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Freitag, 1. Januar 2016

Der Décadent der Fantasy (6)

Nach einer monatelangen Pause nun ein weiterer Abschnitt aus meiner leider nie fertiggestellten Arbeit über Clark Ashton Smith und seine Stellung in der kalifornischen Literatur. Vieles in dem Kapitel, dessen ersten Teil ich heute hier poste, erscheint mir etwas redundant, aber ich habe nicht die Muße, den Text noch einmal zu überarbeiten.

Teil 1 * Teil 2 * Teil 3 * Teil 4 * Teil 5 


Der Kult der Schönheit


George Sterlings politsche Ansichten werden von denen, die sich heute überhaupt noch mit dem Dichter beschäftigen, meist nebenbei abgehandelt, so als handele es sich bei ihnen um eine belanglose Marotte. Tatsächlich jedoch scheinen sie mir zum tieferen Verständnis seiner Person und seines künstlerischen Œuvres von entscheidender Bedeutung zu sein.

S.T. Joshi und David E. Schultz eröffnen ihre Ausgabe des Briefwechsels zwischen Sterling und Clark Ashton Smith mit der apodiktischen Behauptung: „All three poets [Sterling, Smith & Bierce] were devoted to the ideal of ‘pure poetry’ – poetry free of social or political propaganda, whose raison d’être lies in its creation of crystalline beauty as evoked by the glory and tragedy of the universe through skillful use of symbol, image and metaphor“ (1)
Sterling betreffend ist das eine ungerechtfertigte und letztlich irreführende Vereinfachung. Sie löst die innere Zerissenheit, die den Dichter zeitlebens quälte, im Rosenwasser der "reinen Poesie" auf. Er war ein Ästhetizist, aber ein Ästhetizist mit einem schlechten Gewissen. Sein erstes Buch – die 1903 erschienene Lyriksammlung The Testimony of the Suns and Other Poems – beginnt mit einem Widmungsgedicht an Ambrose Bierce, das diese Problematik auf so prägnante Weise zusammenfasst, dass es sehr gut über Sterlings Gesamtwerk stehen könnte.
Bierce war tatsächlich ein kompromissloser Verfechter des l’art pour l’art, was sich in Anbetracht der Tatsache, dass ein Großteil seines eigenen lyrischen Werkes einen satirischen Charakter trägt, eigentlich etwas eigentümlich ausnimmt. Sterling fällt es offenbar sehr schwer, eine eindeutige Position gegenüber den ästhetischen Prinzipien seines Mentors zu beziehen. Im Grunde stimmt der sich von der "heiligen Muse" berufen fühlende Dichter mit dessen Ansichten überein:
 
Remiss the ministry they bear
Who serve her with divided heart;
She stands reluctant to impart
Her strength to purpose, end, or care. (2)
  
Diese Zeilen werden sehr gerne als Beleg dafür angeführt, dass Sterling ein überzeugter Anhänger des l’art pour l’art gewesen sei. Schon Ambrose Bierce hat sie in diesem Sinne zitiert. Doch wie der weitere Verlauf des Gedichtes zeigt, ist es dem Dichter unmöglich, sich aus ganzem Herzen der "reinen Kunst" hinzugeben.

I loose the choral trumpet’s gleam,
But half its thunder leave untried;
Midway on doubting vans I glide,
Nor hasten to the heights of dream.

Raue Stimmen, die zu laut sind, als dass er sie ignorieren könnte, reißen ihn aus seiner poetischen Verzückung:
 
I hear a grieving from the lands
Where Sorrow heavy-sceptred stands,
And moaning from the mist of suns.
Lo! men in weariness behold
No respite from the toils of Time.
Their children wander in the slime
Round Mammon’s domes of plundered gold,
And taste the bitterness of dearth.

Angesicht der Leiden seiner Mitmenschen und der Ungerechtigkeit, die auf der Welt herrscht, würde es ihm geradezu obszön erscheinen, wollte er sich in den Elfenbeinturm zurückziehen. Aber – und darin besteht die Crux des Problems – es ist ein moralischer und kein künstlerischer Impuls, der ihn dazu führt, sich vom Musendienst der "reinen Kunst" abzuwenden.

Must they beyond my conscience wait,
Or lack my voice as advocate
To cry their wrongs athwart the earth ?

Beinahe ließe sich von einer Art Schuldgefühl des privilegierten Künstlers sprechen. 
  
Shall Art fare sunward, and disdain
The patient hands that smooth her ways?
Shall she, delighting, scorn to raise 
The fallen on their path of pain?
So questioning, can I endure
The peace of mine uplifted place?
Accused and judge, I fear to face
The dumb tribunals of the poor.

Sozialismus als Produkt eines schlechten Gewissen – das ist nicht gerade ein vielversprechender Ausgangspunkt. Außerdem bleiben die Zweifel. Nicht nur, ob "Bitter" Bierce mit seinem Pessimismus – „What hath been, is. What is, shall be.“ – am Ende nicht vielleicht doch recht hat, sondern auch, ob eine Kunst, die sich dem Dienst am Mitmenschen verschreibt, nicht notwendigerweise ihre ästhetischen Qualitäten einbüßen muss, zumal sie ein Publikum anzusprechen versucht, das aufgrund seiner Lebensumstände nur sehr schwer Zugang zur wahren Schönheit finden kann.

Can Song accord the light she brings
In crypts where Beauty never woke?
Share with Utility his yoke,
Yet roam her sky on lucent wings?

Ein Schriftsteller sollte nichts schreiben, was nicht seinen tiefsten Empfindungen entspricht, es sei denn, er braucht das Geld, um zu überleben. Und Sterling wollte sich in seiner Kunst eigentlich nicht mit den Massen beschäftigen, auch wenn ihn sein Mitgefühl dazu drängte. Er fühlte sich moralisch dazu verpflichtet, hin und wieder ein paar "sozialistische" Verse zu schreiben. Aber es war ihm kein tiefes inneres Bedürfnis. Diese Gedichte sind künstlerisch unaufrichtig und darum ausnahmslos schwach. In Tonfall und Symbolik unterscheiden sie sich kaum von Markhams Oden an die Brüderlichkeit, nur sind sie noch kurzatmiger, weil ihnen der prophetische Zorn fehlt. Die Ernsthaftigkeit Sterlings soll nicht in Abrede gestellt werden, dennoch wirkt seine politische Lyrik ausgesprochen abgeschmackt. Überall da, wo er sich als wahrer Poet erweist, zeigt er sich auch weiterhin als ein Bewohner des Elfenbeinturms. Einundzwanzig Jahre nach Erscheinen von The Testimony of the Suns schrieb er in einem Brief an Upton Sinclair: „If you can make out…where I stand as to 'art for art's sake' you'll be lucky. It seems to me I've no bone-bound convictions on the subject, but prefer to let each man follow his natural bent.“ (3) Es scheint sich nichts Grundlegendes verändert zu haben. Sterling wusste immer noch nicht, wo er stand.

Der Vater des russischen Marxismus Georgi Plechanow hat einmal ganz richtig bemerkt: „Die Neigung zur Kunst für die Kunst entsteht dort, wo ein Zwiespalt zwischen den Künstlern, und dem sie umgebenden gesellschaftlichen Milieu vorhanden ist.“ (4) Auf Ambrose Bierce traf diese Defintion hundertprozentig zu. Er verabscheute die ihn umgebende Gesellschaft, ohne sich eine Alternative zu ihr vorstellen zu können. Wie hätte er die Kunst in ihren Dienst stellen können? Es ist darum nur zu verständlich, dass er ein eifriger Verfechter des l’art pour l’art war. Sterlings Problem war, dass er von der Existenz eines anderen Milieus wusste, sich mit diesem aber nicht wirklich identifizieren konnte. Die entscheidende Frage formuliert er so:

May I, untroubled, comprehend
The truths that best are seen thro' tears?

Sterling mangelte es an der nötigen Erfahrung, um auf überzeugende Weise vom Leben der Ausgebeuteten schreiben zu können. Das allein war aber nicht das eigentliche Problem. Die besten Bücher über Arbeiter sind selten von Arbeitern geschrieben worden, und die sogenannte "proletarische Literatur", die in den 20er Jahren Mode wurde, deren wichtigster amerikanischer Vertreter der heute weitgehend vergessene Jack Conroy war und die lange Zeit von den Stalinisten gefördert wurde, hat meines Wissens nach kein einziges Werk von bleibendem Wert hervorgebracht. Was Sterling vor allem fehlte, war ganz einfach ein reges Interesse an der ihn umgebenden Wirklichkeit und die Fähigkeit, sich in die Lebenslage und die Empfindungen anderer Menschen einzufühlen. Überall da, wo sie zu überzeugen vermag, kennt seine Lyrik eigentlich nur ein einziges Thema: Sein eigenes Ich. Der Verfasser "kosmischer" Werke wie Testimony of the Suns war in Wahrheit ein extremer Subjektivist. Er selbst schrieb in einem seiner Gedichte: „In all we find, ourselves we find.“ (5)
Es war nicht Sterlings bürgerliche Herkunft, die sein künstlerisches und auch sein persönliches Schicksal besiegelte. Wir Menschen sind nicht die willenlosen Marionetten einer sozialen Determination. Wir können uns aktiv über das Milieu, in das wir hineingeboren wurden, hinausentwickeln. Das setzt aber voraus, das wir das auch wirklich wollen. George Sterling jedoch scheint nie irgendwelche ernsthaften Anstrengungen in dieser Richtung unternommen zu haben. Natürlich war das Bohèmeleben, das er führte, eine Form des Protestes gegen das spießige Milieu, das ihn im heimatlichen Sag Harbor umgeben hatte, und gegen den frommen Vater und dessen heuchlerischen Lebenswandel. Doch auf ihre Art sind Bohèmiens nicht selten genauso borniert wie die durchschnittlichen Kleinbürger. Sie tendieren dazu, in ihrem kleinen Zirkel die Welt zu sehen, und schreiben den Dramen und Tragödien ihres persönlichen Lebens oft eine geradezu kosmische Relevanz zu. Das Nietzscheanertum ist die extremste Form dieser verzerrten Perspektive. Ich fürchte, Sterling gelang es nie, diese Art der Borniertheit zu überwinden. Er hatte einen Käfig – Sag Harbor – gegen einen anderen – Carmel – eingetauscht.

Jack Londons Witwe Charmian schreibt in ihren Erinnerungen: „More than once I have heard him insist that travel books were sufficient. One needed no travel experience.“ (6) Das bezog sich auf die Hochzeitsreise von George und Carrie nach Hawaii und auf Sterlings Desinteresse an den landschaftlichen Schönheiten der Insel. Aber mir scheint, die Aussage besitzt darüberhinaus exemplarischen Charakter. Der Dichter brachte der wirklichen Welt nur ein geringes Interesse entgegen, und das schlug sich auf sehr deutliche Weise in seinem Werk nieder. Ein schönes Beispiel dafür ist seine lyrische Liebeserklärung an San Francisco The Cool, Grey City of Love, eines seiner bekanntesten Gedichte. Sterling liebte die Stadt am Goldenen Tor aus ganzem Herzen. „He certainly was San Francisco’s boy“, wie sich seine Freundin Sara Bard Field ausdrückte. (7) Aber es ist doch recht auffällig, wovon in dem Gedicht die Rede ist und wovon nicht: Da hätten wir den Seewind, Möwen, den stürmischen Ozean, die Sterne am westlichen Firmament, Weinreben, Rosen, den Nebel, der vom Meer heraufzieht – aber nicht ein einziges Mal hören wir etwas von Häusern, Straßen oder Menschen. Alles, was San Francisco als eine moderne Großstadt auszeichnete, bleibt ausgespart! Die Metropole auf den sieben Hügeln ist zu einer Provinz des Feenreiches Bohemia geworden.

In einem Brief an Clark Ashton Smith vom Dezember 1911 schrieb Sterling: „[A]ll the old values and criteria are changing and becoming meaningless. What folks seem to be clamoring for to-day is poetry about machinery, sky-scrapers, etc., – good enough material if they would make poetry of it. But they don’t! It’s all muck to me. Material things seem to need ‘Time’s purple’ to become adequate matter for poetry." (8) Was der Dichter nicht verstanden hatte: Es kam gar nicht so sehr darauf an, die moderne Technik zum Objekt der Kunst zu machen, als vielmehr das Lebensgefühl eines Zeitalters der Wolkenkratzer, Automobile und Aeroplane künstlerisch wiederzugeben. Und dass dies möglich war, bewiesen zur selben Zeit u.a. die Futuristen, die allerdings nicht aus den USA, dem Land des ungebremsten Fortschritts, sondern aus den vergleichsweise "zurückgebliebenen" Ländern Italien und Russland kamen. Sterling freilich hätte das poetische Genie eines Wladimir Majakowski vermutlich überhaupt nicht erkannt.

Amerika hinkte in kultureller Hinsicht immer noch hinter Europa her. Das sollte sich bald ändern. Sterling war eine Figur des Übergangs. Er spürte instinktiv, dass der alte romantische Gestus den Ansprüchen der Gegenwart nicht mehr gerecht werden konnte. Doch zugleich empfand er einen heftigen Widerwillen dagegen, sich mit der gesellschaftlichen Realität auseinanderzusetzen, weil ihm diese ausschließlich hässlich und verachtenswert schien. Und wenn er sich ihr doch einmal zuwandte, wie in seinen Oden zur Panama-Pacific International Exposition, dann benutzte er dabei eine poetische Sprache, die diesem Objekt gänzlich unangemessen war.
Es ist nicht verwunderlich, dass er ähnlich wie Charles W. Stoddard mitunter sehnsüchtige Blicke zurück auf das kalifornische "Mittelalter" der Padres warf. Zum Symbol einer vermeintlich edleren und humaneren Vergangenheit wurde ihm dabei Fray Junipero Serra (1713-84), Gründer der Mission von Carmel und langjähriges Oberhaupt der Franziskaner in Kalifornien. Das Grab des für seine persönliche Bescheidenheit und seinen glühenden Fanatismus berühmten Paters in der alten Kirche von San Carlos Borromeo de Carmelo inspirierte ihn zu folgenden melancholischen Reflexionen:

'Tis midnight, and the Eagle seeks the sea,
Which, near at hand, eternally intones
Its woe immeasurable. Thro the pane
Of yonder casement giving on the south,
The moonlight holds a chill and gleaming shaft
Above the grave where Serra sleeps.
O heart! Flaming, audacious heart, so long in dust!
'Twas thy reward to die ere died thy works,
To perish, ere the Vision too was fled.
The vineyard and the orchard and the fold
Have passed, and passed as well that other Flock
Thy tenderest concern, O spirit pure!
Who, in an age of infamy and gold
Saw souls alone. The timbers of thy fane
Have men at last renewed; but where are they,
The humble, dusky thousands of thy care? 
One mould with thee! About thy place of sleep
The futile, peering pleasure-seekers come,
Glance, and forget. (9)

In Anbetracht seiner radikalen politischen Ansichten nimmt es sich vielleicht etwas merkwürdig aus, dass Sterling den Padre zu einer Art Schutzheiligen der Künstlergemeinschaft von Carmel erhob:

The shadows fall from cloud or pine
We, knowing you were great and good
Nearer than we to the divine
Would make you warden of our Wood. (10)

Doch der Widerspruch ist nicht so groß, wie man denken könnte: Sterlings eigenes Werk ist von einem quasi religiösen, jedenfalls metaphysischen Geist durchtränkt. Sein gespaltenes Verhältnis zur Wirklichkeit spiegelte sich aufs Anschaulichste in einer Ästhetik wieder, die sich stark an der Ideenlehre Platons orientiert. Objekt seiner Kunst sollte ausschließlich "die Schönheit" sein, und Schönheit war für ihn kein Begriff, der aus der Anschauung der realen Welt gewonnen wird, sondern eine transzendente Wesenheit, die sich dem Künstler in einer Art mystischem Erlebnis offenbart. Die "Schau" der Idee des Schönen ist ein Gnadenakt, nichts, was aktiv angestrebt werden könnte. Sie kommt über den Inspirierten wie das Licht von Damaskus über Saulus. In The Spirit of Beauty beschreibt Sterling, wie ihm dieses Erlebnis im Traum zuteil geworden sei:

And she spake words I knew not, but I knew
That this was she whom every poet's soul
Had found for once in vision, and had felt
Thenceforth her presence alway, that, unseen,
Still broke upon his sleep, and was by day
A hunger and a haunting and a grace,
Unutterable. (11)

Zusammen mit der Strenge der traditionellen Form erweckt dieses platonische Verständnis des Schönen den Eindruck, als sei es Sterling darum gegangen, in seiner Lyrik ein überkommenes Ideal festzuhalten, von dem er wusste, dass es keine Verankerung mehr in der gesellschaftlichen Realität besaß. Zugleich spürte er offenbar, dass der Rückzug in eine ästhetische Gegenwelt keine wirklich befriedigende Lösung sein konnte. Das drückt sich darin aus, dass er immer wieder betont, die Kunst sei nur in sehr unzulänglicher Weise in der Lage, die in der Vision geschaute Idee des Schönen wiederzugeben. Eines seiner Sonette trägt den bezeichnenden Titel The Muse of the Incommunicable und das lange Gedicht Yosemite beginnt mit den Versen: 

Beauty, whose face and mystery we seek,
Forever longing and forever foiled,—
Whose praise the voices of our art would speak,
And in whose faith all art and love have toiled,
Be gracious, where in vain,
Here at thy noblest fane,
Where silent summits lift,
I heap thine altar-stone with humble flow'rs,
The mute bestowal of my happier hours—
The hours that held thy pain,
The heart-ache of thy presence and its stress.
Be gracious to the giver and the gift,
And be thy ruth
Some aspect of thine inner loveliness
Or instant blaze
Of sunlight on the marbles of thy truth,
Where I may stand and gaze
Ere following nigh confess
How art betrays us, even in its youth,
And of thy sudden vision and its bliss
We give but broken news and songs amiss. (12)

Wenn Peter Kratzke in seinem Essay The Man Who Would Have It All behauptet, das Gedicht „[d]espite its title [...] only exploits the name of the actual valley that John Muir promoted“, so erweist er sich damit gleich in doppelter Hinsicht als Ignorant. Zum einen, weil der berühmte Cañon mit seinen Wasserfällen, Mammutbäumen und bizarren Felsformationen auch schon vor Muir (13) einen festen Platz im Repertoire der kalifornischen Dichter besaß; vor allem aber, weil Kratzke offenbar überhaupt nicht verstanden hat, dass es Sterling gar nicht wirklich um die Naturschönheiten des Yosemite ging, sondern um eine transzendente Idee des Schönen. 
Die Erhabenheit der Landschaft gab stets Anlass zu poetischen Höhenflügen. So hatte sich z.B. Yone Noguchi in den Gedichten seines Voice of the Valley, die ebenfalls vom Yosemite inspiriert wurden und doch auf den ersten Blick nur wenig mit der realen Szenerie des Cañons zu tun haben, zu einer pantheistischen Unio Mystica aufgeschwungen, die alle Gegensätze vereinigt und den ganzen Kosmos umfasst: 

The Shout of Hell wedded to the Silence of Heaven completes the Valley concert, forms the true symphony —
The Female-light kissing the breast of the the Male-shadow chants the sacred Union! [...]
I am united with the Universe, and the Universe with me. (14)
 
Sterling ging in gewisser Hinsicht noch einen Schritt weiter. Er suchte etwas jenseits des Universums. Das Panorama der Sierras diente ihm lediglich als Ausgangspunkt für einen funkelnden Wortfluss, in dem sich diese jenseitige Schönheit offenbaren sollte.
Man muss Sterlings ästhetischen Standpunkt natürlich nicht teilen, aber um seine Lyrik gerecht beurteilen zu können, ist es nötig, ihn zumindest ernstzunehmen. Und nichts ist lächerlicher als Kratzkes Vorwurf, Sterling's nature poetry drifts [..] far from a sense of either preservation or even management“ und stelle angesichts der Jagdleidenschaft des Dichters „a kind of commentary on his slaughter of wild animals“ dar. Als ob Naturlyrik irgendetwas mit Naturschutz zu tun hätte! (15)
Was nicht heißt, dass man Sterlings Gedichten unkritisch gegenübertreten sollte. Der Dichter liebte die Landschaften Kaliforniens, und doch wird man in seiner Lyrik nur ganz selten auf Passagen treffen, in denen es ihm gelungen wäre, deren Atmosphäre künstlerisch überzeugend wiederzugeben. Yosemite gehört sicher nicht zu diesen Ausnahmen. Der Grund hierfür liegt nicht unbedingt in dichterischem Unvermögen. Im Unterschied zum Bereich des menschlichen Lebens nimmt die Natur zwar einen sehr viel breiteren Raum in Sterlings Dichtung ein, doch in Wahrheit interessierte auch sie ihn eben nicht um ihrer Selbst willen. Er bediente sich unterschiedlicher Naturerscheinungen vielmehr wie ein Maler seiner Farben: zur Umsetzung eines ästhetischen Ideals. Wie er in Lineage ausführt, ist Schönheit für ihn ein Attribut, das der Natur nicht unabhängig vom Menschen zukommt:

As sound is not, except an ear apprise,
Nor light, save when recording eyes attend.
So in the mind hath beauty birth and end.
Nor station in Time's aspect otherwise.

Between thy brows are Music's farthest skies.
And from thy seats of dream her wings ascend.
No fragrance is, unless thy spirit lend.
And of thyself the morning hath its dyes.

Now blooms the mystic flower: what Hand hath sown?
Now gleam its iris-hues: what Breath hath blown?

The bubble beauty risen from thy brain.
And as a mirror evident of thee?

Gaze: let the glass distort thy dust in vain!
Behold thyself – thyself a mystery!  (16)

Wie haben wir Sterlings Sichtweise zu beurteilen? Ein Sonnenuntergang ist rot, ganz gleich, ob ihn jemand sieht oder nicht – schön wird er erst durch einen menschlichen Betrachter. Soweit hatte er natürlich ganz recht. Doch die Vorstellung der Schönheit selbst ist in einem historischen Prozess aus der Auseinandersetzung mit der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt erwachsen. Sie ist keine zeitlose, unveränderliche Idee, die – einem unsinnlichen Jenseits entsprungen – vom Menschen auf die Natur übertragen würde. Etwas dialektisches Denken hätte hier nicht schaden können. Und das ist nicht bloß ein philosophisches Problem. Sterlings Sicht der Dinge hatte unmittelbare Folgen für sein künstlerisches Schaffen. Seine Naturbilder wirken auch deshalb nicht selten starr und leblos, mitunter klischeehaft, weil sie nicht Produkt einer intensiven Beschäftigung mit der Umwelt, sondern Ausdruck eines abstrakten Schönheitsbegriffes sind.

Es war nur folgerichtig, dass Sterling die Musik offenbar für die höchste oder reinste aller Kunstformen hielt – das „bond unseen/ That God hath made between/ His silence and our need.“ (17) Während alle anderen Künste – zumindest in ihrer traditionellen Form – von der sinnlich wahrnehmbaren Realität ausgehen und bis zu einem gewissen Grad in deren Nachahmung bestehen, ist die Musik scheinbar gegenstandslos. In Sterlings Augen musste sie darum am ehesten geeignet erscheinen, die ungreifbare, transzendente Schönheit wiederzugeben.
 
Her face we have a little, but her voice
Is not of our imagining nor time,
And her deep soul is one, perchance, with life,
Immortal, cosmic. Heritage of her
Is half the human birthright. She hath part
With Love and Death in the one mystery
Of being, lifted on eternal wings
From world to world. Her home is in our hearts. (18)

Der eigenen Lyrik versuchte er deshalb den Charakter von Musik zu verleihen. Rhythmus, Maß und Klang sind gegenüber dem Inhalt von primärer Bedeutung. Damit reiht sich Sterling in die Phalanx der Symbolisten ein, auch wenn seine Dichtung natürlich nie die Intensität und Perfektion von Mallarmés poésie pure erreicht. Das bekannteste und eindrucksvollste Beispiel für Sterlings symbolistische Sprachmusik ist sein langes Poem A Wine of Wizardry, eines der ganz großen Beispiele amerikanischer Décadence-Lyrik.
Die Bedeutung eines symbolistischen Gedichtes lässt sich nicht durch eine inhaltliche Analyse ergründen, sie offenbart sich nur im Gesamteindruck des Kunstwerks. Niemand hat das schöner ausgedrückt als Stefan George:
Sie ist nach willen nicht: ist nicht für jede
Gewohne stunde: ist kein schatz der gilde.
Sie wird den vielen nie und nie durch rede
Sie wird den seltnen selten im gebilde. (19)

Es wäre darum sinnlos, wollte ich hier versuchen, den Inhalt von A Wine of Wizardry im Detail wiederzugeben. Man muss das Gedicht lesen, am besten laut. Es beschreibt den Flug der Fantasie, angeregt vom Anblick eines Sonnenuntergangs über dem Pazifik und dem Genuss eines Glases Wein. Dabei eröffnet sich uns ein Kaleidoskop phantastischer, exotischer, morbider Szenerien, bevölkert von grausigen und bizarren Gestalten. Es gibt weder einen Ruhepunkt noch eine ordnende Architektur. Um einen ungefähren Eindruck von diesem eigenartigen Werk zu vermitteln, gebe ich jene Zeilen wieder, die auch Clark Ashton Smith in seinem Nachruf auf den Freund zitiert.

Within, lurk orbs that graven monsters clasp;
Red-embered rubies smolder in the gloom,
Betrayed by lamps that nurse a sullen flame,
And livid roots writhe in the marble's grasp,
As moaning airs invoke the conquered rust
Of lordly helms made equal in the dust.
Without, where baleful cypresses make rich
The bleeding sun's phantasmagoric gules,
Are fungus-tapers of the twilight witch
(Seen by the bat above unfathomed pools)
And tiger-lilies known to silent ghouls,
Whose king hath digged a somber carcanet
And necklaces with fevered opals set. (20)

Dieses Gedicht war es gewesen, das den vierzehnjährigen Smith zu einem Bewunderer Sterlings gemacht und wie kaum ein anderes Werk in seinem Entschluss bestärkt hatte, selbst ein Dichter zu werden. Sein Einfluss war stark und lang anhaltend. Clark Ashtons längstes und vielleicht bekanntestes Gedicht The Hashish-Eater wäre ohne sein Vorbild nicht denkbar. Auch deshalb verdient es unser besonderes Interesse.

Nach seinem Erscheinen 1907 rief A Wine of Wizardry heftige Kontroversen in den amerikanischen Feuilletons hervor. Ambrose Bierce sprach von einem "Bauernaufstand" des nationalen Spießertums. Er hatte das Gedicht im Cosmopolitan veröffentlicht und mit einer Einleitung versehen, in der er Sterling als „incomparably the greatest [poet] that we have on this side of the Atlantic“ bezeichnete. (21) Man darf annehmen, dass er sein Urteil absichtlich so überspitzt formulierte, um besonders heftige Reaktionen zu provozieren. Und er wurde nicht enttäuscht. In Scharen fielen Kritiker aus ganz Amerika über Sterling her. Die bekannte Dichterin Ella Wheeler Wilcox verfasste in kürzester Zeit eine bösartige Parodie auf A Wine of Wizardry, im San Francisco Examiner war zu lesen, dass „five lines from [the poem] would drive a man to beat a cripple, and ten lines would send him to the bottom of the river“, und Kritiker Porter Garnett verglich es mit „the hammering of a tattoo on a sweet-toned bell." (22) Selbst Sterlings Freundinnen Ina Coolbrith und Gertrude Atherton taten sich schwer damit, den Wert des Werkes anzuerkennen. Am häufigsten war der Vorwurf zu hören, dem Gedicht fehle „a message to humanity“, wie es Brian Hooker im Bookman formulierte. (23)
Das Morbide vieler Szenen war den literarischen Sittenwächtern natürlich vor allem ein Dorn im Auge, und die Zeilen „The blue-eyed vampire, sated at her feast,/ Smiles bloodily against the leprous moon“ erlangten schon bald zweifelhafte Berühmtheit. Für die Streiter des ‘guten Geschmacks’ und der christlichen Moral verkörperten sie die ganze Perversität der Décadence. Die San Franciscoer Bohème kommentierte das auf ihre Weise: Das Verspaar zierte wenig später die Wand von Coppa’s Restaurant, einem der ältesten und beliebtesten Treffpunkte der munteren Gemeinde.
Ebenso oft wurde Sterlings Sprachstil, seine Vorliebe für wenig gebräuchliche Worte und archaische Formulierungen, beanstandet. Dies traf direkt einen der Kernpunkte seiner Ästhetik. Er selbst erklärte dazu: „Poetry must abjure every literal and familiar element, accumulate as many images of strange loveliness, and cherish all the past embodiments of visionary beauty, such as the beings of classical mythology.“ (24) Ohne Zweifel besteht bei der Bevorzugung möglichst auserlesener und seltener Worte, wie sie von Sterling praktiziert wurde, stets die Gefahr, ins Pompöse und Lächerliche abzugleiten. Richtig gehandhabt und in Verbindung mit einem feinen Gespür für die musikalischen Qualitäten der Sprache, lassen sich damit jedoch erstaunliche Effekte erzielen. A Wine of Wizardry wirkt wie ein prunkvolles Geschmeide, übersät mit funkelnden Juwelen und getaucht in das blutige Rot der untergehenden Sonne und des dunklen Weins. Zugleich übt das Gedicht eine soghafte Wirkung auf den Leser aus, der man sich nur schwer entziehen kann. Obwohl völlig handlungsfrei, enthält es keine Ruhepunkte, gleicht einem ständigen Strömen der Sprache. Edwin Markham bemängelte, „Mr. Sterling gives us the words, the images and the free lines; but they are not fused into a living whole. In every literary creation there must be a central figure with something that corresponds to a woven plot followed by a consistent crisis. There must be dramatic movement.“ (25) Eben diesem Verständnis von Poesie verweigert sich das Gedicht ganz bewusst. Es erzählt keine Handlung, sondern beschwört eine Stimmung herauf. Dementsprechend besitzt es keinen dramatischen Aufbau, keine sukzessive Steigerung, keine Krise. Im Grunde ist es darauf angelegt, ewig weiterzuströmen. Darin ähnelt es nicht zufällig Richard Wagners "unendlicher Melodie". Wir müssen uns ihm hingeben, um es genießen zu können. Vor allem dürfen wir nicht nach einer "Aussage" oder "zentralen Idee" suchen. Ambrose Bierce hatte völlig recht, als er schrieb: The verses serve no cause, tell no story, point no moral. Their author has no ‘purpose, end, or care’ other than the writing of poetry. His work is as devoid of motive as is the song of a skylark it is merely poetry.“ (26) A Wine of Wizardry ist l’art pour l’art in Reinform. In ihm kam Sterling seinem Ziel, die unaussprechliche Idee des Schönen in der Musik der Sprache zum Ausdruck zu bringen, vielleicht am nächsten. Soweit man einem falsch gestellten Ziel eben nahe kommen kann. Clark Ashton Smith schrieb über das Gedicht seines Mentors: „Few things in literature are more serviceable as a test for determining whether people feel the verbal magic of poetry - or whether they merely comprehend and admire the thought, or philosophic content.“ (27) Das mag übertrieben sein, enthält aber einen wahren Kern. A Wine of Wizardry wird nur der zu schätzen wissen, der anerkennt, dass die poetische Sprache unabhängig von irgend-einem Inhalt einen eigenständigen Wert besitzt.

Andererseits habe ich den Vergleich zu Wagner natürlich nicht ohne Grund angestellt. Nietzsche schrieb in seiner Polemik gegen den von ihm einst so verehrten Komponisten: „Die Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark, aber undeutlich, ‘unendliche Melodie’ genannt wird, kann man sich dadurch klar machen, dass man in’s Meer geht, allmählich den sicheren Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem Elemente auf Gnade und Ungnade übergiebt: man soll schwimmen.“ (28)
Ähnliches gilt auch für Sterlings Sprachmusik. Sie ist darauf ausgerichtet, eine berauschende Wirkung zu erzielen. Der Leser – oder eigentlich Hörer – soll sich in ihr verlieren. Und wie alle Rauschmittel dient auch sie letztenendes dazu, eine unangenehme Wirklichkeit vergessen zu machen.

Fortsetzung folgt ...

(1) David E. Schultz & S.T. Joshi (Hg.): The Shadow of the Unattained. S. 7.
(2) George Sterling: Dedication to Ambrose Bierce. In: Ders.: The Testimony of the Suns and Other Poems. S. 7ff.
(3)  GS an Upton Sinclair (7.6.1924). Zit. nach: Peter Kratzke: The Man Who Would Have It All: GeorgeSterling and the American Dream.
(4)  G. W. Plechanow: Die Kunst und das gesellschaftliche Leben. In: Ders.: Kunst und Literatur. S. 237.
(5) George Sterling: The Echo and the Quest. In: Ders.: The House of Orchids and Other Poems. S. 94.
(6) Charmian Kittredge London: GeorgeSterling - As I Knew Him.
(7) Zit. nach: Amelia R. Fry: Sara Bard Field – Poet and Suffragist. S. 442.
(8) GS an CAS (21.12.1911). In: David E. Schultz & S.T. Joshi (Hg.): The Shadow of the Unattained. S. 34.
(9) George Sterling: At the Tomb of Serra. In: Ders.: The House of Orchids and Other Poems. S. 110f.
(10) George Sterling: Serra Poem.
(11) George Sterling: The Spirit of Beauty. In: Ders.: The Testimony of the Suns and Other Poems. S. 111.
(12) George Sterling: Yosemite.
(13) Der Naturforscher, Schriftsteller und frühe Umweltschutzaktivist hatte mit zahlreichen Büchern, Essays und Zeitschriftenartikeln das Interesse der breiten Öffentlichkeit für die bedrohten Naturschönheiten der Sierras geweckt und so entscheidend zur Gründung des Yosemite- und des Sequoia-Nationalparks (1899) beigetragen.
(14) Yone Noguchi: Song of Day in Yosemite Valley. In: Ders.: Voice of the Valley. S. 16; 18.
(15) Peter Kratzke: The Man WhoWould Have It All: George Sterling and the American Dream.  Nebenbei bemerkt besaß der echte Sterling sehr wohl ein Herz für Tiere. Gobind Behari Lal erinnert sich, von ihm einen Artikel „on cruelty to animals“ erhalten zu haben, der leider verloren gegangen ist: „He had a very severe aversion to that, any kind of cruelty. As a matter of fact, his argument I never forgot: he said, we sentient creatures can talk, but they're dumb, they're helpless. And what a cowardly thing it is to inflict unkindness to somebody who can't defend himself. What a beautiful article, dear, I can't tell you.“ (Zit. nach: Suzanne B. Riess: Gobind Behari Lal. A Journalist From India, At Home In The World. S. 108.)
(16) George Sterling: Lineage. In: Ders.: Beyond the Breakers and Other Poems. S. 108.
(17) George Sterling: Mediatrix. In: Ders.: The Caged Eagle and Other Poems. S. 28.
(18) George Sterling: Music. In: Ders.: The Testimony of the Suns and Other Poems. S. 85.
(19) Stefan George: Der Teppich. In: Ders.: Der Teppich des Lebens und Die Lieder von Traum und Tod. S. 42.
(20) George Sterling: A Wine of Wizardry. In: Ders.: A Wine of Wizardry and Other Poems. S. 13. 
(21) Ambrose Bierce: A Poet and his Poem. In: The Collected Works. Bd. 10. S. 181.
(23) Zit. nach: Michael Cisco: BiographicalSketch.
(24) Zit. nach: Horace Gregory & Marya Zaturenska: A History of American Poetry. 1900-1940. S. 56.
(25) Edwin Markham: California the Wonderful. S. 357f.
(26) Ambrose Bierce: A Poet and his Poem. In: The Collected Works. Bd. 10. S. 180.
(27) Clark Ashton Smith: George Sterling - An Appreciation. In: David E. Schultz & S.T. Joshi (Hg.): The Shadow of the Unattained. S. 296.
(28) Friedrich Nietzsche: Nietzsche contra Wagner. In: Ders.: Der Fall Wagner [u.a.]. KSA 6. S. 421f.

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