Seiten

Samstag, 25. Februar 2012

Eine Pflichtarbeit (I)

Verspätete Gedanken über den Töpferjungen


Niemand, der sich ernsthaft für Fantasyliteratur interessiert, wird darum herum kommen, sich irgendwann einmal auch mit Harry Potter befassen zu müssen. Nicht dass Joanne K. Rowling dem Genre irgendetwas neues hinzugefügt hätte. Alle wirklichen Kenner des Metiers sind sich da wohl einig: Von der angeblichen Originalität der Autorin konnten nur jene Kritiker faseln, die ein Fantasybuch zuvor vermutlich noch nicht einmal mit der Kneifzange angefasst hätten. Dass Die Zeit Rowling letztes Jahr sogar zum Genie erklärt hat, erschiene bloß bizarr, würde der entsprechende Artikel nicht so offensichtlich Genialität mit Geschäftserfolg verwechseln. Und tatsächlich ist es ausschließlich der gewaltige kommerzielle Erfolg der Bücher und darauf basierend ihr nicht unerheblicher Einfluss auf den phantastischen Buchmarkt der letzten Dekade, der die Geschichte vom Zauberlehrling von Hogwarts zu einem Phänomen gemacht hat, das man nicht ignorieren kann.

In den Tagen des großen Potter-Hypes war mein Interesse für Fantasy eher gering, und es gab darum auch keinen Grund für mich, eines von Rowlings Büchern zur Hand zu nehmen. Ein Wort wie ‘Quidditch’ hätte nur ein unwissendes Achselzucken bei mir hervorgerufen, und ‘Muggel’ war für mich lediglich der Name einer gänzlich unphantastischen Kneipe in meiner Nachbarschaft. Erst in den letzten Jahren habe ich meine alte Liebe zur Phantastik wiederentdeckt. Dabei stand die Geschichte vom Töpferjungen freilich nicht an der Spitze meiner Liste der bald möglichst zu lesenden Bücher. Die ersten fünf Potter-Filme hatten mich zwar nicht direkt abgeschreckt, doch ebensowenig war es ihnen gelungen, mein gesteigertes Interesse zu wecken. Nummer Eins und Zwei besaßen noch einen gewissen altmodischen Charme, doch was danach kam unterschied sich in meinen Augen in nichts von den übrigen, meist recht drögen Erzeugnissen des aktuellen Fantasyfilme-Booms. (1) Dennoch blieb der bohrende Gedanke: Du wirst an Harry Potter auf Dauer nicht vorbeikommen, wenn du dir ein einigermaßen vollständiges Bild von der zeitgenössischen Fantasy machen willst. Im August letzten Jahres schließlich war es soweit. Es bot sich mir die Gelegenheit, den ersten Band für den Preis von einem Euro zu erwerben. Irgendwelche Ausreden zogen nicht länger ...

Bin ich nach der Lektüre von Harry Potter und der Stein der Weisen schlauer als zuvor? Nicht wirklich. Freilich hatte ich auch nicht erwartet, den Erfolg Rowlings danach besser verstehen zu können. Ich bin ja wahrhaftig nicht der Erste, der sich über dieses wohl einmalige Phänomen erfolglos den Kopf zerbrochen hätte.
Zugegeben, das Buch ist handwerklich ganz ordentlich gemacht, flüssig und spannend geschrieben (auch wenn wohl niemand ernsthaft behaupten wird, JKR sei eine stilistisch versierte Schriftstellerin) und in manchen Details sogar richtig gehend charmant. (2)
Insbesondere die Figur des Snape verdient Anerkennung. Der unsympathische und feindselige Lehrer, den Harry wie selbstverständlich für den Bösewicht hält, entpuppt sich am Ende als einer seiner Lebensretter – das ist eine Form von Komplexität, wie sie einem Buch für diese Altersgruppe angemessen ist. Was die Autorin im weiteren Verlauf der Serie aus Severus gemacht hat, spielt dabei erst mal keine Rolle. Im Kontext der Geschichte des phantastischen Kinderbuches kann ich ihm dennoch nur einen sehr bescheidenen Platz zugestehen. Selbst wenn wir Lewis Carrols Meisterwerke Alice’s Adventures in Wonderland und Through the Looking-glass für den Moment beiseitelassen, müsste sich Rowling immer noch gegen Werke behaupten wie die Bücher Edith Nesbits, J. M. Barries’ Peter Pan, L. Frank Baums The Wonderful Wizard of Oz, J.R.R. Tolkiens Hobbit, Astrid Lindgrens Mio, mein Mio, Die Brüder Löwenherz und Ronja Räubertochter, Ottfried Preußlers Krabat, Lloyd Alexanders Prydain-Zyklus, Joy Chants Red Moon and Black Mountain ... (3) Eine mächtige Konkurrenz. Meiner Meinung nach könnte sie nicht einmal Michael Ende, dem ich im Grunde ausgesprochen skeptisch gegenüberstehe, das Wasser reichen. Und wer unbedingt Geschichten über Jungen lesen will, die Zaubererschulen besuchen, sollte sich doch lieber Wizzard of Earthsea vornehmen. Ursula K. Le Guins 1968 erschienener Klassiker spielt in einer völlig anderen Liga und stellt in mancherlei Hinsicht tatsächlich einen Meilenstein der Fantasy dar. Die große alte Dame der Phantastik selbst bewertete Harry Potter und der Stein der Weisen übrigens als "a nice fantasy for kids, very lively, though perhaps on rather shaky moral ground." Den Einwand gilt es sich zu merken.

Gerade weil Rowlings Werk zusammen mit Peter Jacksons Herr der Ringe - Filmen in hohem Maße das gegenwärtige Image des Genres geprägt hat, muss es einer besonders kritischen Betrachtung unterzogen werden. Mein Ergebnis? – Alles in allem weiß ich leider nur wenig positives über Harry Potter und der Stein der Weisen zu berichten. Die ersten Kapitel wirkten auf mich beinahe unlesbar, so grobschlächtig ist Rowlings Karrikatur des spießigen Ehepaares Dursley und ihres missratenen Sohnes geraten. Nun gut, Harry muss der unterdrückte Außenseiter sein; der verborgene Prinz; das hässliche Entlein, das sich als Schwan entpuppt. Das gehört wohl zu den Konventionen einer solchen Geschichte. Aber die reine Bösartigkeit seiner Ersatzfamilie ist derart überzeichnet, dass neben ihr selbst Aschenputtels Stiefmutter wie eine aus dem Leben gegriffene Figur wirken würde. Sohn Dudley ist außerdem ein besonders extremes Beispiel für die uralte – und ebenso dümmliche – Methode, das Aussehen eines Menschen zum Indiktaor für seinen Charakter zu machen: „Er hatte ein breites, rosa Gesicht, nicht viel Hals, kleine, wässrige blaue Augen und dichtes blondes Haar, das glatt auf seinem runden, fetten Kopf lag. Tante Petunia sagte oft, dass Dudley aussehe wie ein kleiner Engel – Harry sagte oft, Dudley sehe aus wie ein Schwein mit Perücke." (S. 27) (4) Und wer so aussieht, kann natürlich nur ein Fiesling sein. Wohl nicht ganz zu unrecht hat man Rowling vorgeworfen, sie verwende in ihren Büchern öfters Übergewicht als äußeres Anzeichen für Bösartigkeit. Ironischerweise legen ihre Helden selbst eine geradezu obsessive Fresslust an den Tag, wenn es z.B. um Süßigkeiten oder das Weihnachtsessen in Hogwarts geht – was an deren schlanker Statur freilich nichts zu ändern vermag. (5) In einer der moralisch fragwürdigsten Szenen des Buches wird dem fiesen Fettwanst Dudley dann sogar ein Schweineschwanz angehext – nicht etwa als temporärer Fluch, sondern als permanentes Anhängsel, das erst mittels eines chirurgischen Eingriffs entfernt werden kann!
Kein sehr vielversprechender Anfang. Hat Harry die Muggel-Welt dann endlich hinter sich gelassen, sieht es zwar etwas erträglicher aus, aber im Grunde wird auch Hogwarts von einem Sammelsurium plattester Klischees bevölkert. Angefangen bei dem gutmütigen, aber nicht besonders hellen ‘Proletarier’ Hagrid über den ebenso exzentrischen wie weisen Graubart Dumbledore, den arroganten Bösewicht Draco Malfoy mit seinen Speichelleckern Crabbe und Goyle sowie den ewigen Pechvogel Neville, bis hin zur besserwisserischen Streberin Hermine/Hermione und dem idealen Kumpel Ron – als Kind aus einer ‘armen’ Familie Underdog genug, um unsere Sympathie zu wecken und Harrys Toleranz hervorzuheben, zugleich jedoch stets bereit, als Potters vor Bewunderung vergehender Höfling zu dienen.
Aber nicht nur das Figurensortiment, auch die Erzählung selbst verbleibt fest im Rahmen altbekannter Stereotypen. Genauer gesagt, sie bildet ein Gemisch aus zwei verschiedenen, aber gleichermaßen klischeebelasteten Erzähltypen: Der ‘klassischen’ Fantasygeschichte mit ihrem auserwählten Helden und seinem epischen Kampf gegen das Böse, sowie der ‘school story’, einem Genre, an dessen Anfang Romane der viktorianischen und edwardianischen Ära wie Thomas Hughes Tom Brown’s School Days und Rudyard Kiplings Stalky & Co stehen. Letzterem Genre entstammen u.a. der Schauplatz des Internats mit seinen rivalisierenden ‘Häusern’, das Elemente des Patriotismus nachäffende Ethos des schulischen Korpsgeistes (Hogwarts besitzt sogar eine – zugegeben recht lächerliche – Schulhymne; höchstes Ziel aller Schüler von Gryffindor ist es ihrem ‘Haus’ Ehre zu machen und den Slytherins eins auszuwischen etc.), die zentrale Bedeutung des Sports sowie Figuren wie die stets irgendwelche (harmlosen) Streiche ausheckenden Zwillinge Fred und George Weasley.

Das Buch enthält ein gerüttelt Maß an Nostalgie, exemplarisch verkörpert in der Dampflok, die die Schüler und Schülerinnen vom Bahnsteig King’s Cross 9 ¾ nach Hogwarts befördert und in den Worten der bekannten Literaturwissenschaftlerin Farah Mendlesohn "helps to recreate the atmosphere of the pre-war boys’ school story, complete with sweets shared in old-fashioned closed carriages". Die Zaubererwelt trägt denn auch in vielem die Züge eines romantisch verklärten und zugleich auf sanfte Weise parodierten ‘old England’, wozu auch die weitgehende Abwesenheit moderner Technik gehört, für die die Magier aufgrund ihrer arkanen Fähigkeiten keine Verwendung haben. Und doch steht die Erzählung in einer Reihe wichtiger Punkte im Widerspruch zu dieser Atmosphäre. Man läge ziemlich falsch, wollte man annehmen, Rowling sehne sich tatsächlich zurück in viktorianische Zeiten oder auch nur ins England der Vorkriegsära. Dem widerspricht vor allem die verschwommen egalitäre Moral ihrer Geschichte. In den alten ‘school stories’ wäre der versnobte Draco ja keineswegs der Bösewicht, sondern einer der Helden gewesen. Diese Moral erhält in den späteren Bänden eine pointiertere Ausformung, wenn uns Voldemort und seine Anhänger – die ‘Todesser’ – recht ungeschminkt als faschistoide Rassisten vorgeführt werden. Im Stein der Weisen besteht der offensichtlichste Verstoß gegen die konservative Atmosphäre der ‘school story’ in der Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen in Hogwarts. Diese wird allerdings eher proklamiert, denn erzählerisch ausgeführt.
Die Art, in der Rowling ihre weibliche Hauptfigur Hermine einführt, legt eine ihrer größten Schwächen bloß: Sie ist unfähig, sich von überkommenen Klischees zu lösen, selbst wenn diese ihrer eigentlichen (6) Erzählabsicht völlig entgegengesetzt sind. Hermine ist zwar das klügste und talentierteste Kind ihres Jahrgangs – vielleicht sogar der ganzen Schule –, doch bringt ihr das weder den Respekt ihrer Mitschüler, noch den der Erzählerin ein. Ihr Lerneifer und ihr Bücherwissen sind vielmehr immer wieder Gegenstand des Spottes. Der Erwerb von Wissen um seiner selbst willen besitzt keinen hohen Stellenwert im Potterversum. Das einzige ‘unpraktische’ Unterrichtsfach – Geschichte der Zauberei – wird nicht zufällig als das "bei weitem langweiligste" (S. 147) abqualifiziert. (7) Und so erscheint Hermine auch nicht als aufgewecktes und wissbegieriges Mädchen, sondern als eingebildete Streberin. Als es ihr als einziger gelingt, in Professor Flitwicks Unterricht eine Feder zum Schweben zu bringen, wird dies nicht etwa als eine besondere Leistung gewertet, auf die sie zu recht stolz sein dürfte. Vielmehr hat sie damit nur einmal mehr bewiesen, was für eine unerträgliche Göre sie ist. Denn wer mag schon des Lehrers Liebling? Bevor sie in den Freundeskreis um Harry aufgenommen werden kann, muss deshalb erst einmal ihr Stolz durch die Konfrontation mit dem Troll ausreichend gedämpft werden.
"Hermine Granger stand mit zitternden Knien an die Wand gedrückt da und sah aus, als ob sie gleich in Ohn-macht fallen würde." – "Immer noch stand sie flach gegen die Wand gedrückt, mit vor Entsetzen weit offenem Mund." – "Hermine war vor Angst zu Boden gesunken." (S. 192f.)
Das Bild der hilflosen Hermine, die von den mutigen Jungs Harry und Ron gerettet werden muss, wirkt gerade deshalb besonders unertäglich, weil ihr im Rahmen der Gesamterzählung ja offenbar die Rolle des intelligenten und selbstbewussten Mädchens zugedacht ist. Aber Rowling ist halt nicht einmal in der Lage, auf das uralte sexistische Klischee der ‘damsell in distress’ zu verzichten. Sie macht es sogar zum Ausgangspunkt für die Freundschaft der drei! Ähnlich hilflos zeigt sie sich übrigens bei der Darstellung nichtenglischer Charaktere in Harry Potter und der Feuerkelch. Über das Zeichnen karrikaturenhafter nationaler Stereotypen kommt sie dabei nicht hinaus. (8) Die meisten Versuche Rowlings, ihrer Welt einen ‘politisch korrekten’ Anstrich zu verleihen, wirken entweder ungelenk (ein paar Nebenfiguren bekommen Namen wie Anthony Goldstein, Parvati Patil oder Cho Chang verpasst [9]) oder schlicht peinlich (das ‘postume’ Outen Dumbledores als schwul [10];  die Erklärung, Hogwarts sei eine "multifaith school", obwohl dort ganz offensichtlich neben Weihnachten und Ostern keine religiösen Feiertage – ob Jom Kippur, Eid al-Adha oder sonstwas – begangen werden).
Offenbart sich in solchen Szenen sehr deutlich die intellektuelle und künstlerische Schwäche der Autorin, so bedeutet dies wie gesagt nicht, dass Rowling Sexismus, Chauvinismus und Standesdünkel, die feste Bestandteile der alten ‘school stories’ waren, gutheißen würde. Im Gegenteil – sie selbst sieht ihre Buchreihe als "a prolonged argument for tolerance, a prolonged plea for an end to bigotry". Ist Hogwarts nostalgisches Flair am Ende also bloß ein weiteres Klischee, das sie unreflektiert übernommen hätte? Schließlich ist die Sehnsucht nach der ‘guten, alten Zeit’ seit Großpapa Tolkiens wehmütigen Trauergesängen auf entschwundene heroische Zeitalter und die zuasphaltierten ‘grünen Hügel’ Englands (respektive des Auenlandes) ein weit verbreiteter Topos der Fantasyliteratur. – Aber nein, das wäre denn doch eine etwas zu simple Erklärung. Auch müsste man sich dann ernsthaft fragen, was man von einer Erzählung zu halten hätte, deren Atmosphäre in keinerlei Zusammenhang mit den in ihr zum Ausdruck gebrachten Ideen, ja sogar im Widerspruch zu diesen stände.

Warum also die Nostalgie?
Harry Potter und der Stein der Weisen ist nach einem altbekannten Schema angelegt: Ein einsames, mehr oder weniger misshandeltes und unterdrücktes Kind findet plötzlich Zugang zu einem magischen Wunderreich, wo ihm Anerkennung zuteil wird und es spannende Abenteuer erlebt – eine klassische Fluchtfantasie. Talentiertere Schriftstellerinnen haben aus diesem Stoff mitunter Beeindruckendes zu schaffen vermocht. So etwa wenn Astrid Lindgren in Mio, mein Mio von den Erlebnissen des kleinen Bosse im ‘Reich der Ferne’ erzählt, dabei sehr geschickt die sprachlichen und erzählerischen Konventionen des Märchens nachahmt und auf subtile Weise andeutet, dass es sich bei dem Ganzen vielleicht nur um einen Tagtraum des unglücklichen Waisenkindes handelt. Oder man nehme Michael Endes Unendliche Geschichte. Trotz all ihrer zum Teil gravierenden Mängel, auf die ich hier nicht eingehen kann, bleibt sie doch eine ernstzunehmende Auseinandersetzung sowohl mit dem positiven Potential wie mit den Gefahren einer solchen Flucht ins Reich der Fantasie. Auf welch primitivem Niveau hingegen J. K. Rowling das Motiv behandelt hat, zeigt sich besonders krass in der in ihrer sadistischen Schadenfreude geradezu erschreckenden Schlusspassage des Steins der Weisen:
’Ich hoffe, du hast – ähm – schöne Ferien’, sagte Hermine und sah ein wenig zweifelnd Onkel Vernon nach, entsetzt darüber, dass jemand so unfreundlich sein konnte.
‘Oh, ganz bestimmt’, sagte Harry, und sie waren überrascht, dass sich ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht breitete. ‘Die wissen ja nicht, dass wir zu Hause nicht zaubern dürfen. Ich werde diesen Sommer viel Spaß haben mit Dudley ...’" (S. 335)
Mit seiner in der Welt der Zauberer gewonnenen Macht kann Harry also nun nach Herzenslust jene quälen, die bislang ihn gequält haben! Da hat jemand die Inschrift auf dem Amulett der Kindlichen Kaiserin – "Tu Was Du Willst" – aber wirklich gründlich missverstanden! Es ist dies eine der Stellen, an denen man besonders deutlich die ‘eher wacklige moralische Grundlage’ der Geschichte erkennen kann, von der Ursula K. Le Guin spricht. Ich zumindest finde es ausgesprochen beunruhigend, wenn ein Kinderbuch wie hier das Ausleben von Macht- und Rachefantasien als erstrebenswertes Ziel darstellt. (11)
Doch wie dem auch sei, jedenfalls ergibt es sich bereits aus der Grundstruktur der Erzählung, dass Hogwarts als eine Art Zufluchtsstätte gesehen werden muss. Komplementär dazu erscheint die Welt der Muggel durchweg entweder als öde oder sogar als grausam und böse (siehe die Dursleys als exemplarische ‘Normalos’).
An dieser Stelle tut sich ein weiteres Problem auf, mit dem die Potter-Bücher belastet sind. Rowling erzählt in Wirklichkeit nämlich mehrere, sehr unterschiedliche Geschichten, die sich nicht zu einer wirklichen Einheit verbinden. Im Stein der Weisen dominiert noch sehr stark die leicht anarchische Internatsstory. Hier ist Hogwarts eine phantastische Welt, in der Ölgemälde sprechen, Geister wie der Fast Kopflose Nick durch die Korridore streifen, Treppen sich bewegen und Schokofrösche davonzuhüpfen versuchen, bevor man sie aufessen kann. Diese grotesken Züge sind es, die den unbestreitbaren Charme des Buches ausmachen. Die Bedrohung durch Voldemort fungiert in diesem Rahmen vor allem als ultimative Entschuldigung, um die Schulregeln zu brechen, nachts das riesige Gebäude zu erkunden oder spannende Abenteuer in den Kellergewölben zu erleben. Außerdem: Was wäre Neverland ohne Captain Hook? Von dieser kindlichen Perspektive aus betrachtet ist die Welt der Muggel gleichbedeutend mit der Erwachsenenwelt und erscheint deshalb verständlicherweise als langweilig und repressiv. Aber daneben existiert von Anfang an auch die 'ernstere' Geschichte, in der Harry nicht bloß ein Abenteuer erlebendes Kind, sondern der 'Auserwählte' ist, der gegen den Dunklen Lord antreten und die Welt retten muss. In dieser kann Hogwarts nicht länger für das kindliche Traumland der Abenteuer stehen. Harry ist hier kein Peter Pan auf Zeit und Voldemort nicht Hook. In dieser Geschichte ist Hogwarts einfach eine Schule, Teil einer magischen Parallelwelt, die nicht von der Traumlogik der Fantasie, sondern von den Bürokraten des Zaubereiministeriums beherrscht wird und Schauplatz des mythischen Kampfes zwischen Gut und Böse ist. Im Rahmen dieser zweiten, zwar nicht erwachsenen, aber eben auch nicht mehr kindlichen, Geschichte macht es jedoch keinen rechten Sinn, warum die Muggel-Welt ein so schlechtes Image haben sollte.
Es ist eine der großen Ironien von Rowlings Geschichte, dass Bösewicht Voldemort ein Magier-Chauvinist ist, der Muggel für minderwertig hält, die Erzählerin selbst jedoch im Grunde nicht viel anders mit den bemitleidenswerten Leutchen verfährt, die nicht über das Zauberer-Gen verfügen. Oh sicher, wenn Harry und seine Freunde schließlich den Dunklen Lord bezwingen, retten sie damit auch die ‘Normalos’. Aber die dummen Muggel bekommen von diesem epischen Kampf, der über ihr Schicksal entscheidet, so gut wie gar nichts mit. Er findet hinter ihrem Rücken oder besser gesagt über ihren Köpfen statt. Warum lässt Rowling in ihren Büchern nicht einen einzigen Muggel als positiv gezeichnete handelnde Person von einiger Bedeutung auftreten? Immerhin spielt ihre Geschichte ja nicht in Narnia oder Oz, sondern in Großbritannien, die Zauberer leben sozusagen Tür an Tür mit den ‘Normalos’, und Hogwarts liegt in Schottland! Harry selbst besitzt praktischerweise keinerlei positive Bindungen an die Muggel-Welt, nur die widerwärtigen Dursleys. Aber auch die arme Hermine, die doch gleichfalls in einem 'normalen' Haushalt aufgewachsen ist, hat in den ersten elf Jahren ihres Lebens offenbar keinerlei Freundschaften geschlossen. Ist sie denn wirklich ein so zunerträgliches Mädchen?!
Hinter dieser eigenartigen Behandlung der Muggel-Welt scheint sich für mich folgendes zu verbergen: Rowling schreckt unbewusst davor zurück, sich mit einigen grundlegenden Realitäten der heutigen Gesellschaft ausein-anderzusetzen. Darum erschafft sie sich eine Parallelwelt, in der diese nicht existieren. Hierdurch – und nicht durch ihren phantastischen Charakter – erhält die Geschichte vom Töpferjungen einen deutlich eskapistischen Zug. Hogwarts ist nicht nur für Harry, sondern auch für die Autorin eine Art Refugium. Das Motiv der Flucht des einsamen Kindes in ein Wunderreich muss keineswegs zwangsläufig zu einem Ausweichen vor der Realität führen. So ist z.B. Michael Endes Unendliche Geschichte natürlich auch als Kritik an einer fantasielosen und oft grausamen Gesellschaft aufzufassen. Doch anders als Bastian ist Harry nicht das sensible Kind, das unter einer gefühlskalten Umwelt leidet. Seine Lage lässt sich nicht verallgemeinern, hat nichts beispielhaftes an sich. Die Grausamkeit der Dursleys wirkt reichlich unmotiviert, sie selbst sind so monströs gezeichnet, dass sie nur schwer als Vertreter allgemeinerer gesellschaftlicher Tendenzen gelesen werden können. Zwar hat Rowling über ihre Geschichte gesagt: "I wanted Harry to leave our world and find exactly the same problems in the wizarding world", doch belegt dies lediglich den unbewussten Charakter ihres Eskapismus. Natürlich herrscht auch in Hogwarts – selbst vor der Wiederkunft Voldemorts – nicht bloß eitel Sonnenschein. Aber die Probleme, mit denen sich Harry in der Zaubererwelt konfrontiert sieht, sind eben nicht ‘dieselben’, mit denen wir armen Muggel uns herumzuschlagen haben – auch nicht in phantastisch verfremdeter und zugespitzter Form. Sie sind vielmehr von all jenen Elementen der Realität gereinigt, die Rowling instinktiv zu ignorieren sucht. Und damit kommen wir zurück zum nostalgischen Flair der ‘school story’, das dem Potterversum eigen ist.

Fortsetzung folgt ...


(1) Vor ein paar Wochen hab ich mir nun auch Harry Potter und der Halbblutprinz zu Gemüte geführt und kann nur sagen: Was für ein schnarchiger Film! Es geschieht so gut wie überhaupt nichts von Bedeutung. Jungs und Mädels schlagen sich stundenlang mit unerträglich klischeehaften ‘erste Liebe’ - Problemen herum, ab und an jagen die bösen ‘Todesser’ irgendwas in die Luft und in der letzten halben Stunde erleben wir ‘blathos’ pur mit Dumbledores Tod ... Präsentiert den Zauberstab!
(2) Nach allem, was man so hört, gehen diese positiven Züge spätestens ab Orden des Phönix verloren und werden durch einen peinlich überladenen Stil, schiefe Metaphern, einen wild wuchernden Plot und eine durch Abwesenheit glänzende Struktur ersetzt. Zumindest aus den Deathly Hallows sind mir da einige wirklich gruselige Bei-spiele bekannt. "The suddenness and completeness of death was with them like a presence". Aua! Vgl.: Daniel Hemmens: Harry Potter and the Deathly Hallows.
(3) Ich beschränke mich hier auf Bücher, die ich selbst gelesen habe. Die Reihe ließe sich natürlich beliebig weiter fortsetzen. Ich denke da z.B. an die Werke von Dianna Wynne Jones.
(4) Und man möge mir jetzt bitte nicht mit den Konventionen des Märchens kommen, in denen der gute Prinz ja auch stets strahlend schön, die böse Hexe abgrundtief hässlich sei. Obwohl das Märchen – und vor allem das Kunstmärchen des 19. Jahrhunderts – sicher seinen Platz in der Ahnentafel der Fantasy besitzt (siehe etwa George MacDonald), kann man beide doch nicht einfach miteinander gleichsetzen (trotz Tolkiens oft zitiertem Essay On Fairy-tales). Märchen sind eine eigene literarische Gattung mit eigenen stilistischen Regeln. Wer sich für die schöpferische Aneignung dieser Tradition durch moderne Schriftstellerinnen & Schriftsteller interessiert, der schaue sich ein bisschen im Cabinet des Fées um.
(5) Die regelmäßigen Fressgelage stammen übrigens aus der Klischeekiste der ‘school story’.
(6) Oder angeblichen? JKR besitzt die irritierende Angewohnheit, ihrer Geschichte im Nachhinein irgendwelche Bedeutungen unterschieben zu wollen, die sich aus dem eigentlichen Text nur sehr schwer ableiten lassen.
(7) Betrachtet man sich den Stundenplan von Hogwarts und vergegenwärtigt sich, dass dies die einzige Art Bildung ist, die man jungen Hexen und Zauberern angedeihen lässt, so muss man zu dem Schluss gelangen, dass die Zaubererwelt von lauter magischen Fachidioten bevölkert wird. Der Unterricht ist extrem praxisorientiert, es geht einzig um den Erwerb von magischen Fertigkeiten, also von Macht. Musische Fächer fehlen ebenso wie theoretische oder gesellschaftswissenschaftliche (wenn man vom öden Geschichtsunterricht absieht). Und anders als Le Guins Zaubererschule von Roke – auf der man doch immerhin die alten Balladen gelernt und Lehren über die ethische Verantwortung eines Magiers erteilt bekommen hat – ist Hogwarts ja nicht Teil einer vormodernen Gesellschaft, sondern steht im Großbritannien des ausgehenden 20. Jahrhunderts! In gewisser Weise setzt Rowling auch hier die Traditionen der englischen ‘public school’ fort, die den Erwerb von Wissen nie als ihren Hauptzweck ansah. Bereits im offiziellen Rugby School Book von 1856 hieß es dazu: "We are not students in England. Great Englishmen (generally speaking) are great in some departments of practical life, great in statesmanship, jurisprudence or war. Their nature is abhorrent of the Study." (Zit. nach: C.L.R. James: Beyond a Boundary. S. 165.) Der wirkliche Grund dürfte jedoch in der konsequenten Unterordnung des ‘world-building’ unter die Bedürfnisse des Plots liegen. Im großen Kampf gegen Voldemort werden Harry und seine Freunde eben in erster Linie ihre zauberischen Fähigkeiten brauchen. Warum sollten sie dann in Hogwarts irgendetwas anderes lernen?
(8) Aus eigener Anschauung kenne ich ja nur die Verfilmung, aber Christopher Hitchens’ Rezension bestätigt mir, dass sich der dabei entstandene Eindruck auf die Bücher übertragen lässt: "If a French or German or other ‘foreign’ character appears in the Harry Potter novels, it is always as a cliché: Fleur and Krum both speaking as if to be from ‘the Continent’ is a joke in itself."
(9) Interessanterweise gehörten ausgerechnet indische und chinesische Mitschüler auch in der traditionellen ‘school story’ zum exotischen Inventar eines britischen Internats. Wenn die Schülerschaft von Hogwarts tatsächlich die multikulturelle Realität des heutigen Großbritannien hätte widerspiegeln sollen, wäre wenigstens eine Schülerin pakistanischer Herkunft ein absolutes Muss gewesen.
(10) Genau genommen besteht wohl nicht nur keinerlei Beziehung zwischen JKRs nachgereichten Offenbarungen über Dumbledores sexuelle Orientierung und der tatsächlichen Schilderung des Zauberers in den Büchern, dieselbigen verraten auch eine verdächtige Nähe zu homophoben Vorurteilen, wie FerretBrain's Daniel Hemmens sehr schön in einem seiner JKR-Bashing-Artikel ausgeführt hat.
(11) In den späteren Büchern tauchen wohl noch sehr viel widerlichere Passagen auf, in denen uns das Quälen und Erniedrigen unbeliebter Menschen als ein großer Spaß vorgeführt wird. Wirklich erschreckend ist in dieser Hinsicht die Szene mit Dolores Umbridge und den Kentauren in Harry Potter und der Orden des Phönix. Wollte man die mythologischen Bezüge ernst nehmen, so würde sie nichts weniger implizieren als eine Massenvergewaltigung! Allerdings scheinen mir Rowlings Anspielungen auf antike Mythen im allgemeinen nicht mehr als oberflächliches ‘name-dropping’ zu sein, was sie in diesem Fall vor den schlimmsten Implikationen ihres eigenen Textes bewahren könnte. Anders ausgedrückt: Vielleicht wusste sie selbst nicht, was sie da eigentlich schreibt. In ihrem Interesse kann ich das nur hoffen! Der Sadismus bleibt allerdings auch dann abstoßend.
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen