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Mittwoch, 29. Februar 2012

Eine Pflichtarbeit (II)

Verspätete Gedanken über den Töpferjungen


George Orwell schreibt in einem seiner Essays: "[T]he school story is a thing peculiar to England. So far as I know, there are extremely few school stories in foreign languages. The reason, obviously, is that in England education is mainly a matter of status. The most definite dividing line between the petite-bourgeoisie and the working class is that the former pay for their education, and within the bourgeoisie there is another unbridgeable gulf between the ‘public’ school and the ‘private’ school. It is quite clear that there are tens and scores of thousands of people to whom every detail of life at a ‘posh’ public school is wildly thrilling and romantic. They happen to be outside that mystic world of quadrangles and house-colours, but they can yearn after it, day-dream about it, live mentally in it for hours at a stretch." (1)

Nun erfüllt Rowlings magische Internatsgeschichte zwar sicher nicht die alte Funktion des Träumens vom tollen Leben, das ‘die da oben’ angeblich führen, aber dennoch ist die institutionalisierte Verknüpfung von Klasse und Bildung, die Orwell als Hintergrund der ‘school story’ ausgemacht hat, auch für das Verständnis von Harry Potter von Bedeutung. Hogwarts ist nämlich in der Tat ganz nach dem Vorbild einer traditionellen britischen ‘public school’ gezeichnet, die man nicht etwa mit einer deutschen ‘öffentlichen Schule’ verwechseln darf. So wird ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass der Unterricht an einer so berühmten Lehranstalt natürlich nicht kostenlos ist. Die Eltern angehender Zauberer oder Hexen haben nicht nur allem Anschein nach Schulgeld zu entrichten, sie müssen auch für die kostspieligen Lehrmittel aufkommen. Das führt dazu, dass das Umfeld, in dem Harry Potter spielt, eine deutlich erkennbare klassenspezifische Einfärbung erhält. Nicht nur Hogwarts, sondern Rowlings ganze Zaubererwelt ist ein Universum der Mittelklasse. Ein großer Teil der realen Gesellschaft bleibt damit von vornherein aus dieser Parallelwelt ausgeschlossen. Selbst Hermine, die als Tochter zweier Muggel doch zu den von Magier-Chauvinisten wie den Malfoys verachteten 'Schlammblütern' gehört, entstammt derselben sozialen Klasse wie ihre 'reinblütigen' Mitschüler. Ihre Mutter ist keine Supermarktkassiererin, ihr Vater kein Staplerfahrer, beide gehen vielmehr dem respektablen Beruf des Zahnarztes nach. (2)


Natürlich existieren auch in Rowlings Zaubererwelt Besitzunterschiede. Und in der Form des exemplarisch ausgeführten Gegensatzes zwischen den unvermögenden, aber guten Weasleys und den reichen, aber bösen Malfoys spielen diese sogar eine nicht unwichtige Rolle. Doch zum einen gehören auch die Weasleys dem Mittelstand an (Rons Vater ist Beamter im Zaubereiministerium), zum anderen sind die Malfoys nicht einfach bloß reich, sie sind vor allem aristokratische Snobs. Als solche stellen Draco und seine Familie eine Karrikatur des traditionellen britischen Establishments dar, und wäre Harry Potter dreißig Jahre früher geschrieben worden, hätte das den Büchern vielleicht einen ‘progressiven’ Anstrich verleihen können. Aber heutzutage wirkt der hier konstruierte Konflikt zwischen biederen Mittelständlern und eingebildeten Aristokraten bloß noch wie ein anachronistisches Klischee. Seit der Thatcher-Ära der 80er Jahre ist es zum Aufstieg einer Schicht von Yuppies, Spekulanten und Neureichen gekommen, die nichts mehr mit den aristokratischen Traditionen und der snobistischen 'Kultur' der alten Elite Englands zu tun haben. Oft stehen sie ihnen sogar eher feindlich gegenüber, denn zum einen entstammen sie selbst ja nicht diesen 'kultivierten' Kreisen, zum anderen sehen sie in dem verknöcherten Konservatismus, der die britische Bourgeoisie so lange prägte, bloß noch ein lästiges Hindernis bei ihrer nicht enden wollenden Jagd nach Reichtum und Ansehen. Vor dem Hintergrund eben dieser gesellschaftlichen Entwicklung muss Harry Potter gesehen werden.

Die von den Medien zu einem Cinderella-Märchen aufgebauschte Geschichte von der alleinerziehenden Mutter und Sozialhilfeempfängerin, die durch das Schreiben von Kinderbüchern zur Millionärin wurde, verdeckt ein wenig die Tatsache, dass Rowling selbst aus einer typischen Mittelklassefamilie stammt. Sie studierte in Exeter und Paris, arbeitete erst für Amnesty International und später als Lehrerin in Portugal. Als sie Harry Potter und der Stein der Weisen zu schreiben begann, war sie mitnichten die verzweifelte Arbeitslose: "I'm often informed that I wrote the first book as escapism, because my life was so horrible. Well, that's just not true. When I started writing the books, I was working, in a very happy relationship, life was fine, no one had died. Everything was okay." Ihr ungeheurer Erfolg offenbarte nicht nur ihr Talent als clevere und harte Geschäftsfrau, sondern machte sie auch zu einem Mitglied der oben genannten Schicht von Parvenüs, und alles deutet darauf hin, dass sie sich in ihr sehr wohl fühlt. Zu ihren engen persönlichen Freunden gehören der ehemalige Labour-Premier George Brown und seine Ehefrau Sarah. Eine vielsagende Freundschaft. Neben Tony Blair war Brown der zweite Initiator von New Labour, d.h. der Verwandlung der alten sozialreformistischen Partei in ein williges Werkzeug des Finanzkapitals. In Blairs Kabinett war Brown Finanzminister und als solcher der treue Erbwalter des Thatcherismus. Selbstverständlich unterstützte er auch die Invasion Afghanistans und den Überfall auf den Irak. Obwohl persönlich der große Rivale Blairs, setzte er als dessen Nachfolger in Downingstreet No. 10 seine Politik beinah ungebrochen fort und schaffte es, Labour bei der arbeitenden Bevölkerung Großbritanniens endgültig so verhasst zu machen, dass er bei den Parlamentswahlen 2010 eine demütigende Niederlange einstecken und die Regierung an den Tory Cameron übergeben musste. Da konnten auch die eine Millionen Pfund nichts mehr helfen, die Rowling der Partei hatte zukommen lassen. Wer den schleimigen Lobgesang lesen will, den die Schriftstellerin auf ihren Freund verfasst hat, möge hier nachschauen.
Anlässlich des G20-Gipfels im Frühjahr 2009 trug Rowling den Ehefrauen der ‘Weltführer’ Passagen aus ihrem Potter-‘tie-in’-Buch The Tales of Beedle the Bard vor. Anschließend gab’s ‘standing ovations’ und Sarah Brown dankte ihr mit folgenden Worten: "I think I can speak on behalf of all G20 spouses when we say thank you so much. In this difficult time, with the difficult summit taking place down the road. You remind us all about the part that culture plays in keeping us all alive." Welche Schriftstellerin mit einem Minimum an kritischem Verstand und Selbstachtung würde sich für so eine widerliche Komödie hergeben?

Der einzige mir bekannte Kritiker, der auf den Mittelklassecharakter der Potter-Welt hingewiesen hat, ist Harold Bloom. Selbst erklärte Rowling-Hasser wie Daniel Hemmens scheinen dem gegenüber blind zu sein, aber vielleicht hat sich ‘Minority Warrior’ Dan auch zu sehr in den Fallstricken der ‘Identitiätspolitik’ verheddert, um solchen ‘marxistisch’ anmutenden Fragen seine Aufmerksamkeit schenken zu können. Ich jedenfalls halte diesen Charakter für sehr wichtig. In ihm, so glaube ich, liegt auch der Schlüssel zur nostalgischen Seite von Harry Potter. Rowling sehnt sich zwar nicht zurück in vergangene Zeiten, aber sie fühlt sich offenbar wohler in einer Welt, die in ihrer sozialen Zusammensetzung einer klassischen 'public school' gleicht. (3) Also schreibt sie eine magische ‘school story’. Der wichtigste Aspekt der heutigen Realität, der dabei ausgeschlossen bleibt, ist die immer monströsere Ausmaße annehmende soziale Polarisation, die mehr und mehr jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens ihren Stempel aufdrückt.

Es geht mir wohlgemerkt nicht darum, der Geschichte mangelnden Sozialkritik vorzuwerfen. Kinderbücher sind keine politischen Pamphlete und sollten es auch nicht sein. Entscheidend ist vielmehr die Frage, was es braucht, um eine lebendige Welt, bevölkert mit lebendigen Figuren zu beschreiben? Rowling bildet sich sehr viel darauf ein, in ihren Büchern kein märchenhaftes Wunderland, sondern eine mehr oder weniger ‘realistische’ Welt mit all ihren realen Problemen geschaffen zu haben. Ihre zahlreichen Bewunderer bestärken sie noch in diesem Irrglauben. Glaubhafte literarische Figuren aber brauchen ein glaubhaftes soziales Umfeld, dem sie entwachsen sind und in dem sie sich bewegen. Das Potterversum kann dies nicht liefern. Die Bücher wollen eine Geschichte vom Erwachsenwerden erzählen. Doch wie können sie das, wenn sie eines der wichtigsten Probleme, mit denen sich junge Menschen in der Realität konfrontiert sehen, einfach ignoriert? Ein simples Beispiel: Ron kommt aus einer 'armen' Familie. Aber muss er sich deshalb auch nur einen Ferienjob suchen? Nicht doch! Vielmehr unternehmen die Weasleys Urlaubstrips nach Ägypten! Die Folgen von Armut reduzieren sich in den Potter-Büchern offenbar darauf, dass man zu kurze Zaubererumhänge tragen muss und deshalb von arroganten Arschlöchern wie Draco verspottet wird. Solange die Geschichte noch aus der Perspektive eines Elfjährigen erzählt wird, könnte man mit Recht einwenden, dies entspräche ja tatsächlich der kindlichen Erfahrungswelt. Aber leider werden im Laufe der Serie die Helden zwar älter, die Story selbst jedoch nicht erwachsener.

Dieser Mittelklassegeist durchdringt auch alle Versuche Rowlings, ernstere Themen wie Rassismus oder Dikatur anzupacken, und lässt sie letztenendes scheitern, denn er verstärkt noch die in der ‘klassischen’ Fantasy ohnehin bereits angelegte Tendenz, komplexe Probleme in einer abstrakten (und letztlich mythisch-religiösen) Gegenüberstellung von Gut und Böse aufzulösen. Klar, Voldemort ist ein zauberkundiger Hitler ohne Nase und Bärtchen, die ‘Todesser’ sind Möchtegern-Nazis in schwarzen Kutten, aber das macht die Geschichte noch lange nicht zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Rassimus und Faschismus. Im Potterversum besitzen diese nämlich keinerlei soziale oder politische Wurzeln, sondern sind willkürliche Bestandteile des Psychogramms eines Bösewichts – neben dem Wunsch nach Unsterblichkeit etwa oder der mangelnden Fähigkeit zu lieben. Bestenfalls bekommen wir eine Erklärung im Stile der Westentaschenpsychologie zu hören: Voldemort ist selbst ein ‘Schlammblut’, sein Muggel-Hass also in Wirklichkeit eine Form von Selbsthass, hervorgerufen durch die Lieblosigkeit seines Vaters. Tja, wir haben’s ja schon immer gewusst, Hitler war in Wirklichkeit ein Halbjude mit Ödipuskomplex ... O barmherziger Freud! Ähnlich lächerlich wirken die Methoden, mit denen die ‘Todesser’ in Harry Potter und die Heiligtümer des Todes schließlich an die Macht gelangen. Mit Hilfe einiger Terrorakte und schwarzer Magie kapert eine kleine Clique von Schurken den Staatsapparat! Als Warnung vor den Gefahren des Autoritarismus bewegt sich das ungefähr auf dem gleichen Niveau wie George Lucas’ Revenge of the Sith ...

Ich höre bereits den Einwand: ‘Schön und gut, Rowlings Bücher mögen ja reichlich naiv sein, aber sind sie nicht trotzdem "a prolonged argument for tolerance"?" Ach ja, Toleranz, dieser oft gebrauchte und wunderbar verschwommene Begriff ... So weit ich das überschauen kann, bedeutet Toleranz im Potterversum bloß, dass Harry die krassesten Vorurteile der Zaubererwelt nicht gar zu offensiv zum Ausdruck bringt. Er behandelt Halbriesen, Hauselfen und Kobolde halt nicht von vornherein wie den letzten Dreck. Aber außer im Umgang mit ‘Schlammblütern’, die ja immerhin auch Zauberer sind, besitzt diese ‘Toleranz’ einen ausgesprochen herablassenden, paternalistischen Zug. Schlimmer noch aber ist, wie Rowling die Reaktion der Unterdrückten auf diese Freundlichkeit darstellt. Die so geehrten vergehen schier vor unterwürfiger Dankbarkeit. – Oh Gott, wie ich Dobby hasse! (4) Hätte Rowling nicht eines dieser verachteten Wesen ihren menschlichen Helden als ebenbürtigen Partner zur Seite stellen können? Aber nein – ganz so wie die Muggel bleiben auch sie sozusagen Almosenempfänger der magiebegabten Herrenklasse. Wirklich unheimlich wird es bei den Hauselfen, einer Rasse von Sklaven, deren Angehörige offenbar überhaupt nicht frei sein wollen (mit Ausnahme von Dobby). Als Elfe Winky gegen ihren Willen in Freiheit gesetzt wird, ist sie todunglücklich und wird zur Alkoholikerin! Wo sind wir denn da bloß gelandet? Bei den treuen und glücklichen Negersklaven aus Vom Winde verweht? Hermines Versuch, mit der Gründung von SPEW (‘Society for the Promotion of Elfish Welfare’) für ‘Elfenrechte’ zu kämpfen, lässt sie einerseits als rechthaberische Radikale und Karrikatur der linken Aktivistin erscheinen und beweist andererseits, dass Sklaven sich offenbar nicht selbst befreien können, sondern auf das wohlwollende Engagement der bessergestellten Teile der Gesellschaft angewiesen sind. Kann es einen krasseren Ausdruck für die Arroganz des Mittelklasse-Gutmenschen geben? In einer ihrer Frage-und-Antwort-Stunden im Netz erzählte Rowling über Hermines Leben nach dem Untergang Voldemorts: "Hermione began her post-Hogwarts career at the Department for the Regulation and Control of Magical Creatures where she was instrumental in greatly improving life for house-elves and their ilk. She then moved to the Department of Magical Law Enforcement where she was a progressive voice who ensured the eradication of oppressive, pro-pureblood laws." Die Botschaft ist eindeutig: Nicht der Kampf der Unterdrückten für ihre Freiheit, sondern die Gesetzesinitiativen aufgeschlossener Reformpolitiker sind der Weg zu politischen und sozialen Verbesserungen.
Kurioserweise hat Rowling häufiger verlauten lassen, ihr großes Idol sei die Sozialistin Jessica Mitford, und die Blackschwestern Bellatrix, Narcissa und Andromeda sind möglicherweise nach dem Vorbild des aristokratischen Mitfordclans gezeichnet. Jessicas Schwestern Unity und Diana waren begeisterte Faschistinnen, so wie Narcissa und Bellatrix ‘Todesser’ sind, während Andromeda sich dem Orden des Phönix anschließt. Dass weder Rowling selbst noch ihren Verehrern der Widerspruch zwischen Mitfords politischen Idealen und dem Paternalismus der Potter-Bücher aufgefallen ist, zeugt von einer tiefen intellektuellen Verwirrung. Philantropie hat absolut nichts mit Sozialismus gemein.

Aber ich habe mich schon viel zu weit in ungelesenes Territorium vorgewagt und sollte deshalb wohl besser zu Harry Potter und der Stein der Weisen zurückkehren. Offen politische Themen finden wir in diesem Buch nicht, aber dennoch hat der Mittelklassegeist auch hier seine Spuren hinterlassen.
Was mir beim Anschauen der ersten Potter-Filme sofort unangenehm aufgefallen ist und was ich durch das Lesen des Buches nun bestätigt bekommen habe, ist die außergewöhnlich große Rolle, die das Motiv des Wettbewerbs im Potterversum spielt. In Band 1 geht es mindestens ebenso sehr darum, wer den Hauspokal gewinnt, wie ob Voldemorts Rückkehr verhindert werden kann. Ständig werden Punkte vergeben oder abgezogen, und Harrys Ansehen hängt völlig davon ab, ob seine Handlungen Gryffindors Punktestand verbessern oder verschlechtern. Was keineswegs als Kritik an dem zugrundeliegenden Wertesystem gedacht ist, denn die Heldentaten Harrys, Rons und Hermines finden ihre wirkliche Bestätigung erst in Dumbledores finaler Punktevergabe und dem damit errungenen Sieg der Gryffindors über die Slytherins. Sollte ein Kinderbuch, dessen eigentliches Thema doch der Wert von Freundschaft ist, zugleich eine Geschichte darüber sein, wie ich meine Konkurrenten aussteche und deren öffentliche Demütigung herbeiführe? (5) Ilias Yocaris übertreibt sicher ein wenig, wenn er Harry Potter als "an invasion of neoliberal stereotypes in a fairy tale" bezeichnet, aber es ist schon auffällig, mit welcher Verve hier dem Kult des Gewinnens gefrönt und einer Ethik des Wettbewerbs das Wort geredet wird: Der ewige Konkurrenzkampf der vier ‘Häuser’, das Trimagische Turnier und natürlich vor allem die regelmäßigen Quidditch-Turniere. Diese spielen eine derart zentrale Rolle in den Büchern, dass selbst in Harry Potter und der Halbblutprinz – wenn die ‘Todesser’ mit Terroranschlägen Angst und Schrecken verbreiten und die Zaubererwelt unmittelbar vor dem Ausbruch eines Krieges steht – es eine der wichtigsten Fragen zu sein scheint, wie Ron sich als ‘Hüter’ (Torwart) schlägt!

Die prominente Stellung, die der Sport im Potterversum einnimmt, ist zuerst einmal nur ein weiteres Erbstück der alten ‘school story’. Dem Mannschaftssport, insbesondere dem Cricket, kam ein zentraler Platz in der traditionellen englischen ‘public school’ zu. Dabei spielte der Wettbewerb zwischen verschiedenen Schulen oder ihren ‘Häusern’ natürlich gleichfalls eine wichtige Rolle. Dennoch hat Quidditch nur sehr wenig mit seinem realen Vorbild gemein. Cricket nämlich sollte vor allem der Charakterbildung dienen und den Schülern Werte wie Loyalität, Teamgeist, Fairness und Selbstbeherrschung vermitteln. Im Falle des Falls auch ein guter Verlierer sein zu können, war ein wichtiger Bestandteil dieser Ethik. (6) Bei den Turnieren in Hogwarts hingegen geht es einzig und allein um den Sieg. Irgendeinen pädagogischen Wert besitzt das Herumsausen auf Hexenbesen ganz offenbar nicht. Auch ist Quidditch, wie Farah Mendlesohn ganz richtig erkannt hat, ein Sport für Reiche, denn nur der hat hier eine Chance, der sich die modernsten und teuersten Besen leisten kann. Das Spiel ähnelt deshalb sehr viel mehr dem aristokratischen Polo als dem ‘demokratischen’, ursprünglich vom ländlichen Kleinbürgertum Englands geschaffenen Cricket. Die Hauptfunktion der Quidditch-Spiele ist es, Harry in besonders glänzendem Licht erscheinen zu lassen. Dies erklärt auch die eigentlich ziemlich unsinnige Regel vom Sucher und dem Goldenen Schnatz. Wie so vieles in Rowlings Welt scheint auch sie keine andere Funktion zu haben, als dem Plot zu dienen – in diesem Fall dem Heldenkult um Potter, wobei Ron und Hermine beinahe im Wortsinn als seine Cheerleader fungieren. Für den Sucher ist Quidditch nämlich überhaupt kein Mannschaftssport, aus den Aktionen seiner Teamkameraden hat er sich vielmehr so gut es geht herauszuhalten. Dennoch entscheidet seine individuelle Leistung in fast allen Fällen über den Ausgang eines Spiels. Und so tritt an die Stelle von Teamgeist Heldenverehrung. Kein Wunder, dass wir über Harrys Mitspieler (zumindest im ersten Buch) so gut wie nichts erfahren. Einzig seine Taten zählen.

Rowlings phantastische Welt ist durch und durch kapitalistisch. Das unterscheidet sie z.B. sehr deutlich von der-jenigen Tolkiens, dessen Werk in der Tradition des romantisch-konservativen Antikapitalismus Thomas Carlyles und John Ruskins steht. Es fällt darum auch nicht schwer, in dem Motiv des Wettbewerbs eine Widerspiegelung der vorherrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen unseres neoliberalen Zeitalters zu sehen. Aber wie an allen Ecken und Enden von Rowlings Werk tun sich auch hier sofort Widersprüche auf. Quidditch – diese sportliche Apotheose des Konkurrenzkampfes – dient zwar als Brennpunkt des um Harry zelebrierten Heldenkultes. Doch bei genauerer Betrachtung ist es gerade die Hauptfigur, die im merkwürdigen Gegensatz zur Wettbewerbsethik von Hogwarts steht.


(1) George Orwell: Boys' Weeklies.
(2) Ist es bloß ein Zufall, dass einzig Tom Riddle (alias Voldemort) und Severus Snape aus wirklich armen Verhältnissen zu kommen scheinen?
(3) Die Gründe, die Rowling selbst für die Wahl des Schauplatzes angegeben hat ("the school had to be a boarding school because most of the magic happens in the middle of the night, and if it was a day school you wouldn't get the same sense of community"), klingen wenig überzeugend, da Hogwarts mit seinen ‘Häusern’, Schuluniformen und Quidditch-Turnieren eben nicht einfach ein Internat, sondern das zauberisch eingefärbte Ebenbild einer alten ‘public school’ ist. Und genau diese Elemente spielen ja eine wichtige Rolle in der Erzählung.
(4) Es geht das Gerücht um, Rowling habe den Hauself nach der radikalen Anwältin und Gewerkschaftsaktivistin Dobby Walker benannt. Wenn dem so ist, wäre das eine Frechheit – ungefähr so, als würde man Onkel Tom und Malcolm X miteinander gleichsetzen!
(5) Dass es meiner Meinung nach auch den guten Oberlehrer nicht zu geben bräuchte, der einem am Ende erklärt, dass man alles richtig gemacht hat, will ich lieber nicht über die Maßen betonen. Schließlich endet die wunderbar trashige und charmante 80er-Jahre-Verfilmung von Jill Murphys The Worst Witch (offenbar eine von JKRs uneingestandenen ‘Quellen’) mit einer ähnlichen Szene (nur dass Tim Curry {Dr. Frank N. Furter} als Grand Wizard natürlich tausendmal cooler ist als der Gandalfabklatsch Dumbledore. Und die unsterbliche Diana Rigg {Mrs. Emma Peel} ist auch mit von der Partie!)
(6) Der radikale Schriftsteller und Cricket-Experte C.L.R. James hat dies auf bestechende Weise in seinem Buch Beyond a Boundary dargelegt.

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