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Samstag, 24. September 2016

Strandgut der Woche

Mittwoch, 21. September 2016

Ein paar Gedanken zu H.G. Wells

Heute vor einhundertfünfzig Jahren erblickte Herbert George Wells in Bromley, Kent, das Licht der Welt. Leider ist es mir nicht möglich, den großen Pionier der Science Fiction zu seinem Geburtstag auf angemessene Weise zu würdigen, da es mir nicht möglich war, meine Bekanntschaft mit seinen wichtigsten Werken noch einmal aufzufrischen. Dennoch dachte ich mir, ich sollte wenigstens irgendetwas zu diesem Anlass schreiben. Was dabei herausgekommen ist, mag für einen Jubiläumspost etwas merkwürdig wirken, lässt es den Schriftsteller doch vielleicht nicht im allerbesten Licht erscheinen. Nun denn, ich kann's nicht ändern.   

Ich denke, dass H.G. Wells als Künstler wie als Denker in erstaunlich reiner Form der Vertreter einer ganz bestimmten sozialen Schicht aus einer ganz bestimmten historischen Ära war. In seinem Werk und seiner Person fanden das Empfinden und Denken jener "neuen Mittelklasse", die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Großbritannien herausbildete, auf äußerst pointierte Weise ihren Ausdruck. Einer Mittelklasse, die nicht länger aus Handwerkern, kleinen Kaufleuten und Kontoristen bestand, sondern aus Technikern, Ingenieuren, Lehrern, berufsmäßigen Intellektuellen.
Viele ihrer Mitglieder stammten aus unterprivilegerten Schichten der britischen Bevölkerung – wenn schon nicht aus der Arbeiterklasse, so doch häufig aus den unteren Rängen der alten Mittelschicht. Bildung war für sie der Weg zum sozialen Aufstieg. Einer ihrer Vorkämpfer  und Wegbereiter war dabei der berühmte Biologe Thomas Huxley. Selbst ein aus bescheidenen Verhältnissen stammender Autodidakt, hatte er sich in den 1860ern in den Londoner Arbeiterbildungsvereinen engagiert, konzentrierte seine Bemühungen später jedoch in erster Linie auf eine Modernisierung der Universitäten. Er hatte erkannt, dass der englische Kapitalismus und das britische Empire in Industrie wie Administration Leute mit einer soliden wissenschaftlichen und technischen Ausbildung benötigte. Das alte Universitätssystem, das ganz auf den Typus des Gentleman-Wissenschaftlers zugeschnitten war, konnte diese nicht in genügender Anzahl hervorbringen. Es musste deshalb grundlegend verändert und Talenten gegenüber geöffnet werden, die nicht aus der traditionellen Elite stammten.
In diesem Kontext mutet es geradezu symbolhaft an, dass H.G. Wells ab 1894 an der Londoner Normal School for Science bei Thomas Huxley Biologie studierte, war sein eigener Werdegang doch exemplarisch für viele Vertreter dieser neuen Mittelklasse. In ärmliche Verhältnisse hineingeboren, hatte der künftige Schriftsteller schon in jungen Jahren seine Liebe zu Büchern entdeckt und einen wahren Heißhunger auf Wissen jeder Art entwickelt. Das bewahrte ihn freilich nicht davor, mehrere Jahre als Lehrling erst im Textilhandel, dann bei einem Apotheker schuften zu müssen. Erst als es ihm gelang, einen Platz an der Midhurst Grammar School zu ergattern, und er bald darauf ein Stipendium für ein Studium an der Normal School for Science erhielt, begann sich sein Schicksal allmählich zum Besseren zu wenden, auch wenn sein Leben noch für viele Jahre – als Student wie als Lehrer  – von Mangel und ökonomischer Unsicherheit geprägt bleiben würde.
Bildung und Wissenschaft waren für H.G. Wells der Weg gewesen, auf dem er einer von Armut, Hunger und geisttötender Plackerei beherrschten Existenz entkommen war. Es verwundert deshalb nicht allzusehr, dass er in ihnen schließlich so etwas wie die ultimative Lösung für alle gesellschaftlichen Probleme erblickte. Und dass eine der prägenden Figuren auf diesem Weg Thomas Huxley gewesen war, trug sicher viel dazu bei, dass die darwinsche Evolutionslehre einen tiefen und bleibenden Einfluss auf sein Denken ausübte – schließlich hatte sich der gute Mann durch sein leidenschaftliches Engagement während der Kontroverse um The Origin of Species den vielsagenden Spitznamen "Darwins Bulldogge" verdient.
Wenn Wells' persönlicher Pfad des sozialen Aufstiegs den historischen Aufstieg einer ganzen sozialen Schicht widerspiegelte, gilt dasselbe für das ambivalente Verhältnis, in das er dabei zur Viktorianisch- Edwardianischen Gesellschaft geriet. Einerseits war die gesellschaftliche Entwicklung, die sich in seinem Leben und seiner Persönlichkeit ausdrückte, Teil des gewaltigen Modernisierungsschubs, der diese Epoche der britischen Geschichte auszeichnete. Wir tendieren sehr oft dazu, den Viktorianismus als eine fürchterlich konservative, steife und verstaubte Ära zu betrachten. Doch in Wirklichkeit handelte es sich bei ihm in vielerlei Hinsicht um eine äußerst dynamische Aufbruchszeit. Wells' Begeisterung für Fortschritt, Technik und Wissenschaft stand keineswegs im Widerspruch zum allgemeinen Zeitgeist, sondern war Teil desselben. Das galt insbesondere für das Mittelklasse-Milieu, zu dem er gehörte.  Zugleich jedoch stieß dieser fortschrittliche Geist beständig auf den Widerstand der überkommenen Elite. Das war vor allem in der Welt von Schule und Universität der Fall, wo sich "die Alten" mit Händen und Füßen gegen die Modernisierung ihrer angestammten Domäne wehrten. Wie John Hart in seiner Besprechung von Wells' Autobiographie schreibt:
There was no room for the middle class intellectual in the scheme of contemporary English society. Wells was acutely aware of that. He saw that teaching was hampered on all sides by old pedagogical and moral forms. It was in no way possible to teach science, as Latin and history had hitherto been taught, without destroying its social implications. The reform of the educational system became therefore a leading issue for him.  
Da für Wells Bildung der Schlüssel zur Lösung aller gesellschaftlichen Probleme war, musste dieses Ringen um eine Reform in seinen Augen zu einer Art epischem Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen werden. Um George Orwells Essay Wells, Hitler, and the World State zu zitieren:
If one looks through nearly any book that he has written in the last forty years one finds the same idea constantly recurring: the supposed antithesis between the man of science who is working towards a planned World State and the reactionary who is trying to restore a disorderly past. [...] On the one side science, order, progress, internationalism, aeroplanes, steel, concrete, hygiene: on the other side war, nationalism, religion, monarchy, peasants, Greek professors, poets, horses. History as he sees it is a series of victories won by the scientific man over the romantic man.
Wells rebellierte nicht gegen die Viktorianisch-Edwardianische Gesellschaft als Ganzes, sondern nur gegen einige ihrer Aspekte. Gegen all das, was in seinen Augen eine überlebte Vergangenheit verkörperte: Die Geistlichkeit als Vertreterin von Aberglaube und Unwissenheit; Tory-Gutsbesitzer mit ihrer Vulgarität, ihrer Leidenschaft für die Fuchsjagd und ihrem martialisch-jingoistischen Gehabe; verstaubte Oxbridge-Dons und in einem mumifizierten Klassizismus erstarrte Schullehrer.
Sein Aufbegehren wurde nicht getragen vom Hass des Revolutionärs gegen eine unmenschliche Ordnung, sondern vom Ärger und der Frustration des Mittelklasseintellektuellen über Borniertheit und Konservatismus, die ihn und seinesgleichen in ihrer freien Entfaltung behindern, wobei dieselbige mit dem Fortschrit der Menschheit gleichgesetzt wird. Denn würde die Welt bloß auf ihn und solche wie ihn – aufgeklärte, von der Wissenschaft erleuchtete Intellektuelle – hören und all den alten Plunder von Religion, Militarismus, Nationalismus, Puritanismus, Ständedünkel über Bord werfen, alles würde sich zum Guten wenden. Und warum sollten sie nicht auf ihn hören, entsprachen seine Argumente doch scheinbar ganz dem "gesunden Menschenverstand"?
Es versteht sich beinah von selbst, dass Wells' Vorstellung von Sozialismus nichts mit Revolution und Selbstbefreiung der Arbeiterklasse zu tun hatte. Eine politische Bewegung der Massen spielte in seinen Konzepten keine Rolle. Den Marxismus behandelte er nie anders als mit verächtlicher Herablassung. Sein Sozialismus war vielmehr das erträumte Endziel einer schrittweisen Entwicklung unter der Leitung einer Elite aufgeklärter Geister.
Es ist kein Zufall, dass H.G. Wells' bedeutendste literarische Werke – Bücher wie The Time Machine (1895), The Island of Doctor Moreau (1896), The Invisible Man (1897), The War of the Worlds (1898) und The First Men in the Moon (1901) – sämtlichst zu einer Zeit entstanden sind, als sein Aufbegehren gegen die Viktorianisch-Edwardianische Gesellschaft noch frisch und scharf war. In späteren Jahren ossifizierte sein Denken mehr und mehr zu einer hochmütigen und zunehmend weltfremden Doktrin.
Schon der 1. Weltkrieg, den er zu Beginn unterstützt und als "The War That Will End Wars" propagandistisch verklärt hatte, musste seinem letztlich naiven Glauben an den allmählichen Sieg von Vernunft und Fortschritt einen empfindlichen Dämpfer versetzen. Was folgte war eher noch schlimmer. Wells war organisch unfähig, die von extrem heftigen Klassenkämpfen, Revolutionen und Konterrevolutionen geprägte Zwischenkriegszeit zu verstehen. Kein Wunder, dass es ihm nicht länger möglich war, sich auf fruchtbare Weise künstlerisch mit der Welt auseinanderzusetzen. Stattdessen versteifte er sich immer mehr in der Rolle des überlgegenen Denkers, der im Grunde die Antwort auf alle Fragen besitzt, doch von den dummen, unaufgeklärten Menschen zu ihrem eigenen Schaden ignoriert wird.

Samstag, 17. September 2016

Strandgut der Woche

Montag, 12. September 2016

Quatermass Lite

Bei dem Namen Hammer wird man unausweichlich an Dracula und Frankenstein, Christopher Lee und Peter Cushing denken müssen – mit anderen Worten, an jene grandiose Ära des Brit-Horrors, die 1957/58 mit Terence Fishers The Curse of Frankenstein und Dracula begann und in den frühen 70er Jahren mit solch bizarren Kuriositäten wie der mit Hongkongs Shaw-Brüdern coproduzierten Legend of the 7 Golden Vampires endete. {Nebenbei bemerkt der einzige Hammer-Dracula-Film, bei dem Lee sich weigerte, den Grafen zu mimen. Vielleicht nicht ganz unverständlich, aber auch wenn der Flick – wie nicht anders zu erwarten – völlig absurd und durchgeknallt ist, ist er doch ein Heidenspaß!}
Schon diese Sicht der Dinge stellt eine ungerechtfertigte Verkürzung dar, produzierte das Unternehmen doch auch in seiner Glanzzeit nicht allein "gothic" Horror. Auch war das House of Hammer natürlich schon sehr viel älter. Sein Grundstein war bereits 1934 gelegt worden, und sein erster richtig erfolgreicher Vorstoß in phantastische Gefilde hatte weder in Stil noch Thematik dem geähnelt, was man später mit der Produktionsfirma assoziieren würde.

Vereinzelte Ausflüge in das Horror-. und SciFi-Genre hatte Hammer zwar schon früher unternommen, doch 1955 landete die Firma ihren ersten richtig großen Hit mit der Kinoadadption von Nigel Kneales TV-Miniserie The Quatermass Experiment.* 
Seit 1951 stand der Buchstabe "X" im Einstufungssystem der britischen Zensurbehörde BBFC (British Board of Film Censors)** für "Suitable for those aged 16 and older", und wurde damit ein Synonym für all das, was die staatlich ernannten Wächter der Moral für anrüchig hielten. Ein Umstand, den Hammer schon bald zu Werbezwecken ausschlachtete. So trug ihre Version der ersten Quatermass-Geschichte den Titel The Quatermass Xperiment, dicht gefolgt von einem Streifen mit dem hübsch doppeldeutigen Namen X The Unknown (1956).



Der Film war ursprünglich als ein direktes Sequel konzipiert gewesen, doch hatte Hammer - Boss Anthony Hinds die Rechnung ohne Nigel Kneale gemacht. Als festangestellter Mitarbeiter der BBC besaß der Autor keinerlei Urheberrechte an The Quatermass Experiment und war nicht konsultiert worden, als der Deal mit Hammer abgeschlossen worden war. Er hasste, was Hinds & Co aus seiner Geschichte gemacht hatten. Insbesondere die Besetzung der Hauptrolle mit dem amerikanischen Schauspieler Brian Donlevy – und damit verbunden die Verwandlung des humanistischen Wissenschaftlers Bernard Quatermass in einen autoritären Bully – hatte seinen Zorn geweckt. Und auch wenn er nicht verhindern konnte, dass die BBC auch weiterhin die Adaptionsrechte für seine Quatermass - Serien an Hammer verhökerte, war es ihm doch möglich, sein Veto einzulegen, wenn es darum ging, die Figur des genialen Raketenforschers abseits dessen zu verwenden. Was er denn auch flugs tat.

Dennoch ähnelte das, was Jimmy Sangster – der zu einem der wichtigsten Drehbuchschreiber in Hammers klassischer Ära werden sollte – schließlich zu Papier brachte, in mancherlei Hinsicht immer noch einer Quatermass-Geschichte, bloß ohne den Professor. Was nur logisch ist, schließlich ging es nachwievor darum, den Erfolg von The Quatermass Xperiment zu wiederholen.

Während einer militärischen Übung, bei der die Rekruten das Aufspüren radioaktiver Objekte mit Hife eines Geigerzählers trainieren, kommt es plötzlich zu einer Art Minierdbeben, durch das sich ein scheinbar bodenloser Schacht auf dem Gelände öffnet. Zugleich erleiden zwei der Soldaten aus unerklärlichen Gründen schwere Strahlenschäden. Auch der hinzugerufene Atomphysiker Dr. Royston (Dean Jagger) – unser Ersatz-Quatermass – weiß vorerst keine Antwort auf das Rätsel.
Die Lage spitzt sich zu, als in der folgenden Nacht ein kleiner Junge in einer benachbarten Waldung während einer Mutprobe einem {vorerst unsichtbar bleibenden} Monster begegnet und dabei gleichfalls einer {letztlich tödlichen} Dosis atomarer Strahlung ausgesetzt wird. Außerdem bricht irgendjemand oder irgendetwas in Roystons Privatlabor ein, woraufhin die dort gelagerten Materialproben auf unerklärliche Weise ihre radioaktiven Eigenschaften verlieren.
Roystons bürokratischer Vorgesetzter John Elliott (Edward Chapman), Leiter eines staatlichen Institus für Atomforschung, tut das Ganze als eine Reihe zwar bizarrer, doch belangloser Zufälle ab. Aber unser Held ist sich sicher,  dass mehr dahintersteckt. Unterstützung findet er bei dem Sicherheitsbeamten "Mac" McGill (Leo McKern) und Elliots Sohn Peter (William Lucas), der gleichfalls in der Forschungsanstalt arbeitet. Es dauert nicht lange, da entwickelt Royston auch schon eine verwegene Theorie: Was wenn sich Leben nicht nur auf der Erdoberfläche, sondern auch im Erdkern entwickelt hätte? Eine aus reiner Energie bestehende Kreatur, die durch den Schacht auf dem Übungsplatz heraufgestiegen sei und sich nun auf der Suche nach Nahrung – radioaktivem Material – befände?
Klingt ziemlich absurd, ist aber selbstverständlich hundertprozentig korrekt. Und so sehen sich Royston & Co bald schon mit einem beständig wachsenden Monstrum konfrontiert, das rein äußerlich eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem guten alten "Blob" aufweist, durch konventionelle Waffen nicht verletzt werden kann und Menschen bei Berührung auf recht unappetitliche Weise bei lebendigem Leib zerschmelzen lässt.

X The Unkown besitzt zweifelsohne seine starken Seiten.
Dean Jaggers Dr. Royston gibt einen sehr viel besseren Quatermass ab als der "echte" Quatermass Brian Donlevy  – human, eigenwillig und prinzipientreu. Ihm zur Seite steht der in seiner bodenständigen und pragmatischen Art gleichfalls sehr sympathische McGill, der eingestandermaßen nichts von Atomphysik und dergleichen versteht, in Royston jedoch sofort eine vertrauenswürdige Person zu erkennen vermag, die seine Loyalität verdient hat. Die Rezension des Films auf Satanic Pandemonium kritisiert zwar, dass "the two characters simply get along too well. There is not enough tension or anxiety", doch für mich war gerade das unkompliziert-freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden ein Pluspunkt. Weniger überzeugend fand ich hingegen William Lucas' Peter Elliott. Der ganze Subplot um einen Vater-Sohn-Konflikt mit Royston als Ersatzvaterfigur trägt nicht wirklich etwas substanzielles zur Story bei, und Peter selbst bleibt bis zum Ende der generische jugendlich-männliche Held {wenn man davon absieht, dass ihm die eigentlich obligatorische Freundin/Verlobte fehlt}.
Vor allem die erste Hälfte des Films enthält einige sehr atmosphärische Szenen – so z.B. die Begegnung des kleinen Jungen mit dem Monster im Wald oder die wacheschiebenden Soldaten auf dem nächtlichen Übungsgelände. Örtlichkeiten wie der offenbar übel beleumundete Turm, in dem ein Landstreicher seine private Schnapsbrennerei eingerichtet hat, oder die kleine Kirche, die im letzten Drittel des Films zu einer Art  Refugium für die Dorfbewohner wird, vermitteln zudem auf recht gelungene Weise das für diese Variante des Brit-Horrors ziemlich typische Motiv der von unbekannten Mächten bedrohten "ländlichen Gemeinde".
Nicht unerwähnt bleiben soll auch die recht effektvolle – und für die Zeit sicher ziemlich drastische – Szene, in der der Körper eines Doktors unter dem Einfluss des Monsters zerschmilzt.

Und doch fehlt X The Unkown jenes gewisse Etwas, das die Quatermass - Serien zu echten Klassikern der Filmphantastik macht.
David Pirie schrieb im Time Out Film Guide über den Streifen:
1956 - the year of the Suez crisis, a sharp increase in the crime rate, and uneasy preparation for WWIII - spawned a series of gloomy thrillers (both in Britain and in America) in which the weight of the military is mobilised against various alien organisms from the bowels of the earth or outer space...in a lot of ways it [X the Unknown] communicates the atmosphere of Britain in the late '50s more effectively than the most earnest social document.***
Dem kann ich mich nicht so ganz anschließen. Als ein Quasi-Sequel zu The Quatermass Xperiment enthält der Film zwar noch Spuren der DNA von Nigel Kneales ursprünglicher Schöpfung – vermittelt durch die bereits von Richard Landau & Val Guest verunreinigte Kinofassung –, doch das Gefühl allgemeiner Verunsicherung, unterschwelliger Angst und Paranoia ist hier zum einen sehr viel weniger eindringlich als bei Kneale, und wird zum anderen ganz mit dem Motiv einer "Bedrohung von außen" verknüpft und damit eines Gutteils seines subversiven Potentials beraubt.
Nigel Kneales Quatermass II, der ein Jahr zuvor im Fernsehen der BBC gezeigt worden war, ist oberflächlich betrachtet zwar gleichfalls eine klassische Alien Invasion - Story {der Bodysnatcher-Variante}, bringt jedoch zugleich ein tiefes Unbehagen gegenüber Industrie, staatlicher Bürokratie und Militär zum Ausdruck. Eine Tendenz, die sich in Quatermass and the Pit (1958/59), verbunden mit Kneales wachsendem Pessimismus, noch einmal deutlich verschärfen würde.,
Nichts vergleichbares findet sich in X The Unknown. Zwar ist der arrogant-autoritäre John Elliott so etwas wie der Antagonist der Geschichte, doch ist ihm nichts Finsteres oder Bedrohliches eigen – letztenendes handelt es sich bei ihm bloß um einen bornierten Bürokraten. Und zum Schluss ist es einmal mehr das Militär, unterstützt von Roystons wissenschaftlicher Genialität, das die Lage rettet. Was Reminiszenzen an das abgewandelte Finale des Quatermass Xperiment weckt. Während in Nigel Kneales Original der Appell des Professors an die immer noch vorhandene Humanität in dem zum Monster mutierten Astronauten zu dessen Selbstzerstörung führt, wird dem Ungeheuer in Hammer's Version mit militärischer Gewalt der Garaus gemacht.     

Interessanterweise soll angeblich Joseph Losey, der sich zu dieser Zeit als eines der Opfer der Schwarzen Listen im europäischen Quasi-Exil befand, ursprünglich als Regisseur für X The Unknown engagiert worden sein, habe jedoch aus gesundheitlichen Gründen das Projekt nach einer Woche verlassen müssen. Stattdessen übernahm Leslie Norman die Regie, was offenbar keine besonders glückliche Wahl war. Man bekommt immer wieder zu hören, dass auf den Hammer-Sets für gewöhnlich eine äußerst angenehme Arbeitsatmosphäre geherrscht habe. Bei X The Unknown war dies ganz und gar nicht der Fall. Wie Kameramann Len Harris später einmal erzählt hat:
He [Norman] was one of the few people that wasn't liked at Hammer, and you'll notice that, despite the film's quality, he never did another for us. He was a good technical director, but he couldn't direct people very well. Dean Jagger simply wouldn't be directed by him! Leslie was always complaining and could be very harsh. He didn't think much of the film, either.....The thing we disliked the most was his using abusive language through a loud hailer for all to hear. That simply wasn't done at Hammer!
Ob Joseph Losey dem Film vielleicht einen etwas subversiveren Dreh verliehen hätte? Wie sein sieben Jahre später für Hammer gedrehter Film These Are The Damned – ein trotz struktureller Schwächen äußerst faszinierendes, bedrückendes und überraschend kompromissloses Werk – beweist, konnte der Regisseur auch im SciFi-Horror-Genre beeindruckendes leisten. Nun, wir werden es nie erfahren, und so bleibt X The Unknown zuguterletzt ein zwar sehenswertes, aber nicht übermäßig interessantes Beispiel aus der Frühzeit des Hammer - Horrors.     


* Ich habe die ersten drei Quatermass - Serien The Quatermass Experiment (1953), Quatermass II (1955) und Quatermass and the Pit (1958/59) im Rahmen meiner leider unvollendet gebliebenen Nigel Kneale - Tour besprochen. Hoffentlich gelingt es mir, dieses Projekt irgendwann einmal wiederzubeleben, halte ich den Autor doch für einen der ganz Großen der Filmphantastik. 
** 1984 in British Board of Film Classification umbenannt. Historische Randnotiz: Wir neigen dazu, bei britischer Filmzensur an Sachen wie Mary Whitehouse und ihre NVALA - Kampagnen, die Video Nasties - Hysterie der 80er Jahre oder die jüngsten Kontroversen um Streifen wie A Serbian Film (2010) und The Human Centipede 2 (2011) zu denken. Natürlich enthielten von diesen vor allem die ersten beiden auch ein mehr oder minder offen politisches Element, jedoch stets im Gewand der Sorge um die "öffentliche Moral". Die Aktionen des BBFC konnten aber auch einen ganz explizit politischen Charakter besitzen. So wurde Sergei Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin 1926 vor dem Hintergrund des semi-insurrektionären Generalstreiks aufgrund seiner "inflammatory subtitles and Bolshevist propaganda" mit dem Bannfluch belegt. Erst ab 1954 durfte der Klassiker öffentlich gezeigt werden, und auch dann nur unter der "X"-Kategorie. 
*** Die Suez-Krise stelte einen wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung des britischen Nationalbewusstseins dar. Die gescheiterte Invasion Ägyptens durch Großbritannien, Frankreich und Israel machte auf äußerst demütigende Weise deutlich, dass der jahrzehntelange Niedergang des Empire einen Punkt erreicht hatte, an dem die Durchsetzung der geostrategischen Interessen des Vereinigten Königreiches ganz vom Wohlwollen der USA abhing, zu deren Juniorpartner das einstige Weltreich herabgesunken war.

Samstag, 10. September 2016

Strandgut der Woche

Sonntag, 4. September 2016

Back in the U.S.S.R. (III)

Teil 1 * Teil 2

In der Literatur fand der Kosmismus seine eifrigsten Jünger erstaunlicherweise unter den sog. Proletarischen Dichtern, die sich u.a. in der Moskauer Vereinigung Kusniza (Die Schmiede) zusammenfanden, welche sich Ende 1919 vom Proletkult abgespalten hatte. Thema ihrer Gedichte waren in erster Linie die revolutionären Massen, das Pathos der Arbeit und die Glorifizierung der Maschine. Realismus oder Konkretheit der Darstellung war dabei nicht ihr Ziel. Sie tendierten vielmehr zu Abstraktion und Hyperbolik. Und bei einigen von ihnen nahm diese Tendenz offen kosmische Züge an. In ihren Versen befreite das Proletariat dann nicht bloß die Menschheit, sondern gleich die ganze Milchstraße.
Keines dieser Werke ist mir aus eigener Leseerfahrung bekannt, aber nach allem, was man so hört, müssen sie in ihrer überwältigenden Mehrheit unerträglich schwülstig und ungelenk gewesen sein. Was denke ich nicht wirklich überrascht. Leo Trotzki kritisierte den "proletarischen" Kosmismus außerdem als eine Art uneingestandenen Eskapismus:
Der Kosmismus erscheint außerordentlich kühn, stark revolutionär und proletarisch oder er könnte so erscheinen. In Wahrheit aber enthält der Kosmismus fast schon Elemente von Fahnenflucht in interstellare Sphären, um den komplizierten und für die Kunst schwierigen irdischen Dingen auszuweichen. Dadurch erweist sich der Kosmismus völlig unerwartet als der Mystik verwandt [...]*
Übrigens hielt Trotzki das ganze Konzept einer "proletarischen Kultur" für völlig verfehlt. Im Unterschied zu allen herrschenden Klassen der Vergangenheit strebe das Proletariat nicht danach, seine eigene Herrschaft zu verewigen, sondern jedweder Herrschaft des Menschen über den Menschen für immer ein Ende zu bereiten. Die Diktatur der Arbeiterklasse sei ja eine bloße Übergangsphase hin zur klassenlosen Gesellschaft, und damit viel zu kurz, um eine spezifisch "proletarische" Kultur hervorzubringen.  

Ich weiß nicht, wie lange die kosmistische Mode unter den Proletarischen Dichtern anhielt. Scheinbar aber wurde der "Proletkult-Kosmismus" noch Mitte der 20er Jahre in den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kusniza und der konkurrierenden Organisation RAPP (Russische Vereinigung Proletarischer Schrifsteller) als Argument ins Feld geführt.
Wie diese Episode nebeinbei sehr schön zeigt, bildeten auch die Proletarischen Schriftsteller keineswegs eine monolithische Einheitsfront. Mit Ausnahme der 1924 gegründeten Gruppe Pereval (Der Gebirgspass), deren Mitglieder sich um eine kollegiale Zusammenarbeit mit den sog. "Weggenossen" (den parteilosen, "kleinbürgerlichen" Schriftstellern) bemühten, glaubten sie zwar alle, dass ihnen als den Vertretern der "neuen herrschenden Klasse" die Hegemonie über die sowjetische Literatur zustehe. Doch das hielt sie nicht von z.T. äußerst verbissen geführten Cliquenkämpfen untereinander ab.
Dennoch war es natürlich kein Zufall, dass die RAPP schließlich eine zentrale Rolle bei der Gleichschaltung der Literatur spielen sollte.
Die Hegemonieansprüche der Proletarischen Schriftsteller wurden anfangs von der Mehrheit in der Bolschewistischen Partei ebenso zurückgewiesen wie vergleichbare Forderungen, die von Futuristen und anderen Vertretern der Avantgarde erhoben wurden. Ihnen hatte Anatoli Lunatscharski, der Volkskommissar für Kultur, im Dezember 1918 erwidert:    
Es wäre unsinnig, wenn sich die avantgardistischen Künstler einbildeteten, eine vom Staate unterstützte Kunstschule zu sein, die die offizielle Kunst repräsentiert, die, obgleich sie revolutionär ist, doch von oben diktiert wird.**
Ein Jahrzehnt später allerdings begann sich die Lage merklich zu wandeln.
Der brillante marxistische Literaturkritiker Alexander Woronski, Herausgeber der Zeitschrift Krasnaja Now (Rotes Neuland) und Leiter des Verlagshauses Krug (Kreis), war der wohl streitbarste Verfechter einer möglichst toleranten Literaturpolitik gewesen. Als Anhänger der von Trotzki angeführten Linken Opposition, die die zunehmende bürokratische Entartung des Sowjetregimes zu bekämpfen versuchte, wurde er wie viele seiner Gesinnungsgenossen 1927 aus der Partei ausgeschlossen und nach Sibirien verbannt. Ein deutliches Zeichen dafür, dass sich auch in der Kulturpolitik der Wind schon bald drehen würde.
Die Kaste der Apparatschiks mit Stalin an der Spitze räumte die letzten Hindernisse aus dem Weg, die ihrer absoluten Herrschaft über die Sowjetunion und der persönlichen Despotie ihres Woschd (Führers) noch im Wege standen. Die von dem Kritiker Leopold Averbach angeführte RAPP erwies sich dabei als williges Werkzeug zur Unterwerfung der sowjetischen Literatur unter das Diktat der stalinistischen Bürokratie. Im Namen von Staat und Partei errichtete sie 1929 ihre eigene kleine Diktatur über die Literaturwelt. Von nun an hatten die Schriftsteller den "sozialen Auftrag" zu erfüllen, d.h. de facto den Interessen der herrschenden Kaste zu dienen. In der Praxis bedeutete das vor allem: Propagandistische Verherrlichung der Zwangskollektivierung und des ersten Fünfjahresplans.

Ironischerweise war es neben Boris Pilnjak mit Die Wolga stürzt ins Kaspische Meer ausgerechnet der ehemalige Kosmist und Kusniza -Anhänger Andrei Platonow, der mit Die Baugrube das den Schriftstellern aufgezwungene Format des "Fünfjahresplan - Romans" dazu verwendete, seiner Kritik am Stalinismus Ausdruck zu verleihen. Freilich hatte Platonow in der zweiten Hälfte der 20er Jahre auch der ursprünglich unter der Schirmherrschaft von Woronski entstandenen Pereval-Gruppe angehört, darf also als einer der eher nonkonformistischen Proletarischen Schriftsteller gelten.

Die Herrschaft der RAPP währte übrigens nicht besonders lange. 1932 dekretierte das ZK die Auflösung aller unabhängigen Schriftstellerorganisationen. Averbach und die RAPP fielen in Ungnade. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan, der Mohr konnte gehen. Von nun an übte die herrschende Kaste ihre Kontrolle über die Literatur ganz unmittelbar durch den neugegründeten Sowjetischen Schriftstellerverband aus, dem anzugehören alle Autoren & Autorinnen de facto verpflichtet waren.

Von den Reden, die auf dem ersten Allunionskongress dieses Verbandes 1934 gehalten wurden, sticht die von Juri Olescha aufgrund ihres sehr persönlichen und ehrlichen Tones besonders hervor. Offen erklärte er, dass es ihm unmöglich gewesen sei, dem "sozialen Auftrag" auf die gewünschte Weise nachzukommen, da dies mit seiner künstlerischen Persönlichkeit unvereinbar gewesen sei:
Zu der Zeit, als ich über das Thema des Elends nachdachte und die Jugend suchte, baute unser Land Betriebe. Es war der erste Fünfjahresplan der Schaffung der sozialistischen Industrie. Das war nicht mein Thema. Ich konnte auf eine Baustelle gehen, in einem Betrieb unter den Arbeitern leben, sie in Skizzen und sogar Romanen beschreiben, es war nicht mein Thema, es war nicht das Thema, das in meinem Blut kreiste, und mit dem ich atmete. Ich war in diesem Thema nicht wirklicher Künstler. Ich hätte lügen müssen, ich hätte mir etwas ausdenken müssen -- aber es hätte in mir nichts gegeben, was man Inspiration nennt.***
Ein solches Maß an Aufrichtigkeit wurde in den öffentlichen Verlautbarungen sowjetischer Künstler und Künstlerinnen zu dieser Zeit immer seltener. 
Anders als etwa Boris Pilnjak, Isaak Babel oder Ossip Mandelstam fiel Juri Olescha nicht dem ein Jahr später einsetzenden Großen Terror zum Opfer, doch schriftstellerisch verstummte er schon bald beinah völlig. Der Stalinismus verschonte sein Leben, doch er zerstörte ihn als Künstler.

1899 in eine Familie von Beamten und verarmten Gutsbesitzern hineingeboren, verbrachte Olescha den Großteil seiner Kindheit und Jugend in Odessa. Dort unternahm er seine ersten literarischen Gehversuche und wurde Mitglied eines Kreises junger Künstler, zu dem eine ganze Reihe bedeutender künftiger Sowjetschriftsteller gehörten, so vor allem Walentin Katajew, Isaak Babel und Ilja Ilf. Nach der Revolution brach er endgültig mit seiner monarchistisch gesinnten Familie und trat 1919 in die Reihen der Roten Armee ein. Drei Jahre später, nach dem Ende des Bürgerkriegs, übersiedelte er nach Moskau, wo er für die Eisenbahnerzeitung Gudok zu arbeiten begann. Seine satirischen Verse, die er unter dem Pseudonym "Subilo" ("Der Meißel") veröffentlichte, erfreuten sich bei der Leserschaft großer Beliebtheit.
Sein 1927 veröffentlichtes Romandebüt Neid wurde anfangs von der sowjetischen Kritik allgemein gefeiert, sollte in späteren Jahren aber zu einem der "Beweisstücke" für die in sowohl ästhetischer wie politischer Hinsicht angeblich "reaktionäre" Tendenz des Autors werden.

Gleich vorweg sei gesagt, dass es sich bei Neid strenggenommen nicht um einen phantastischen Roman handelt. Die fantastischen Szenen, die er enthält, sind auch innerhalb der Wirklichkeit der Geschichte irreal – zum einen eine Erzählung in der Erzählung, zum anderen ein Fiebertraum. Und doch umgibt Neid meiner Meinung nach ein Hauch des Unwirklichen, Märchenhaften, leicht Grotesken. Interessanterweise war Oleschas erstes längeres Prosawerk, das zwar bereits 1924 geschrieben, aber erst im selben Jahr wie Neid veröffentlicht wurde, in der Tat ein "revolutionäres Märchen" mit dem Titel Die drei Dicken gewesen.**** Und auch wenn sein Debütroman rein äußerlich sehr viel stärker dem Realismus verpflichtet zu sein scheint, glaube ich doch, dass da eine gewisse Kontinuität besteht.

Der Protagonist – und für die erste Hälfte des Romans auch der Erzähler – von Neid ist Nikolai Kawalerow, ein heruntergekommener Intellektueller, dem es nicht gelingt, einen Platz in der neuen sowjetischen Wirklichkeit zu finden, und der das Gefühl hat, die Revolution habe ihn um ein glückliches und ruhmreiches Leben betrogen. Stockbetrunken am Straßenrand liegend wird er eines nachts von Andrei Babitschew aufgelesen, einem Direktor des staatlichen Lebensmitteltrusts. Der allseits geachtete Funktionär quartiert ihn in seiner Wohnung ein, doch Kawalerow reagiert auf diese scheinbare Mildtätigkeit nicht mit Dank, sondern mit Hass und Neid. Für ihn verkörpert der korpulente "Wurstmacher", der an der Errichtung einer gewaltigen Gemeinschaftsküche ("Die Kopeke") arbeitet, in seiner entspannten Selbstsicherheit die ganze Vulgarität und Arroganz des neuen Regimes. Er fühlt sich in seiner Anwesenheit eingeschüchtert und gedemütigt.
Eines Tages lernt Kawalerow Andrei Babitschews wunderlichen Bruder Iwan kennen, der als selbsternannter Prophet und "König der Vagabunden" durch Moskaus Kneipen zieht und in ekstatischen Reden alle "Kinder des untergehenden Zeitalters" auffordert, ihm zu folgen.  Sein Ziel ist eine "Verschwörung der Gefühle", eine "letzte Parade der alten menschlichen Leidenschaften", die durch den Sozialismus zum Untergang verdammt seien:
Ich glaube, dass eine ganze Reihe von menschlichen Gefühlen langsam abstirbt [...] Mitleid, Zärtlichkeit, Stolz, Eifersucht, Liebe. Mit einem Wort, fast alle Gefühle, aus denen die Seele des Menschen der zu Ende gehenden Epoche bestand.
In Kawalerow glaubt Iwan die perfekte Verkörperung des Neides gefunden zu haben, und der verbitterte junge Mann wird zum ersten {und einzigen} Jünger des exzentischen Propheten. Ihm vertraut er das Geheimnis der "Ophelia" an, einer Wundermaschine, die er konstruiert haben will und die seine Rache an der "neuen Zeit" und seinem verhassten Bruder Andrei vollstrecken werde
Ich habe eine Maschine erfunden, die alles vermag [...] Aber ich habe es ihr verboten. Eines schönen Tages erkannte ich, dass mir eine übernatürliche Möglichkeit gegeben war, meine Epoche zu rächen [...] Die vollkommenste Schöpfung der Technik habe ich mit den trivialsten Gefühlen begabt! [...] Sie verliebt sich, sie ist eifersüchtig, sie weint und träumt ... Das alles habe ich gemacht. Ich habe die Maschine, die Gottheit der kommenden Menschen, verhöhnt. Und ich habe ihr den Namen eines Mädchens gegeben, das aus Liebe und Verzweifelung den Verstand verlor, den Namen Ophelia ... den menschlichsten und rührendsten aller Namen ...
Im Gespräch mit Kawalerow entwirft Iwan die fantastische Vision der finalen Konfrontation zwischen ihm und seinem Bruder, wenn die "Ophelia" auf seinen Befehl hin die "Kopeke", dieses Sinnbild der "neuen Zeit", zerstören, und er – der verrückte Träumer – über den Trustdirektor triumphieren werde.
Auch wenn Kawalerow nicht so ganz an die Existenz der "Ophelia" zu glauben vermag, fühlt er sich doch stark zu Iwan hingezogen. In seiner Fantasie verklärt er dessen Tochter Walja, die ihren Vater verlassen und eine Beziehung mit Andreis Quasi-Adoptivsohn Wolodja, einem angehenden Ingenieur und glühenden Kommunisten, eingegangen ist, zu einer engelhaften Verkörperung von Reinheit und Unschuld, die er den Klauen der "neuen Menschen" entreißen müsse. In einem Brief an Babitschew schreibt er:
Ich kämpfe für Ihren Bruder, für das Mädchen, das Sie betrogen haben, für die Zärtlichkeit, für das Pathos, für die Persönlichkeit, für Namen, die erregend sind wie der Name Ophelia, für alles, das Sie, der berühmte Mann, vernichten wollen.
Von Iwan angestachelt beschließt er, Andrei Babitschew zu ermorden.

Neid ist in einer wundervoll poetischen Sprache geschrieben – voller origineller Metaphern und sinnlich-fantasievoller Beschreibungen. Einer Sprache, die der Roman direkt mit der Figur Kawalerows verbindet, der von sich selbst sagt, er spreche eine "bildliche" Sprache, die ein Mann wie Babitschew nicht verstehen könne und die er deshalb verlache. Dieser Stil trägt viel zu dem leicht unwirklichen, märchehnhaften Eindruck bei, den der Roman zumindest bei mir hinterlassen hat.
Die Leute erzählten sich allerlei von dem neuen Propheten. Aus den Bierkneipen drang das Gerücht in die Wohnungen, kroch über die Hintertreppen in Gemeinschaftsküchen, und morgens, wenn die Leute sich wuschen, wenn sie ihre Spirituskocher anzündeten, wenn die einen auf die Milch aufpassten, die darauf lauerte, überzulaufen, und die anderen unter dem Wasserhahn hüpften, klatschten und tratschten sie darüber.
In Iwans Vision von seinem Triumph über den Bruder und in Kawalerows Fieberalptraum von der Rache der "Ophelia" steigert sich dieser Stil zum Phantasmagorischen.
Sein Gesicht schwoll an und schien zu platzen. Es war, als fließe überall aus diesem Gesicht, aus Nasenlöchern, Mund, Ohren und Augen, eine dunkle Flüssigkeit wie aus einem Weinschlauch, und alle schlossen entsetzt die Augen. Nicht der Dicke hatte gesprochen, sondern die Bretter um ihn, der Beton, die Linien, die Fleisch geworden waren. Ihr Zorn war es, der ihn bersten machte. [...]
Und später erzählten die Leute: Es flog über unseren Köpfen, es kam von hinten.
Mit krachenden Planken schwamm ein gigantisches Segelschiff wie ein heulender Wind auf die Menge zu, und ein schwarzer fliegender Körper stieß gegen einen hohen Balken, wie ein Vogel ans Takelwerk, und zerschlug die Laterne ...
"Wird dir Angst, Bruder"? fragte Iwan.
Teil dieses märchenhaften Charakters ist es auch, dass allen Figuren etwas leicht Groteskes anhaftet. Der gewaltig fette Babitschew, der die Erfindung einer neuen Wurstsorte wie einen welterschütternden Triumph feiert. Der exzentrische Iwan – halb heruntergekommener Schnorrer, halb romantischer Prophet. Der von Missgunst und Selbstmileid zerfressene Kawalerow, der sich in wilden Träumen von einem "europäischen Ruhm" ergeht, wie es ihn in Sowjetrussland nicht mehr gebe, ohne dass je klar würde, womit er diesen Ruhm eigentlich verdient haben sollte. Und selbst der junge Wolodja – diese angebliche Verkörperung des "neuen Menschen", der gerne wie eine Maschine sein will:
Ich beginne die Maschine zu beneiden, ja so ists! Wieso bin ich geringer als sie? [...] Sie arbeitet so exakt, dass es auch nicht die kleinste überflüssige Ziffer gibt. So möchte ich auch sein.
Einzig auf Walja trifft dies wohl nicht zu. Doch Grund dafür ist vor allem, dass die junge Frau eigentlich nie als eine eigenständige Persönlichkeit betrachtet wird. Ihr Vater sagt über sie:
Die Frau war das beste, schönste und reinste Licht unserer Kultur. [...] Das Weibliche war der Ruhm der alten Zeit. [...] Ich dachte, dass Walja über dem sterbenden Jahrhundert erstrahlen, ihm auf dem Weg zum großen Friedhof leuchten werde. Aber ich habe mich geirrt. [...] Ich dachte, die Frau gehörte uns, Zärtlichkeit und Liebe gehörten uns allein, aber ... ich habe mich getäuscht.
Auch für Kawalerow ist Walja kein echter Mensch, sondern eine abstrakte Lichtgestalt, zugleich jedoch eine Art Preis, der ihm zustehe:
Ich werde Walja bekommen, als Entschädigung für alles: für alle Erniedrigungen, für meine Jugend, die ich nie zu sehen bekam, für mein Hundeleben.
Gerade diese Mischung aus Objektifizierung und Fetischisierung "der Frau" lässt die "Romantiker" Iwan und Kawalerow in keinem besonders günstigen Licht erscheinen.

Womit wir bei der Frage angekommen wären, was Juri Olescha mit seinem Roman eigentlich aussagen wollte.
In einer zeitgenössischen Rezension der Prawda bekam man zu lesen:
The novel exposes the envy of small despicable people, the petty bourgeois flushed from their lairs by the Revolution; those who are trying to initiate a "conspiracy of feelings" against the majestic reorganization of our national economy and our daily life.
Der Verfasser war offenbar unfähig, den satirischen Unterton in Oleschas Darstellung von Babitschew und Wolodja herauszuhören. Für ihn waren die beiden vorbildliche Verkörperungen des Sowjetmenschen, Kawalerow und Iwan hingegen bloß verachtenswerte Spießer.
Andererseits soll ein Rezensent der Times 1960 über Neid geschrieben haben: "Olesha once opposed Communism with such passion as to make Zhivago seem like a gentle reproof."
Ich halte diese diametral entgegengesetzten Einschätzungen gleichermaßen für politisch motivierten Blödsinn. Neid ist ein sehr viel komplexeres und widersprüchlicheres Werk.

Wie Juri Olescha Ende der 20er / Anfang der 30er Jahre immer wieder bekundete, litt er unter dem Eindruck, dass er und seine Gefühle für die sozialistische Gesellschaft, deren Errichtung er rational begrüße, wertlos und überflüssig seien. Insofern findet sich in Kawalerow sicher einiges von seinem Schöpfer. Dennoch fällt es schwer, den Protagonisten von Neid wirklich sympathisch zu finden. Sein egozentrisches und weinerliches Selbstmitleid wirkt vielmehr irgendwann bloß noch abstoßend. Er redet viel von "leidenschaftlichen Empfindungen", aber man bekommt nicht das Gefühl, dass er selbst solche besitzen würde. Andereseits trägt Andrei Babitschew in der Tat Züge des selbstgefälligen, oberflächlichen und herablassenden Bonzen, als den Kawalerow ihn sieht. Und Wolodjas Gerede über die "Überlegenheit der Maschine" wirkt nachgerade gruselig. Auch lässt sich nicht leugnen, dass dieser angebliche "neue Mensch" einen ziemlich grausamen und mitleidlosen Eindruck hinterlässt,
In meinen Augen drückt Neid vor allem das Unbehagen eines äußerst feinfühligen Menschen gegenüber bestimmten Aspekten der frühen Sowjetgesellschaft aus, wie sie nicht nur von vielen Kommunisten, sondern auch von Teilen der künstlerischen Avantgarde – vor allem von den Konstruktivisten – propagiert wurden: Verachtung für jedwede "Sentimentalität"; Glorifizierung von "Härte" und "Rücksichtslosigkeit"; Diffamierung des "Individualismus" zugunsten des "Kollektivs" usw. Was nicht bedeutet, Oleschas Roman sei ein antikommunistisches Werk. Die Werte der "alten Welt", wie sie Kawalerow und Iwan vertreten, erscheinen letztendlich nicht als besonders verteidigenswert. Ich glaube vielmehr, dass der Autor zum Ausdruck bringen wollte, es sei nötig, der "neuen Welt" mehr Menschlichkeit, Empfindsamkeit und Mitgefühl einzuhauchen, als dies bisher der Fall gewesen war. Wie er in seiner schon einmal zitierten Rede von 1934 sagen sollte:
Ich möchte den Typus des jungen Menschen schaffen und ihm das Beste mitgeben, was es in meiner Jugend gab. [...] Mein ganzes Gefühl der Schönheit, des Auserlesenen, des Edlen, meine ganze Weltauffassung von den Eindrücken des Säuglings, vom Anblick einer Kuhblume, einer Hand, eines Treppengeländers bis zu den kompliziertesten psychologischen Konzeptionen will ich versuchen, in diesen Dingen zu verkörpern. Ich will beweisen, dass das neue sozialistische Verhalten zur Welt im reinsten Sinne ein menschliches Verhalten ist.
Doch die historische Entwicklung der Sowjetgesellschaft machte dieses edle Ansinnen zu einer tragischen Absurdität, war selbige doch nicht dabei, in eine klassenlose Gesellschaft überzugehen, sondern vielmehr in eine der monströsesten Despotien, die die Menschheit je gesehen hatte.      


* Leo Trotzki: Literatur und Revolution. S. 179.
** Zit. nach: Gleb Struve  Geschichte der Sowjetliteratur. S. 46.
*** In: H.-J. Schmitt & G. Schramm (Hg.): Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller. S. 129. 
**** Ich habe gerade angefangen, Die drei Dicken zu lesen, und hoffe in einem späteren Beitrag eine Besprechung nachzuliefern.

Samstag, 3. September 2016

Strandgut der Woche