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Donnerstag, 16. Februar 2012

Teutonen-Steampunk (II)

(Anmerkungen eines Ignoranten)

Frustriert darüber, dass sich die großen deutschen Verlage offenbar nicht für Steampunk zu begeistern vermögen, machte sich Stefan Holzhauer (alias 'Professor Xanathon') im letzten Jahr daran, einen alternativen Weg für die Veröffentlichung deutschsprachiger Steampunk-Stories zu schaffen. (1) Seine selbstgestellte 'Mission' beschrieb er wie folgt:

Das Projekt STEAMPUNK-CHRONIKEN ist ein Experiment – ein Experiment, von dem ich derzeit noch nicht sagen kann, ob es erfolgreich sein wird. Aber das ist gerade das Spannende an Experimenten. Es geht um Autoren, um Leser, um Veröffentlichungen und um eBooks. Und selbstverständlich geht es auch um spannenden Lesestoff.
Es heißt:
- die "großen, etablierten" deutschen Verlage sagten: "Steampunk interessiert niemanden"
- eBooks sind ungeliebt, teuer und mit DRM verseucht
- Man muss bei einem Verlag unterkommen, um etwas veröffentlichen zu können
- Ohne Copyright und DRM geht in Sachen eBooks gar nichts
Ich sage:
- Falsch!

Herausgekommen ist dabei die Kurzgeschichten-Anthologie Æthergarn ein hübsch anzusehendes eBook, das man sich hier für umme runterladen kann (auch wenn freiwillige Geldgaben natürlich willkommen sind). Der erste Band der Steampunk-Chroniken enthält die folgenden zehn Stories:

- Das Herz, der Schlund und das Blut von Tedine Sanss (2)
- Die Jagd nach dem Kometentier von Sean O'Connell
- Lillys Zukunft von Andreas Dresen
- Die Jesaja-Mission von Alexandra Keller
- Den Tod falsch einsortiert von Andreas Wolz
- Ruf der Sterne von Tanja Meurer
- Es ist nicht leicht, kein Held zu sein von Bernd Meyer
- Die Schatten des Æthers von Andreas Suchanek
- Gedanken an Schmetterlinge von Thomas Wüstemann
- Die letzte Grenze von Dieter Bohn

Es widerstrebt mir, mit dem Ergebnis eines so idealistischen und sympathischen Projektes gar zu hart ins Gericht zu gehen. Doch andererseits ist niemandem geholfen, wenn über die deutlichen Schwächen der Anthologie hinweg gesehen wird.

Carsten Steenbergen, Autor und Mitglied des Steamtown-Teams, schreibt in seinem Vorwort:
"Für die im Sonnlicht blinkende Rückseite des Edelmetalls – den Punk – muss man die ausgetretenen Pfade verlassen, bereit sein, sich gegen die allgemeine Meinung der Gesellschaft (beziehungsweise der Verlage und Buchhändler) zu stemmen. Vor allem Konventionen Konventionen sein lassen."
Leider jedoch wirken die meisten der hier versammelten Geschichten auf mich alles andere als unkonventionell, und auch vom Punk habe ich nur wenig spüren können.

Die mit Abstand interessanteste Story ist Thomas Wüstemanns Gedanken an Schmetterlinge. Sie unterscheidet sich so deutlich vom Rest der Anthologie, dass ich sie mir für das Ende aufsparen will. Was an den übrigen neun zuerst einmal auffällt ist, dass keine von ihnen eine Alternative zu dem sattsam bekannten pseudoviktorianischen Ambiente zu entwickeln versucht. ‘Deutschen’ Steampunk bekommen wir also nicht geboten (auch wenn der Protagonist von Lillys Zukunft einen deutschen Namen trägt). Erstaunlich (und etwas beunruhigend) fand ich es, dass die Frage des Kolonialismus außer in Bohns Die letzte Grenze nirgends angesprochen wird. Wenn man die Geschichten liest, könnte man den Eindruck bekommen, es würde überhaupt kein Empire geben. Mit ein Grund dafür mag aber auch das übergeordneten Thema der Anthologie – Raumfahrt in der Ära des Steampunk – gewesen sein, denn dieses führt beinahe automatisch fort von den gesellschaftlichen Realitäten des viktorianischen England in eher ‘klassisch’ scientifictionale Gefilde.

Ein besonders krasser Beleg dafür ist Suchaneks Die Schatten des Æthers. Die Geschichte hat genau genommen überhaupt nichts mit Steampunk zu tun, sondern ist eine fürchterlich banale SciFi-Story (gefleddert wurden u.a. die Leichen von Invasion of the Body Snatchers, Alien und Event Horizon), in die ein paar steampunkige Gimmicks eingebaut worden sind, während das britische Königreich die Rolle der Star Trek - Föderation übernommen hat (das Ætherschiff Berlin besitzt eine multinationale Besatzung, zu der u.a. ein asiatischer [!!] Offizier gehört, der allerdings nicht Sulu heißt) und die Marsianer als Ersatz-Vulkanier fungieren. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, wie diese Story ihren Weg in die Anthologie gefunden hat.

Doch keine Angst, Suchaneks Geschichte ist nicht repräsentativ für Æthergarn. Am nächsten steht ihr noch Sean O’Connells Die Jagd nach dem Kometentier. Über die Hatz auf ein Weltraumungeheuer lässt sich wenig gutes oder schlechtes berichten. Wirklich geärgert hat mich allerdings, dass der Autor das Schiff seiner Helden Pequod genannt hat. Wer auf Moby Dick anspielt, sollte schon etwas mehr zu bieten haben als eine simple Monsterjagd. Und wo wir gerade bei Anspielungen sind: Dass ein marsianisches Ætherschiff den Namen Utopia Planitia trägt, mag man noch mit dem Argument durchgehen lassen, dass so ja eine Tiefebene auf dem Roten Planeten heisst, aber wenn unser Captain dann auch noch anfängt, Earl Grey zu schlürfen, muss der kleine Trekkie in mir doch laut aufstöhnen. Falls irgendein tieferer Sinn in diesen Star Trek - Reminiszenzen stecken soll, dann ist er wohl in Richtung des ‘Boldly go where no man has gone before’ zu suchen. Doch für mich hat die sinnlose Jagd auf eine exotische Kreatur nichts mit dem Forscherdrang von Picard & Co zu tun. Andererseits lässt sich die Geschichte aber auch nicht als Kritik am Großwildjägertum der viktorianischen ‘Entdecker’ lesen (was sehr schön gewesen wäre), dazu sind die Ähnlichkeiten mit dem Walfang (einem harten Beruf, keinem Gentlemansport) zu augenfällig. Und was zum Teufel hat der Begriff ‘Oortsche Wolke’ in einer Steampunkgeschichte zu suchen? Jan Hendrik Oort postulierte die Existenz der nach ihm benannten ‘zirkumsolaren Kometenwolke’ erstmals in den 1950er Jahren! Dieser atmosphärische Fauxpax zeigt sehr schön, dass auch O’Connells Story letztenendes nichts anderes ist als oberflächlich auf Steampunk gestylte SciFi-Dutzendware.

Wenden wir uns den interessanteren Teilen der Anthologie zu. Tedine Sanss verfolgt in Das Herz, der Schlund und das Blut ein ehrenwertes Ziel. Sie will den Dreck und das Elend offenlegen, die sich unter der glänzenden Oberfläche der pseudoviktorianischen Steampunkwelt verbergen. Leider bedient sie sich dazu einer viel zu simplen Methode. Sie lässt einen bornierten Society-Journalisten zufällig auf das Maschinendeck eines Ætherschiffs stolpern, wo er dann von einem der Arbeiter herumgeführt wird und zu sehen bekommt, wieviel Schweiß und Opfer es kostet, dieses stolze Gefährt in den Weltraum aufsteigen zu lassen. Als Leser fühlt man sich dabei auf ähnliche Weise geschulmeistert wie der Protagonist. Und das ist kein gutes Gefühl. Denn es ist ja nicht so, als hätten wir das nicht ohnehin schon gewusst. Statt uns stampfende Kolben und schwitzende Proletarier zu zeigen, wäre es nötig gewesen, uns auf dramatische Weise – also anhand lebendiger Figuren, ihrer Empfindungen und Interaktionen – spüren zu lassen, was es bedeutet, in einer Gesellschaft von so krasser Ungleichheit zu leben. Wieder einmal zeigt sich, dass gute Vorsätze leider noch keine guten Geschichten machen.

Der Plot von Lillys Zukunft wirkt auf den ersten Blick wie ein echt grauenhaftes Klischee: Netter Junge aus der Oberschicht versucht die goldherzige Prostituierte, in die er sich verliebt hat, aus den Klauen ihres fiesen Zuhälters zu befreien. Oh Gott! Doch glücklicherweise ist Andreas Dresens Geschichte ein gut Stück intelligenter als ich anfangs befürchtete. Sein naiver Protagonist Johann identifiziert sich nämlich mit den Helden der zeitgenössischen Abenteuerliteratur:
Alles, was er wusste, hatte er von seinem Privatlehrer gelernt und aus den Büchern seines Vaters. Aus ihnen wusste er, wie er sein Leben gestalten wollte und wie man sich als Held zu benehmen hatte. So wie Phileas Fogg seine Aouda in Jules Vernes »In achtzig Tagen um die Welt« vom Scheiterhaufen der Brahmanen rettete und aus Indien mit ins zivilisierte London nahm, so wollte er seine Lilly den Klauen Eugenes entreißen und entführen in ein besseres Leben an seiner Seite in den Kolonien. Kein Widerstand, keine Gefahr waren zu groß, um dieses edle Ziel zu erreichen. Dass sich sein Vater um die Details kümmern müsste, störte Johann nicht mehr. Denn auch Phileas Fogg wäre ohne seinen Diener Passepartout wahrscheinlich noch nicht einmal über den Ärmelkanal gekommen." (S. 60)
So lässt sich Johanns letztlich erfolgloser Versuch, seine Angebete zu retten, sehr wohl als eine Kritik an der Weltfremdheit und dem inhärenten  Chauvinismus und Paternalismus des viktorianischen Bildes vom Gentleman-Helden lesen. Die Machinaisten mit ihrer Maschinenreligion wirken dabei freilich wie überflüssiges Beiwerk. Sie hinterlassen den Eindruck, als habe der Autor mit ihnen zweifelsfrei beweisen wollen, dass seine Geschichte das Label Steampunk verdient.

Der erfrischend ironische Ton von Alexandra Kellers Die Jesaja-Mission ließ mich einiges erwarten, doch leider hat mich die Auflösung um so mehr enttäuscht. Was als Satire auf das kolonialistische ‘Entdeckertum’ (inklusive christlichem Missionseifer) beginnt, endet in einer etwas wirren Story über superintelligente Ratten, die offenbar die Invasion der Erde planen. Es kann aber auch sein, dass ich da irgendwas mit dem ‘Rattenmenschen’ von Todt nicht mitbekommen habe. Eine Anspielung vielleicht? Wenn, worauf? Ich bin etwas verwirrt. Denn sprachlich hätte die Autorin wirklich sehr viel mehr erreichen können. Besonders gut hat mir eine Szene gefallen, die aus der Sicht des Bordhundes Attila geschrieben ist.

In Andreas Wolz’ Den Tod falsch einsortiert geht es um mechanische Kalkulatoren (3) und den ‘menschlichen Faktor’, aber irgendwie hat mich das alles kalt gelassen. Nicht dass es eine schlechte Geschichte wäre, sie enthält bloß nichts, was mein Interesse hätte wecken können. Auch habe ich eine tiefe Abneigung gegen Stories, die Auftragskiller in einem sympathischen Licht erscheinen lassen, auch dann, wenn es sich bei ihren Opfern ‘bloß’ um jene handelt, die ‘ihrer gerechten Strafe’ entgangen sind. Selbstjustiz als „Müllabfuhr der Gerechtigkeit" (S. 104) ist ganz und gar nicht nach meinem Geschmack. (Womit ich natürlich nicht sagen will, Wolz würde solche Taten tatsächlich gut heißen. Aber sie sollen offenbar keinen Abscheu in uns auslösen.)

Mit Tanja Meurers Ruf der Sterne tue ich es mir aus anderen Gründen schwer. Wie man auf ihrer Website erfahren kann, hat die Autorin bereits früher Geschichten über Annabelle Talleyrand – eine Wissenschaftlerin in einem mechanischen Körper – und ihre Freundin Zaida – eine unsterbliche angolanische Magierin – geschrieben. Derzeit arbeitet sie an einem Roman über die beiden. Insofern ist es vielleicht verständlich, dass wir in Ruf der Sterne nur wenig Hintergrundsinformationen über das Paar erhalten. Für den unbedarften Leser ist das allerdings ziemlich irritierend. Annabelles Roboterkörper mag man als Steampunk-Gimmick abbuchen, aber was soll man mit der seltsamen Zauberin anfangen, die einen kurzen Auftritt hat (und offenbar eine wichtige Person ist), jedoch absolut nichts von Bedeutung für die Handlung beiträgt? Apropos Zaida: Vielleicht werde ich in nächster Zeit einmal etwas über die Stories schreiben, die Tanja Meurer auf ihrer Website veröffentlicht hat. Da das Element, das mir bei diesen besonders große Probleme bereitet, in Ruf der Sterne kaum vorhanden ist, beschränke ich mich darauf, ganz vorsichtig die Frage zu stellen, ob ich der einzige bin, für den eine afrikanische Magierin in einem viktorianisch-englischen Setting ein bisschen nach Exotismus schmeckt? Zur Beurteilung der vorliegenden Story sehr viel wichtiger sind freilich einige recht gravierende Logiklöcher. Sollte tatsächlich niemand außer der brillanten Annabelle in der Lage sein, zu erkennen, dass die angeblichen Raumschiffe gemäß newtonscher Gesetze unmöglich fliegen können? Und warum ermordet Ingenieur Erhardt, der den Tod seines Sohnes rächen will, nicht einfach seinen Partner Vock, sondern jagt stattdessen ein ganzes Werk mitsamt einhundertfünfzig Arbeitern in die Luft? Wahnsinn? Das ist mir eine etwas zu simple Begründung.

Mit Es ist nicht leicht, kein Held zu sein betreten wir erneut humoristische Gefilde. Die Ironie ist manchmal vielleicht etwas bemüht, aber alles in allem ist die Geschichte über den gar nicht heroischen, sondern eher etwas trägen und versnobten Sir Geoffrey, von dem dennoch jeder erwartet, dass er als ein ‘echter Nelson’ ein geborener Kriegsheld sein müsse, wirklich amüsant. Am Ende rettet Butler Lionel den Tag und die Familienehre seines Herren.

Und dann wäre da noch Dieter Bohns Die letzte Grenze, eine Geschichte, die mich trotz eines wirklich originellen Einfalls, verärgert zurück gelassen hat. Thema ist mal wieder der erste Flug zum Mond, was technisch anders, aber nicht wirklich realistischer, als bei Verne oder Wells abläuft. An Bord der der Explorer befinden sich Lord Nicolas McGuire, Lord Ralph Cumberland und Lady Ellen Thornton. Während Cumberland ein erzkonservativer Vertreter von König und Vaterland ist, gibt Lady Ellen die Radikale. McGuire ist in erster Linie Gentleman. Während ihres Flugs in den Weltraum ergehen sie sich in erhitzten Streitgesprächen, wobei es vor allem um den Fluch oder Segen des Kolonialismus geht. Das hört sich dann so an:
»Und was geschieht, wenn wir diese neuen Welten erobert haben?«, fragte die junge Frau [...]. »Werden wir dann das Leid, mit dem wir unseren eigenen Planeten zu Grunde richten, auch auf neue Planeten exportieren? Ich war in Afrika und ich habe gesehen, was wir zivilisierten Weißen mit den schwarzen Eingeborenen gemacht haben! Sie haben uns mit offenen Armen empfangen – und wir machten Leibeigene aus ihnen!« »Mich dünkt, Eure Ansichten sind recht … liberal, Mylady«, sagte Lord Cumberland mit einem missbilligenden Heben der Augenbraue. »Bei Ihnen klingt das wie ein Schimpfwort! Spricht es denn gegen die Würde unseres Standes, die Würde anderer Menschen … die Würde aller Menschen zu achten?« (S. 191f.)
Oder so:
»Warum sind Sie überhaupt mitgekommen? Auf einer Reise, die möglicherweise das Fundament für neue Kolonien legt?« »Um zu verhindern, dass Menschen wie Sie für Gott und den König Besitz von anderen Wesen und deren Ländereien ergreifen und zugrunde richten – wie es in Afrika oder der Neuen Welt geschehen ist!« »Sie beleidigen Ihr Land, Mylady! Wenn Sie ein Mann wären…« »Was dann? Würden Sie mir dann in männlichem Imponiergehabe den Fehdehandschuh hinwerfen? Um einen Menschen, der anderer Meinung ist als Sie, mundtot zu machen? – Ja nicht auf die Argumente der anderen hören, lieber gleich diese Meinung tilgen(S. 197f.)
Habe ich mich bei den übrigen Geschichten darüber beklagt, dass sie die Existenz des Empire einfach ignorieren, so ist diese Behandlung des Themas für mich genauso unbefriedigend. Zuerst einmal ist es nie gut, wenn man als Schriftsteller eine Figur als Sprachrohr für die eigenen Ideen verwendet. Außerdem hätte man in der Aristokratie des edwardianischen England mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemanden mit ähnlich fortschrittlichen Ansichten finden können. Niemand hätte sie als ‘liberal’ bezeichnet. Einen so entschiedenen Antikolonialismus vertraten zu dieser Zeit nur die Anhänger und Anhängerinnen der radikalen sozialistischen Linken. Selbst die Fabier (4) und Henry Hyndman – der Führer der Social Democratic Federation – lehnten den Kolonialismus nicht grundsätzlich ab, sondern wollten ihn bloß reformieren und ‘humanisieren’. Erschwerend kommt hinzu, dass Cumberland und Lady Ellen Karrikaturen, keine Personen sind.
Der wahre Held der Geschichte ist der ‘gemäßigte’ Lord Nicolas, der sich weniger Gedanken über das Empire oder andere politische oder weltanschauliche Fragen macht, sondern sich stattdessen lieber in die streitbare Lady verliebt,  „dieses aufgeschlossene, scharfzüngige, quirlige, streitbare, starke … und zarte Wesen" (S. 196). Allein schon diese Formulierung lässt einen befürchten, wohin das ganze sich entwickeln wird. Und – leider leider – man wird nicht enttäuscht. Den großen Gag, der den Höhepunkt der Handlung bildet, möchte ich hier nicht verraten. Es sei nur so viel gesagt, dass die ‘letzte Grenze’ aus dem Titel nicht nur eine Anspielung auf Star Trek 5 ist. Was mich jedoch wirklich angekotzt hat – ein milderer Ausdruck wird meinen Gefühlen nicht gerecht –, ist, dass wir es bei Bohns Story letztenendes mit der x-ten Variante des ‘radikale Emanze wird durch die Liebe eines Mannes von ihren überspannten Ideen geheilt’ zu tun haben. Denn natürlich sinkt Ellen am Ende aufseufzend in die Arme ihres Nicolas, und sobald die beiden auf die Erde zurück gekehrt sind, wird’s ans Kindermachen gehen:
»Wird man uns überhaupt glauben, Nicolas?« Seit dem Start hatte sie seine Nähe gesucht, so als bräuchte sie in einen Halt für ihr Leben. »Dürfen wir das den Menschen überhaupt sagen?« »Die Wahrheit lässt sich nicht verschweigen! Eine Weile kann man sie vielleicht unterdrücken, aber es werden andere kommen.« Nicolas legte seinen Arm um sie … und sie ließ es sich gefallen. Die Zeiten des demonstrativen Zurschaustellens ihrer Unabhängigkeit waren vorbei. [...] Er drückte seine Stirn an ihre. »Ich werde bei Dir sein und wir werden die Unruhen, die da kommen mögen, überstehen. Gemeinsam!« Sie sah ihn mit einem Augenaufschlag an und ein klein wenig blitzte in ihren Augen der Lausejunge auf. »Dann können wir die Geheimnisse vielleicht Nicolas John McGuire, dem Vierten, überlassen?« (S. 206f.)

Wenden wir uns lieber ganz schnell Thomas Wüstemanns Gedanken an Schmetterlinge zu!
Was an dieser Geschichte sofort positiv auffällt ist die Originalität des Settings. Endlich einmal kein pseudoviktorianisches England, keine korsetttragenden Ladies und distinguierten Gentlemen. Stattdessen finden wir uns an Bord des mexikanischen ‘Drachen’ (Luftschiffs) Acalli (5) wieder, der im Auftrag der jungen Republik in den Kampf gegen die ehemalige Kolonialmacht Spanien zieht. Wüstemann kombiniert die Geschichte des Mexikanischen Unabhängigkeitskrieges von 1810-21 mit Steampunk-Elementen. Kommandant der Acalli ist Agustin de Iturbide, der allerdings eher wie eine Mischung aus dem realen ‘Libertador’ und dem ‘Napoleon des Westens’ López de Santa Anna wirkt. Seine Rolle in dieser Alternativhistorie ist zudem ungleich bedeutender als in der realen Geschichte Mexikos, da die Aufständischen nur dank seiner in den Besitz der überlegenen, auf Dampfkraft basierenden Technologie der Spanier gelangt sind. Seitdem gilt er als der große Held der Revolution.

Eine der faszinierendsten Aspekte des ‘Drachen’ ist die (der patriotischen Ideologie seiner Erbauer entsprungene) Verknüpfung von Technik und aztekischer Mythologie:
Die Acalli war das erste Schiff, das in Auftrag und alleiniger Ausführung der neu entstandenen Republik gebaut worden war, und es stand ganz im Zeichen der Geschichte. Mateo war ein Nahua, ein Nachfahr der großen Azteken. So blickte er mit dem Gedanken an seine Ahnen auf den Schlund des Drachen, jedes Mal wenn er eine Schaufel Kohle ins Feuer beförderte: die metallene Verkleidung der Maschine war verziert mit Ideogrammen aus der alten Zeit, einer Darstellung von Mictlan, der Unterwelt, und von Mictlantecuhtli, dem Herrscher über die Toten. Dies war die Art der Konstrukteure, die Hierarchien an Bord zu versinnbildlichen – hier unten herrschten der Tod und das Feuer. Oben an Deck, an der Spitze des Schiffes, thronte Ehecatl, der Herr des Windes, und lenkte sie in die Kälte der Stratosphäre." (S. 161)
In diesem mythischen Element drückt sich auch etwas von der Beziehung zwischen den Arbeitern und der riesigen Maschine aus. Das Luftschiff ist für sie beinahe so etwas wie ein Lebewesen, doch sehen sie in ihm nicht etwa eine Art Reittier (was ja vielleicht naheliegend wäre), sondern eher ein quasigöttliches Ungeheuer, dem sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Aus gutem Grund wird das Maschinendeck mit der Unterwelt identifiziert, die dort schuftenden Maschinisten als „namenlose Höllendiener" (S. 171) beschrieben.
Held der Geschichte ist der fünfzehnjährige Emilio, ein ebenso verträumter wie nachdenklicher Junge, der auf Drängen seiner Mutter und unter der Obhut des ‘Drachenbändigers’ (Maschinisten) Mateo an Bord der Acalli gelangt ist und dort als einer der ‘Weichensteller’ dient, „die über große Ventile den Verlauf des Dampfes durch das Schiff" lenken. Seine Beziehung zu dem ‘Drachen’ ist vielschichtig und ambivalent. Technisch interessiert – er liest entsprechende Handbücher – pflegt er zugleich eine quasiromantische Sicht auf die ihn umgebende Welt: „Wenn die rotglühenden Dampfzirkel, die durch die Rohre schießen, Schmetterlinge wären, dachte Emilio heute, dann wäre das Okular mein Schmetterlingsnetz, mit dem ich sie in meinem Kopf konserviere. Ich darf nur den Gedanken an sie nicht verlieren" (S. 165). Doch vielleicht ist letzteres auch nur ein Versuch, sich etwas von der ‘Unschuld’ und Sicherheit seiner Vergangenheit als Hütejunge zu bewahren. Denn noch stärker als seine Kameraden spürt er das Ausgeliefertsein an die (Kriegs)Maschine, der er ‘dient’: „Als Emilio den Blick nach unten senkte [...] entdeckte er einen Vogel, der kaum einen Kilometer unter dem Schiff und weit über den letzten Wolken die Schwingen ausbreitete. [...] Der Vogel kann Reißaus vor dem Drachen nehmen, dachte Emilio. Ich muss gemeinsam mit dem Ungeheuer zurück zum Boden. Oder mit ihm sterben" (S. 163). „Emilio fühlte sich sehr verloren. In seinem alten Leben, da hatte er die Dinge beeinflussen können. Wenn ihm eine Pflanze einzugehen drohte, dann gab er mehr Wasser. Wenn ihm ein Pflug kaputtging, dann reparierte er ihn mit allem, was eben greifbar war – zumeist ein starkes Stück Seil. Hier war er den Geschehnissen ausgeliefert. Er hatte die Kontrolle verloren" (S. 165).
Ich habe Wüstemanns Story als eine Geschichte über den Menschen im mechanisierten Krieg der Moderne gelesen, abhängig von den Entscheidungen einer Elite, die ihm so fremd ist wie die Götter, und zu einem Rädchen im Getriebe einer Maschinerie degradiert, von der sein Überleben abhängt und die er als einzelner nicht beeinflussen kann. Als Gruppe sind es zwar die Maschinisten, die den ‘Drachen’ kontrollieren und die darum de facto über sehr viel mehr Macht verfügen, als die Offiziere, wie Emilio ganz richtig erkennt: „Er [Iturbide] mochte der Held einer Nation sein, aber hier, als Kommandant der Angriffsarmee, war er dem Verlauf der Ereignisse so ausgeliefert wie jeder an Bord. Ohne seine Mannschaft war er verloren. So hatten die Drachenbändiger am Ende vielleicht mehr Kontrolle als die oberste Hoheit selbst. Wenigstens konnten sie das Schiff steuern und notfalls die Flucht einleiten" (S. 169). Auf sich allein gestellt ist jedoch ein jeder von ihnen vollkommen machtlos. Sie sind „gesichtslose Menschen, die gegen die Technik kämpften" (S. 173).
Die Geschichte erreicht ihren Höhepunkt mit der unausweichlichen Schlacht gegen ein spanisches Luftschiff. Und immer wieder wird die Hilflosigkeit der Menschen, ihre Unterordnung unter die (Kriegs)Maschine hervorgehoben. Als Emilio mexikanische Soldaten auf dem schwerelosen Schlachtfeld der Stratosphäre kämpfen sieht, heißt es von ihnen: „Die Gesichter waren hinter Apparaten verborgen, die sie mehr dem Schiff anglichen, als sie noch menschlich erscheinen zu lassen. [...] So ist es also, wenn Drachen kämpfen, dachte er. Man lässt alles Menschliche fallen und wird Teil der Bestie" (S. 173). Er selbst wird zu so einer maskierten Marionette gemacht, als man ihn losschickt, das beschädigte Rahsegel des ‘Drachen’ zu reparieren: „Aller Widerstand strömte aus Emilio heraus. Dann sollte es halt so sein. Er wurde einer der Gesichtslosen, ein Rad im Getriebe der Drachen-bändiger und erfüllte seine Pflicht. Vorbei waren die Träumereien. Er setzte die Maske auf [...] Von jetzt an, dachte Emilio noch, sehe ich alles aus dem Blickfeld des Drachen" (S. 174).
Schließlich opfert sich Emilio in einem heldenhaften Akt zur Verteidigung der Acalli, und scheint so zu beweisen, „dass dieses eine Mal tatsächlich eine Person das Schicksal der anderen in der Hand hatte" (S. 181). Doch selbst als Toter bleibt er ein Werkzeug in den Händen anderer. Noch bevor die Nachricht von seinem Tod seine Mutter erreicht hat, wird sich die Regierung bereits seiner bemächtigt und ihn zu einem Propaganda-Märtyrer für das Vaterland gemacht haben.

Gedanken an Schmetterlinge ist nicht makellos. Stilistisch hätte die Geschichte durchaus noch die eine oder andere Überarbeitung vertragen können. Dennoch bildet sie das Kronjuwel der Anthologie.
Allerdings muss ich zum Schluss doch noch ein paar kritische Anmerkungen über das alternativhistorische Setting loswerden. So sehr es mich gefreut hat, einmal das pseudoviktorianische England hinter mir lassen zu dürfen, frage ich mich doch, ob die Epoche nach dem Mexikanischen Unabhängigkeitskrieg eine kluge Wahl gewesen ist. Die Geschichte erwähnt neben Luftschiffen und gepanzerten Schienenwagen mehrfach Radiosendungen. Tatsächlich scheint das Radio so weit verbreitet zu sein, dass es das wichtigste Propagandamittel der Republik bildet. Das gibt der Erzählung das Flair des beginnenden 20., nicht des beginnenden 19. Jahrhunderts. Wäre es da nicht sinniger gewesen, wenn Wüstemann sich an der Mexikanischen Revolution von 1911 orientiert hätte? Tatsächlich scheint er die Inspiration für einige Elemente seiner Geschichte eher aus dieser Ära bezogen zu haben. So waren es meines Wissens nach erst die mexikanischen Nationalisten und Revolutionäre des 20. Jahrhunderts, die sich wieder vermehrt auf die indianischen Wurzeln ihrer Heimat zurückbesannen, man denke z.B. an Diego Riveras gewaltige Wandgemälde am Palacio Nacional in Mexico City: (1), (2). Das reale Iturbide-Regime hätte sich kaum auf die aztekische Tradition berufen. (Nahuatl war glaube ich sogar verboten). Auch die betont ‘revolutionäre’ Propaganda passt eher zu den nationalistischen Regierungen des 20. Jahrhunderts. Für gut sieben Jahrzehnte wurde der mexikanische Staat schließlich von der Partido Revolucionario Institucional beherrscht. In vielerlei Hinsicht wäre eine solche Orientierung allerdings gleichfalls problematisch gewesen. Es hätte z.B. keine spanische Kolonialmacht gegeben, gegen die die Acalli hätte kämpfen können. Das Regime, das in Wüstemanns Geschichte aus dem Aufstand hervorgegangen ist, nennt sich zwar Republik, ist jedoch offenbar eine Oligarchie der ‘Hoheiten’. Das entspricht in etwa dem Ausgang des Unabhängigkeitskrieges, im Falle der Revolution von 1911 wäre eine solche Darstellung hingegen zu simpel gewesen. Da das Thema seiner Geschichte nicht Revolution, sondern mechanisierter Krieg ist, kann ich Wüstemanns Entscheidung letztlich nachvollziehen. Dennoch wirkt das Setting etwas irritierend, wie eine Steampunk-Story, die während der Napoleonischen Kriege spielt – und ich weiß nicht, ob Temeraire mit Zeppelinen an Stelle von Drachen funktionieren würde.

Auch wenn mich Æthergarn also nicht gerade vom Hocker gerissen hat, hoffe ich natürlich dennoch, dass Stefan Holzhauer sein Projekt Steampunk-Chroniken fortsetzen wird, und bin gespannt, was der bereits angekündigte Band 1.5 zu bieten haben wird. Was mich freuen würde, wäre allerdings, wenn sich die beteiligten Autorinnen und Autoren in Zukunft etwas mehr von inzwischen auch schon recht verstaubten Konventionen lösen würden. Warum immer aus der Perspektive von Mitgliedern der privilegierten Oberschicht erzählen? Und warum sich auf die Welt eines pseudoviktorianischen England beschränken? Thomas Wüstemann hat gezeigt, dass es auch anders geht.
Welch faszinierende Möglichkeiten sich eröffnen, wenn man das viktorianische Korsett einmal gesprengt hat, zeigt z.B. das Tasneem Project des britisch-muslimischen Anarchisten Yunus Yakoub Muslim (alias Julaybib Ayoub). Oder Amal El-Mohtars großartige, erstmals in SteamPowered I veröffentlichte Kurzgeschichte To Follow the Waves, die man sich bei PodCastle anhören kann. (Viele Steampunker würden vermutlich behaupten, dass das ja kein 'echter' Steampunk ist, aber die Ansichten von Spießern gleich welcher Couleur gehören geflissentlich ignoriert).

Und wer jetzt zum Abschluss noch ein bisschen Musik genießen will, den verweise ich auf John Anealios Steampunk Girl.


(1) Ein Interview mit Holzhauer über das Projekt findet sich im Zauberspiegel.
(2) Man kann sich Tedine Sanss' Geschichte auch auf dem Fantasy Channel von Rena Larf vorlesen lassen.
(3) Ob er dabei wohl an Charles Babbage und seine 1832 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellte 'Difference Engine' gedacht hat?
(4) Die Fabian Society war eine reformsozialistische Organisation, zu deren prominentesten Mitgliedern George Bernard Shaw, H.G. Wells, Edith Nesbit, Virginia Woolf, Annie Besant, Ramsay MacDonald sowie Sidney & Beatrice Webb gehörten.
(5) 'Acalli' bedeutet 'Schiff' in Nahuatl, der Sprache der Azteken.

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