf die ihn umgebende Welt: „Wenn die rotglühenden Dampfzirkel, die durch die Rohre schießen, Schmetterlinge wären, dachte Emilio heute, dann wäre das Okular mein Schmetterlingsnetz, mit dem ich sie in meinem Kopf konserviere. Ich darf nur den Gedanken an sie nicht verlieren" (S. 165). Doch vielleicht ist letzteres auch nur ein Versuch, sich etwas von der ‘Unschuld’ und Sicherheit seiner Vergangenheit als Hütejunge zu bewahren. Denn noch stärker als seine Kameraden spürt er das Ausgeliefertsein an die (Kriegs)Maschine, der er ‘dient’: „Als Emilio den Blick nach unten senkte [...] entdeckte er einen Vogel, der kaum einen Kilometer unter dem Schiff und weit über den letzten Wolken die Schwingen ausbreitete. [...] Der Vogel kann Reißaus vor dem Drachen nehmen, dachte Emilio. Ich muss gemeinsam mit dem Ungeheuer zurück zum Boden. Oder mit ihm sterben" (S. 163). „Emilio fühlte sich sehr verloren. In seinem alten Leben, da hatte er die Dinge beeinflussen können. Wenn ihm eine Pflanze einzugehen drohte, dann gab er mehr Wasser. Wenn ihm ein Pflug kaputtging, dann reparierte er ihn mit allem, was eben greifbar war – zumeist ein starkes Stück Seil. Hier war er den Geschehnissen ausgeliefert. Er hatte die Kontrolle verloren" (S. 165).
Ich habe Wüstemanns Story als eine Geschichte über den Menschen im mechanisierten Krieg der Moderne gelesen, abhängig von den Entscheidungen einer Elite, die ihm so fremd ist wie die Götter, und zu einem Rädchen im Getriebe einer Maschinerie degradiert, von der sein Überleben abhängt und die er als einzelner nicht beeinflussen kann. Als Gruppe sind es zwar die Maschinisten, die den ‘Drachen’ kontrollieren und die darum de facto über sehr viel mehr Macht verfügen, als die Offiziere, wie Emilio ganz richtig erkennt: „Er [Iturbide] mochte der Held einer Nation sein, aber hier, als Kommandant der Angriffsarmee, war er dem Verlauf der Ereignisse so ausgeliefert wie jeder an Bord. Ohne seine Mannschaft war er verloren. So hatten die Drachenbändiger am Ende vielleicht mehr Kontrolle als die oberste Hoheit selbst. Wenigstens konnten sie das Schiff steuern und notfalls die Flucht einleiten" (S. 169). Auf sich allein gestellt ist jedoch ein jeder von ihnen vollkommen machtlos. Sie sind „gesichtslose Menschen, die gegen die Technik kämpften" (S. 173).
Die Geschichte erreicht ihren Höhepunkt mit der unausweichlichen Schlacht gegen ein spanisches Luftschiff. Und immer wieder wird die Hilflosigkeit der Menschen, ihre Unterordnung unter die (Kriegs)Maschine hervorgehoben. Als Emilio mexikanische Soldaten auf dem schwerelosen Schlachtfeld der Stratosphäre kämpfen sieht, heißt es von ihnen: „Die Gesichter waren hinter Apparaten verborgen, die sie mehr dem Schiff anglichen, als sie noch menschlich erscheinen zu lassen. [...] So ist es also, wenn Drachen kämpfen, dachte er. Man lässt alles Menschliche fallen und wird Teil der Bestie" (S. 173). Er selbst wird zu so einer maskierten Marionette gemacht, als man ihn losschickt, das beschädigte Rahsegel des ‘Drachen’ zu reparieren: „Aller Widerstand strömte aus Emilio heraus. Dann sollte es halt so sein. Er wurde einer der Gesichtslosen, ein Rad im Getriebe der Drachen-bändiger und erfüllte seine Pflicht. Vorbei waren die Träumereien. Er setzte die Maske auf [...] Von jetzt an, dachte Emilio noch, sehe ich alles aus dem Blickfeld des Drachen" (S. 174).
Schließlich opfert sich Emilio in einem heldenhaften Akt zur Verteidigung der Acalli, und scheint so zu beweisen, „dass dieses eine Mal tatsächlich eine Person das Schicksal der anderen in der Hand hatte" (S. 181). Doch selbst als Toter bleibt er ein Werkzeug in den Händen anderer. Noch bevor die Nachricht von seinem Tod seine Mutter erreicht hat, wird sich die Regierung bereits seiner bemächtigt und ihn zu einem Propaganda-Märtyrer für das Vaterland gemacht haben.

Gedanken an Schmetterlinge ist nicht makellos. Stilistisch hätte die Geschichte durchaus noch die eine oder andere Überarbeitung vertragen können. Dennoch bildet sie das Kronjuwel der Anthologie.
Allerdings muss ich zum Schluss doch noch ein paar kritische Anmerkungen über das alternativhistorische Setting loswerden. So sehr es mich gefreut hat, einmal das pseudoviktorianische England hinter mir lassen zu dürfen, frage ich mich doch, ob die Epoche nach dem Mexikanischen Unabhängigkeitskrieg eine kluge Wahl gewesen ist. Die Geschichte erwähnt neben Luftschiffen und gepanzerten Schienenwagen mehrfach Radiosendungen. Tatsächlich scheint das Radio so weit verbreitet zu sein, dass es das wichtigste Propagandamittel der Republik bildet. Das gibt der Erzählung das Flair des beginnenden 20., nicht des beginnenden 19. Jahrhunderts. Wäre es da nicht sinniger gewesen, wenn Wüstemann sich an der Mexikanischen Revolution von 1911 orientiert hätte? Tatsächlich scheint er die Inspiration für einige Elemente seiner Geschichte eher aus dieser Ära bezogen zu haben. So waren es meines Wissens nach erst die mexikanischen Nationalisten und Revolutionäre des 20. Jahrhunderts, die sich wieder vermehrt auf die indianischen Wurzeln ihrer Heimat zurückbesannen, man denke z.B. an Diego Riveras gewaltige Wandgemälde am Palacio Nacional in Mexico City: (1), (2). Das reale Iturbide-Regime hätte sich kaum auf die aztekische Tradition berufen. (Nahuatl war glaube ich sogar verboten). Auch die betont ‘revolutionäre’ Propaganda passt eher zu den nationalistischen Regierungen des 20. Jahrhunderts. Für gut sieben Jahrzehnte wurde der mexikanische Staat schließlich von der Partido Revolucionario Institucional beherrscht. In vielerlei Hinsicht wäre eine solche Orientierung allerdings gleichfalls problematisch gewesen. Es hätte z.B. keine spanische Kolonialmacht gegeben, gegen die die Acalli hätte kämpfen können. Das Regime, das in Wüstemanns Geschichte aus dem Aufstand hervorgegangen ist, nennt sich zwar Republik, ist jedoch offenbar eine Oligarchie der ‘Hoheiten’. Das entspricht in etwa dem Ausgang des Unabhängigkeitskrieges, im Falle der Revolution von 1911 wäre eine solche Darstellung hingegen zu simpel gewesen. Da das Thema seiner Geschichte nicht Revolution, sondern mechanisierter Krieg ist, kann ich Wüstemanns Entscheidung letztlich nachvollziehen. Dennoch wirkt das Setting etwas irritierend, wie eine Steampunk-Story, die während der Napoleonischen Kriege spielt – und ich weiß nicht, ob Temeraire mit Zeppelinen an Stelle von Drachen funktionieren würde.

Auch wenn mich Æthergarn also nicht gerade vom Hocker gerissen hat, hoffe ich natürlich dennoch, dass Stefan Holzhauer sein Projekt Steampunk-Chroniken fortsetzen wird, und bin gespannt, was der bereits angekündigte Band 1.5 zu bieten haben wird. Was mich freuen würde, wäre allerdings, wenn sich die beteiligten Autorinnen und Autoren in Zukunft etwas mehr von inzwischen auch schon recht verstaubten Konventionen lösen würden. Warum immer aus der Perspektive von Mitgliedern der privilegierten Oberschicht erzählen? Und warum sich auf die Welt eines pseudoviktorianischen England beschränken? Thomas Wüstemann hat gezeigt, dass es auch anders geht.
Welch faszinierende Möglichkeiten sich eröffnen, wenn man das viktorianische Korsett einmal gesprengt hat, zeigt z.B. das Tasneem Project des britisch-muslimischen Anarchisten Yunus Yakoub Muslim (alias Julaybib Ayoub). Oder Amal El-Mohtars großartige, erstmals in SteamPowered I veröffentlichte Kurzgeschichte To Follow the Waves, die man sich bei PodCastle anhören kann. (Viele Steampunker würden vermutlich behaupten, dass das ja kein 'echter' Steampunk ist, aber die Ansichten von Spießern gleich welcher Couleur gehören geflissentlich ignoriert).

Und wer jetzt zum Abschluss noch ein bisschen Musik genießen will, den verweise ich auf John Anealios Steampunk Girl.


(1) Ein Interview mit Holzhauer über das Projekt findet sich im Zauberspiegel.
(2) Man kann sich Tedine Sanss' Geschichte auch auf dem Fantasy Channel von Rena Larf vorlesen lassen.
(3) Ob er dabei wohl an Charles Babbage und seine 1832 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellte 'Difference Engine' gedacht hat?
(4) Die Fabian Society war eine reformsozialistische Organisation, zu deren prominentesten Mitgliedern George Bernard Shaw, H.G. Wells, Edith Nesbit, Virginia Woolf, Annie Besant, Ramsay MacDonald sowie Sidney & Beatrice Webb gehörten.
(5) 'Acalli' bedeutet 'Schiff' in Nahuatl, der Sprache der Azteken.