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Samstag, 29. November 2014

Strandgut der Woche

Montag, 24. November 2014

"Blood and Souls for my Lord Arioch !"




Schriftsteller, die sich zugleich als Kritiker betätigen wollen, sollten stets gut darauf achtgeben, dabei nicht eines Tages eine Formulierung zu verwenden, die sich ganz ausgezeichnet auch auf Teile ihres eigenen Werkes anwenden ließe.
Dem guten Michael Moorcock ist mindestens einmal genau solch ein peinlicher Faux-pas unterlaufen. In seinem nicht ganz unbekannten Essay Starship Stormtroopers von 1977 schreibt er über H.P. Lovecraft, dieser sei unfähig "to describe his horrors (leaving us to do the work - the secret of his success - we're all better writers than he is!)". 
Moorcocks meiner Meinung nach sehr undifferenzierte Sicht auf den alten Gentleman von Providence soll jetzt nicht das Thema sein. Ich finde es nur äußerst amüsant, dass mir ein ganz ähnlicher Gedanke einmal in Bezug auf Moorcocks eigenen Elric von Melniboné gekommen ist. 

Der Albino mit der seelentrinkenden Höllenklinge "Stormbringer" ist ohne Frage eine der großen Ikonen der Fantasyliteratur. Und ich würde sagen, dass er diesen Status verdientermaßen innehat. Doch ironischerweise scheint mir dafür weniger Moorcocks erzählerisches Talent verantwortlich zu sein. Eine nun bereits gut anderthalb Jahre zurückliegende erneute Lektüre der sechs klassischen Elric - Romane in Form des in den 80er Jahren von Heyne herausgegebenen Sammelbandes Elric von Melniboné – Die Sage vom Ende der Zeit ließ mich jedenfalls nicht unbedingt begeistert zurück. Und die vielleicht nicht eben perfekte Übersetzung von Thomas Schlück war ganz sicher nicht der einzige Grund dafür.
Die Details habe ich natürlich nicht mehr so richtig im Kopf. Darum werde ich hier bloß mehr oder weniger das wiederholen, was ich seinerzeit im Forum der Bibliotheka Phantastika geschrieben habe: Kurz gesagt, Elric scheint mir als Konzept sehr viel interessanter, denn als Charakter. Obwohl Moorcock dies inzwischen zu leugnen scheint, ist der Albino doch zweifelsohne als Gegenentwurf zu Robert E. Howards Conan entwickelt worden. Und auch wenn das heute sicher nicht mehr so revolutionär wirkt, wie in den 60er Jahren, als die ersten Elric-Stories erschienen,  ist es doch immer noch reizvoll mit anzusehen, wie die Ideen von "Two Gun" Bob auf den Kopf gestellt werden. Auf der einen Seite haben wir Conan als den "gesunden" Barbaren, der am Ende den Thron eines "zivilisierten" Königreichs besteigt und dieses vor dem Untergang bewahrt, auf der anderen Elric als letzten Spross einer dekadenten Herrscherdynastie, der eigenhändig die Vernichtung seines Reiches herbeiführt. Und der Umstand, dass er dank "Stormbringer" seine Stärke und Lebenskraft im wahrsten Sinne des Wortes dem Töten von Menschen verdankt, macht ihn auch nach dem Fall von Melniboné zu einem faszinierenden "Kommentar" auf den klassischen Sword & Sorcery - Helden. Leider jedoch wird er dabei nur selten zu einer wirklich lebendigen Figur. Am beeindruckendsten fand ich diesem Zusammenhang die Szenen, in denen Elric dank seiner Klinge zum blutgierigen Schlächter mutiert. Eher weniger überzeugend hingegen wirkten auf mich die Szenen, in denen er ihm nahestehende Menschen tötet. Und hätten nicht gerade sie den stärksten Eindruck hinterlassen müssen? Oh ja, Moorcock erzählt uns immer wieder, dass Elric von Schuldgefühlen gequält wird und „Stormbringer" hasst, aber er lässt seine Leser & Leserinnen nicht wirklich an diesen Emotionen teilhaben.

Michael Moorcock galt in den 60er und 70er Jahren zurecht als ein geradezu legendärer Schnellschreiber, der schon mal einen mehrere hundert Seiten umfassenden Roman in ein-zwei Wochen runtertippen konnte. Das bekannteste Beispiel dafür war -- wenn ich mich recht entsinne -- der Hawkmoon / Runestaff - Zyklus.
Ich erwähne diese Anekdote nicht, weil ich Moorcock zum "Pulp-hack" abstempeln will. In gewisser Hinsicht war diese Arbeitsweise notwendig, wenn er als SFF-Schriftsteller in jenen Tagen überleben wollte.

Mehr als einmal bin ich in letzter Zeit über die Behauptung gestolpert, die "alte" SFF sei die Domäne weißer Männer aus der Mittelklasse gewesen. Was Geschlecht und Hautfarbe angeht, dürfte das mehr oder weniger stimmen. Auch wenn man nicht vergessen sollte, dass es bereits in in den Anfangstagen des Genres durchaus einige bedeutende Autorinnen gegeben hat -- und das sowohl in der Welt der "Pulps" (C.L. Moore; Leigh Brackett) als auch in der der "literarischen" SFF (Hope Mirrlees, Naomi Mitchison, Evangeline Walton). In Bezug auf die Klassenzugehörigkeit jedoch erscheint mir diese Behauptung sehr fragwürdig. Auch wenn ich dafür keine "harten" Beweise habe, ist mein Eindruck eher der, dass es gerade in letzter Zeit zu einer zunehmenden "Gentrifikation" des Genres gekommen ist. Moorcock und seine "New Wave" - Kumpels jedenfalls gehörten in ihrer Mehrheit nicht der "Mittelklasse" an. Vorausgesetzt man assoziiert diesen Begriff mit einem noch so bescheidenen Wohlstand. Sie waren echte Bohèmiens, die von der Hand in den Mund lebten. Ein vor einigen Jahren in Fantastic Metropolis veröffentlichtes Gespräch zwischen Moorcock und Barrington Bayley, das zur Zeit leider nicht mehr im Netz abrufbar ist, vermittelt einen ganz guten Eindruck davon: 
Michael Moorcock: We came up with “Duel” around 1961 didn’t we, while I was staying with you at the House of Usher. The whole place would shake when even a motorbike went by outside and the landlord’s name actually was Usher. I was in a sleeping bag on your floor. I used to open my eyes slowly in the morning so as not to disturb the mice who had gathered around to stare at me. I felt a bit like Gulliver. I think it was you who discovered we could get maximum protein for the least money by buying bacon scraps from the local butcher.[...]
Barrington Bayley: Those mice, of which the house had droves, were very canny. One hint of human movement and they were off through their holes with unbelievable speed. They could also leap from the floor on to the table top (either that or they could walk up vertical surfaces and along the undersides of horizontal ones). Yes, I recall that getting something to eat was occasionally a problem in those days. Later I became adept at living on 10 shillings (50p) a week, and that included paraffin for the heater (as well as a big heap of bacon scraps). One day, in the same house, we had invited Pete Taylor to “dinner”. I was quite perturbed when you impressed on me, in some anxiety, that Pete would actually expect to be fed. Somehow we found enough money to buy some potatoes and something to go with them. On another occasion we gathered together all edible resources for something to eat that day. I can’t remember what I ate, but you ate a bowl of cocoa powder mixed with sugar. This was a familiar repast for me; I’d once lived on it for three days. [...]
Es ist denke ich nicht ganz unverständlich, warum Moorcock seinen frühen Stories und Romanen nicht die Sorgfalt angedeihen ließ, die man sich wünschen würde. Und dies mag auch auf Elric zutreffen. 

An den Schwächen der Romane ändert das natürlich nichts. 

Dennoch ist -- wie ich bereits gesagt habe -- der Albino mit dem schwarzen Schwert eine echte Ikone der Fantasy. Doch ist er zu einer solchen vielleicht weniger aufgrund der literarischen Leistungen seines Schöpfers als vielmehr durch die Imaginationskraft der Leser & Leserinnen geworden. -- "We're all better writers than he is". --  Sie haben das {zugegeben interessante} Konzept mit Leben erfüllt.
Und nicht nur das: Nicht wenige von ihnen bemächtigten sich der Figur und machten sie zum Objekt ihrer eigenen Kunst, vor allem in Form von Zeichnungen, Gemälden, Comics und Musik. 

Das vielleicht berühmteste Beispiel dafür dürften die Songs der großartigen britischen Space Rock - Band Hawkwind sein, die bereits in den 70er Jahren begonnen hatte, mit Moorcock zusammenzuarbeiten, und 1985 das Elric-Album The Chronicle of the Black Sword herausbrachte. {In den Genuss einer Live-Version gelangt man  hier & hier.}


Samstag, 22. November 2014

Strandgut der Woche

Freitag, 21. November 2014

So mag ich meinen Steampunk





In the court of Augustine The Twelfth
The king reprimanded his men
And demanded they
Put to good use all his wealth to cure his deep ennui

For you see, he found that he was sad and lonely
Ever since his wife, the queen, got mad and
Rode off on his steed

In a glen beyond the castle wall
There was a tinker
And he was a thinker
The smartest man in all the world
He made a mechanical girl

For you see, his daughter passed away that summer
And though he knew he could not replace her
He missed his family

Suddenly a knock at the door went ra-ta-ta-ta-ta
And the kingsmen came in blowing horns ba-ba-ba-ba-ba-ba
"By order of His Highness
We're to take you and that...thing
To present your marvel to the king."

And so, over glen and through the castle walls
Over the moat, and into the great castle hall
When her master urged,
The robot girl emerged

When the king laid eyes upon the girl
He was delighted
His men all were knighted
He yelled aloud for all the world
"I'll take her for my queen!"

And the man screamed
"Please don't take my child!
I beg you, mighty king!"
And they grabbed him by his tailcoat
And threw him in the moat

Later in their wedding bed
The king was shocked to see
A tender kiss upon the cheek
Unleashed an armory
Rocket launchers and flamethrowing guns
Grew from her sides
And she grew to seven times her size

Run!

On the morn of August twenty-fourth
He was dejected when lest he expected
A knock was heard upon the door
It was his robot girl

For you see, he'd made her indestructible
It seems and she destroyed that awful kingdom
And they lived happily

So you see, the moral of the story is:
Never take a child away from a loving parent
Especially not ones who make children who shoot rockets from their eyes



Ich liebe ja beinahe alles, was ich von Aurelio Voltaire kenne, aber dieses Lied gehört zu meinen besonderen Favoriten, und ein Grund dafür ist die Vermischung von Steampunk- und Märchenelementen: Die Coolness des Robotermädchens ohne den problematischen Hintergrund eines pseudoviktorianischen Englands.

Donnerstag, 20. November 2014

Statt eines Nachrufs

Gestern verstarb im Alter von dreiundachtzig Jahren Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Mike Nichols. Ein Künster von seinem Format hätte einen ausführlichen Nachruf verdient, der sich auf faire, aber kritische Weise mit seinem fünf Jahrzehnte umspannenden Oeuvre auseinandersetzen würde. Ich bin nicht die Person, die einen solchen Nachruf verfassen könnte. Dennoch fühle ich mich dazu getrieben, ein zwei Gedanken niederzuschreiben, die mir bei der Nachricht von Nichols' Tod gekommen sind. 

In Anbetracht des tragischen Anlasses mag das schlechter Stil sein, aber was mir als erstes durch den Kopf schoss, als ich mir den Werdegang des Regisseurs noch einmal vergegenwärtigte, war folgendes: Schaut man auf den Anfang und das Ende seiner Filmkarriere, dann bekommt man auf krasse Weise vor Augen geführt, was über die Jahrzehnte aus Amerikas liberaler Intelligenzija geworden ist. Und es ist kein schöner Anblick.

Der große Filmkritiker Andrew Sarris schrieb 1969 über Nichols, der drei Jahre zuvor mit Who's Afraid of Virginia Woolf? sein triumphales Kinodebüt gefeiert hatte:
The suspicion persisted in shamefully skeptical circles that Nichols was more a tactician than a strategist and that he won every battle and lost every war because he was incapable of the divine folly of a personal statement. No American director since Orson Welles had started off with such a bang, but Welles had followed his own road, and that made all the difference. Nichols seems too shrewd ever to get off the man highway. His is the cinema and theatre of complicity. And the customer is always right except in the long view of eternity.*
Ich weiß nicht, wie Sarris die spätere Entwickung des Regisseurs beurteilt hat, aber diese frühe Einschätzung scheint mir eine tiefe Wahrheit zu enthalten. Mike Nichols war ohne Zweifel ein talentierter und in bestimmten Grenzen sehr sensibler Filmemacher, doch von Anfang an schreckte er davor zurück, Positionen zu beziehen, die ihn in Gegensatz zu dem liberalen Milieu gebracht hätten, dem er selbst entstammte und das sein Publikum bildete. Wohl gemerkt, ich will Nichols nicht der Feigheit oder des bewussten Opportunismus bezichtigen. Am ehesten ließe sich das, was ich meine, vielleicht als intelektuelle Passivität beschreiben. 
In vielen seiner Filme erweist er sich deshalb als eine Art Sprachrohr der intelektuellen Mittelklasse, deren Gedanken und Befindlichkeiten er künstlerisch umsetzt, ohne sie je kritisch zu analysieren oder zu hinterfragen, weshalb diese Werke oft einen etwas oberflächlichen Eindruck hinterlassen. Blickt man auf sein Oeuvre, so blickt man zugleich auf die Entwicklungsgeschichte eines ganzen sozialen Milieus. Aus diesem Grund erscheint es mir ungemein symptomatisch, auf welcher Note dieses Oeuvre ausklingt.

Mike Nichols' dritter Kinofilm nach Virginia Woolf (1966) und The Graduate (1967) war die Adaption von Catch-22 -- Joseph Hellers genialer, ungemein witziger, böser und intelligenter Satire auf Militarismus und Kapitalismus. 
Sein letzter Kinofilm war Charlie Wilson's War -- ein ignorantes Stück Geschlichtsklitterung, das auf die Verherrlichung der CIA-Operationen zur Unterstützung, Bewaffnung, Ausbildung und Finanzierung der afghanischen Mudschaheddin in den 80er Jahren hinausläuft. Filmkritikerin Joanne Laurier schrieb seinerzeit völlig zurecht über diesen Streifen:
[Nichols'] latest film, saturated with ferocious anti-communism, is a defense of neo-colonialism and the right of American “democracy” to intervene wherever it likes around the globe. Its relatively minor amusements are like chocolate icing on a poisoned cake.
Die Tatsache, dass Charlie Wilson's War bei den allermeisten Kritikern eine begeisterte Aufnahme fand, deutet darauf hin, dass Nichols auch in seinem letzten Werk sehr genau die vorherrschende Stimmung in Amerikas intelektueller Mittelklasse zum Ausdruck brachte. Und damit sprach er ohne es zu wollen ein vernichtendes Urteil über selbige aus.
  

* Andrew Sarris: The American Cinema. Directors and Directions 1929-1968. S. 218.

Mittwoch, 19. November 2014

Der Décadent der Fantasy (1)

Es liegt nun schon ein paar Jahre zurück. da packte mich der verrückte Ehrgeiz, ein Buch über Leben und Werk von Clark Ashton Smith zu schreiben. Hauptantrieb dabei war natürlich meine große Liebe für das vielgestaltige Schaffen dieses exzentrischen Dichters, Autors, Bildhauers und Malers. Daneben schien es mir aber auch etwas unfair, dass Klarkash-Ton nie die Bekanntheit erlangt hat, die ihm meiner Meinung nach zustehen würde. Insbesondere, wenn man zum Vergleich H.P. Lovecraft und Robert E. Howard heranzieht, die anderen beiden Mitglieder des legendären Triumvirats der Weird Tales.
Ereignisse in meinem Leben, deren Natur jetzt nichts zur Sache tut, führten schließlich dazu, dass ich mein Projekt abbrach. Ob ich die Arbeit jemals fortsetzen werde, steht in den Sternen geschrieben, zumal mir inzwischen sehr deutlich bewusst geworden ist, dass eine echte "Biographie" sehr viel intensivere und professionellere Recherche erfordern würde. Aber im Grunde war das Buch auch nie wirklich als "Biographie" konzipiert gewesen, sondern vielmehr als eine überlange Studie, die Smith und sein Oeuvre in ihren gesellschaftlichen und literaturhistorischen Kontext einbetten sollte.
Würde ich mich noch einmal ernsthaft an diese Arbeit setzen, dann würden ganz sicher auch deren erste Kapitel, die ich in den folgenden Monaten hier zu veröffentlichen gedenke, einer erneuten Bearbeitung unterzogen. Das möge die Leserin oder der Leser bitte stets im Hinterkopf behalten.  

Fritz Leiber, der ein großer Bewunderer von Clark Ashton Smiths Werk war, sich Zeit seines Lebens bemühte, dessen Andenken wach zu halten, und ihm schließlich mit Our Lady of Darkness ein phantastisches literarisches Denkmal setzte, nannte ihn einmal "sui generis, one of the most uninfluenced and original writers I know of". In gewisser Hinsicht trifft dies ganz ohne Zweifel zu. In anderer Hinsicht allerdings auch wieder nicht.
Neben all den Pulpautoren, mit denen er sich in den 30er Jahren die Seiten von Weird Tales oder Astounding Stories teilte, wirkt Smith schon aufgrund seiner komplizierten Sprache und seines eigenwilligen Stils in der Tat wie ein exotischer Sonderling. Dennoch war Klarkash-Ton kein Exilant aus dem versunkenen Atlantis, sondern das Produkt eines ganz bestimmten historischen und kulturellen Milieus. Seine spätere Außenseiterstellung kann man meiner Ansicht nach eigentlich nur dann richtig verstehen, wenn man sich mit seinen Wurzeln und der Tradition, in der er stand, auseinandersetzt. Aus dieser Perspektive wurde das Folgende geschrieben.




Und ich sah und hörte: Ein Adler flog hoch am
Himmel und rief mit lauter Stimme:
Wehe! Wehe! Wehe den Bewohnern der Erde!
Offenbarung des Johannes 8, 13 

Heaven is a prophecy uttered by the lips of despair,
but Hell is an inference from analogy.
Ambrose Bierce, Natura Benigna 

Zwei schöne Dinge gibt es auf der Welt:
Die Liebe und den Tod.
Giacomo Leopardi, Consalvo  

Oh, der nächtlichen Stunde vertraut nicht,
Die von arger Schönheit erfüllt!
Wo die Menschen dem Tode nah sind,
Nur aus Blüten noch Leben quillt.
Sinaida Hippius, Blüten der Nacht

Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.
Friedrich Nietzsche

Tancred:
And though the Last Wind drive along the world
The foam of granite and the dust of seas,
The dust in Man hath lived and loved.

Lilith:
And cried
In agony! Ah, miserable Life,
Lured by a hundred lusts and dogged by sad
Satiety! Blind pilgrim of the years,
With Pain for shadow! Turn thee from the sun
And rest! How very quickly art thou gone,
Smoke of the moth's burnt wing!

Tancred:
Yet was it wing,
And better that than nothing.
George Sterling, Lilith



Clark Ashton Smith erblickte an einem Freitag dem Dreizehnten im Januar des Jahres 1893 in Long Valley, Placer County (Kalifornien) das Licht der Welt. Und wie er selbst später einmal halb scherzhaft bemerkte, stand seine Geburt außerdem noch „under the influence of the planet Saturn“ – des kosmischen Herrn der Melancholie also: „A rather ominous combination, dont’ you think?“ (1)
Vater Timeus Ashton Smith stammte aus England und hatte ein Großteil seines einst recht üppigen Erbes mit Reisen in fremde Länder und beim Glücksspiel durchgebracht. Ob sein Sohn von ihm die Sehnsucht nach fernen und exotischen Gefilden erbte? Wer weiß, jedenfalls wird der junge Clark Ashton so manches Mal den Geschichten seines Vaters über dessen Abenteuer am Amazonas, in Australien oder Macao gelauscht haben.
Timeus’ unstetes Wanderleben hatte in den späten 1880er Jahre sein Ende gefunden, als er sich in Placer County niederließ. Ein Grund für die Ortswahl war möglicherweise die englische Kolonie im benachbarten Penryn, deren wohlhabende Oberschicht so ‘"britisch" war, dass sie sich sogar mit dem aristokratischen und in Amerika sicher höchst exotischen "Sport" der Fuchsjagd vergnügte. Nun besaß Timeus zwar die Manieren eines Gentleman, aber nicht länger den dazugehörigen Geldbeutel, und so arbeitete er als Nachtportier im Freeman Hotel von Long Valley, statt den bemitleidenswerten Meister Reinecke auf Pferderücken zu Tode zu hetzen. Dabei lernte er Mary Frances "Fanny" Gaylord kennen, deren Familie in der Nähe eine Farm besaß. 1891 heirateten die beiden und zwei Jahre später kam ihr erstes und einziges Kind zur Welt.
Clark Ashton wuchs auf der Farm seines Großvaters Hiram auf. Obwohl er nie die Obsession seines Freundes Lovecraft für Blutlinien und Genealogien teilte, erzählte er später doch gerne davon, dass die Familie seiner Mutter „claims descent from an armigerous [wappentragenden] Norman house dating back to the Crusades“. (2) Noch wichtiger allerdings scheint ihm die hugenottische Herkunft der Gaylords gewesen zu sein: 
[T]he family [...] has been in America since 1630. They were descendants of Huguenot refugees driven out of France at the time of the revocation of the Edict of Nantes – the name was Gaillard originally. Oddly enough, some of my father’s people, the Ashtons, were English Catholics! The mixture should make for non-conformity. (3)
Tatsächlich herrschte im elterlichen Haushalt ein toleranter Geist. Jedenfalls ist es später nie zu einem Konflikt über den unorthodoxen Lebenswandel des Sohnes gekommen, der ernsthaft genug gewesen wäre, um einen Bruch befürchten zu lassen.
1902 hatte Timeus endlich genug Geld zusammengespart, um ein knapp 18 ha großes Stück Waldland auf der Anhöhe des Boulder Ridge, eines erstarrten Lavaflusses über dem American River bei Auburn zu erwerben. Ein Brunnen wurde ausgehoben, ein Haus gebaut und 1907 konnte die dreiköpfige Familie endlich ihr eigenes Heim beziehen. Bis 1954 sollte dieser Flecken Erde und das eher primtive Häuschen Clark Ashtons Zuhause bleiben, das er nur selten verließ. Hier würden die meisten seiner Gedichte und Geschichten, seiner Zeichnungen und Skulpturen entstehen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts präsentierte sich Auburn als Kleinstadt mit ungefähr zweitausend Einwohnern. Gegründet worden war die Siedlung 1849, zur Zeit des großen Goldrauschs, nachdem der junge Franzose Claude Chana in der benachbarten Klamm die ersten Nuggets gefunden hatte. Schon bald war der Ort zu einem wichtigen Handelsplatz geworden, von dem aus Pfade zu den zahlreichen Camps in den Hügeln der Umgebung führten. Ein letzter Nachklang dieser Tage war auch in Clark Ashtons Jugendzeit noch zu spüren. Sein Großvater Hiram und sein Onkel Ed versuchten auf dem Gelände der Gaylord-Farm vergeblich nach Gold zu schürfen, wobei ihnen der junge Clark Ashton zur Hand ging. Und auch in der Nähe des Hauses auf dem Boulder Ridge existierte ein alter Minenschacht, der freilich von den Smiths geflutet und als eine Art natürlicher Kühlschrank für leicht verderbliche Lebensmittel genutzt wurde. Verlassene Stollen und Gruben fanden sich überall im Hügelland zu Füßen der Sierra Nevada – Relikte einer längst romantisch verklärten Gründerära. In einer autobiographischenSkizze bemerkt Clark Ashton dazu: „Much of my childhood was spent in the neighborhood of an alleged gold mine; which may be reason why the romance of California gold mining failed to get under my skin.
Während z.B. Robert E. Howards Fantasygeschichten in hohem Maße dem texanischen Frontier-Mythos verpflichtet sind, spielt dessen kalifornisches Gegenstück für Smiths literarisches Werk tatsächlich kaum eine Rolle. Selbst die unheimlichen Geschichten aus der Goldgräberzeit scheinen ihn kaum je inspiriert zu haben. Dabei war der entsprechende Fundus sehr reichhaltig. Der Herausgeber einer seiner frühen Stories (The Haunted Gong) schreibt darüber: „The hills of Auburn, where Clark grew up, were filled with ghostly mining lore. As recently as my own childhood, I heard stories of ghost miners, and strange sounds around jumped claims, and so on.“ Schon Charles M. Skinners klassische Sammlung amerikanischer Folklore Myths and Legends of Our Land von 1896 enthält unter dem Titel The Spook of Misery Hill die Geschichte eines kalifornischen Goldgräbers, der seinen Claim noch über das Grab hinaus mit aller Gewalt verteidigt. Solche Stories waren Legion, und natürlich besaß die Bezeichnung "ghost town" schon zu Clark Ashtons Zeiten einen mehrdeutigen Klang. Auch galten viele Minen als Heimstatt der Tommyknockers, ursprünglich der walisischen Fantasie entsprungener Kreaturen, die hin und wieder durch ihr dumpfes Klopfen auf sich aufmerksam machen, mal, um die Bergleute auf hinterhältige Weise in eine Falle zu locken, mal, um sie vor drohenden Gefahren zu warnen oder auf besonders reiche Goldvorkommen hinzuweisen.
Smith vermied wahrscheinlich ganz bewusst jede Bezugnahme auf diese Traditionen, und im Verlaufe unserer Betrachtungen werden wir sehen, warum das so war. Die einzige Ausnahme bildet die nie vollendete Story The House of Haon-Dor. Diese ist tatsächlich in der Nachbarschaft einer alten Mine bei Cougar Hollow angesiedelt und spielt auch ein wenig mit den lokalen Überlieferungen. Doch die Inspiration dazu hatte Smith bezeichnenderweise nicht aus den alten Goldgräberlegenden bezogen, sondern von seinen Freunden Margaret und Ray St. Clair, die ihm von einer Hütte in der Küstenstadt Oceanside berichtet hatten, von der es hieß, sie sei der Unterschlupf von Schwarzmagiern und der Vorraum zu einem (unsichtbaren) höllischen Gebäude. (4)
Dennoch wollen wir unsere Erzählung mit dem großen Goldrausch beginnen lassen. Denn auch wenn die Tage der Glücksritter und Argonauten (5) längst vergangen waren, hatten sie doch bleibende Spuren nicht nur in der Landschaft, sondern auch in der Mentalität und Kultur Kaliforniens hinterlassen. Wer den Sonnenstaat verstehen will, muss sich mit ihnen beschäftigen.


Kapitel 1: Das Erbe der Argonauten
 
Als James W. Marshall am 24. Januar 1848 bei Sutter’s Mill in der Nähe von Sacramento die ersten Nuggets entdeckte, setzte er eine Entwicklung in Gang, die zur Geburt des modernen Kalifornien führte. Was davor lag war sozusagen Mittelalter: Die Herrschaft der Spanier und Mexikaner, die Ära der franziskanischen Missionen, der Halbfeudalismus der großen Rancheros mit ihren Peones. Der Mexikanisch-Amerikanische Krieg von 1846-48 hatte zum Anschluss Kaliforniens an die Vereinigten Staaten geführt, und ein Zufall der Geschichte wollte es, dass dieses Ereignis mit dem Beginn des Goldrauschs zusammenfiel. Kaum hatte die Nachricht von Marshalls Fund die Ostküste erreicht, da machten sich Abertausende auf, um ihr Glück im Sonnenstaat zu suchen. Quasi über Nacht verwandelte sich San Francisco aus einem verschlafenen kleinen Städtchen in die anarchische, brodelnde Metropole, die Charles W. Stoddard in seinen Kindheitserinnerungen beschrieben hat: 
 
[T]here never was a more cosmical commonwealth than sprang out of chaos on that Pacific coast; and there never was a city less given to following in the footsteps of its elder and more experienced sisters. Nor was there ever a more spontaneous outburst of happy-go-luckiness than that which made of young San Francisco a very Babel and a bouncing baby Babylon. [...] The middle-aged renewed their youth, and youth was wild with an exuberance of health and hope and happiness that seemed to give promise of immortality. (6)

Draufgängertum und Zukunftsoptimismus der Argonauten sollten zu einem bleibenden Bestandteil der kalifornischen Mentalität werden, auch wenn das hier gezeichnete Bild natürlich bereits stark vom Mythos der Forty-niners gefärbt ist. Doch man unterschätze nie die Macht der Mythen!
 
Goldgräbercamps wie Auburn, die im Hinterland Pilzen gleich aus dem Boden schossen, waren typische Frontiersiedlungen, in denen die Siedler – dem Zugriff staatlicher Gewalt weitgehend entzogen – ihr Leben nach ihren eigenen Regeln gestalteten. Die übliche Härte und Entschlossenheit des Pioniers verband sich dabei mit dem Traum vom schnellen Geld. Ein extremer Individualismus, rücksichtsloses Streben nach Reichtum und Erfolg, gepaart mit einem auf persönlicher Arbeit beruhenden Demokratismus (ursprünglich durfte nur der einen Claim sein Eigen nennen, der ihn auch selbst bearbeitete) bildeten das zwiespältige Erbe der Goldgräberzeit. Das kosmopolitische Gewusel San Franciscos und der primitive Egalitarismus der allerersten Camps sollten einen allerdings nicht dazu verleiten, im Kalifornien dieser Ära eine weltoffene tolerante Gesellschaft zu sehen. Die Tage des Goldrauschs erlebten die Geburt des antichinesischen Rassismus, die Ausrottung ganzer Indianerstämme und die Vertreibung tausender Mexikaner. In Frisco machten 1849 die berüchtigten "Hounds" – eine Art Miliz von Revolverhelden – monatelang ungestört Jagd auf alle Hispanos, plündernd, mordend, vergewaltigend. In vielen Siedlungen war Richter Lynch die höchste Autorität. Weihnachten 1850 sah man zum erstenmal einen Mann von der Eiche im Stadtzentrum von Auburn baumeln.

Mit Bret Hartes The Luck of Roaring Camp stand das romantisch verklärte Bild dieser Epoche am Anfang der modernen kalifornischen Literatur. In ihr lagen auch die Wurzeln des verlogenen ‘Californian Dream’, demzufolge es in dem gesegneten Land an der Pazifikküste ein jeder mit Fleiß und etwas Glück zu etwas bringen könne. Für die allermeisten war das freilich schon in den Tagen des Goldrauschs nur eine Illusion gewesen. Ortsnamen wie Poverty Hill, Humbug Flat, Skunk Gulch oder Hell’s Delight sprechen eine deutliche Sprache, und in einem der beliebtesten Songs der 1850er hieß es:
It's four long years since I reached this land,
In search of gold among the rocks and sand;
And yet I'm poor when the truth is told,
I'm a lousy miner,
I'm a lousy miner in search of shining gold.

Oh, land of gold, you did me deceive,
And I intend in thee my bones to leave;
So farewell, home, now my friends grow cold,
I'm a lousy miner,
I'm a lousy miner in search of shining gold.
(7)
 
In Volksphantasie und Literatur lebten die Golgräber fort als grimmige Individualisten, die hinausgezogen waren in die Wildnis der Sierras, um dort ihr Glück zu suchen. In Wirklichkeit waren die meisten von ihnen schon nach wenigen Jahren schlecht bezahlte Lohnarbeiter im Dienst der großen Bergbaugesellschaften geworden, die zusammen mit Bankiers, Bodenspekulanten und Händlern den Löwenanteil der Profite aus den Claims einheimsten. Vom Goldrausch befeuert machte die kapitalistische Entwicklung Kaliforniens rasch Fortschritte. Schon bald schlug die Todesstunde für den Halbfeudalismus der mexikanischen Rancheros. Nutznießer dessen waren in erster Linie nicht die Farmer, sondern einige wenige Großgrundbesitzer, denen es mit allerhand Tricks gelang, in kürzester Zeit riesige Landgüter zu erwerben. Damit entstand zugleich ein großes Landarbeiterproletariat, das bis auf den heutigen Tag den wohl am stärksten ausgebeuteten Teil der kalifornischen Arbeiterklasse bildet. Neben Bergbau und Holzwirtschaft etablierte sich der Weizenanbau als wichtigster Erwerbszweig. Erst später kamen Zitrusfrüchte und anderes Obst hinzu. In den 1930er Jahren würde Clark Ashton wie so viele Gelegenheitsarbeiter in den Sommermonaten auf den Plantagen schuften. Eine scharfe soziale Polarisation gehörte also beinah von den ersten Tagen an zu den Grundzügen des Sonnenstaates.
 
Mittelpunkt der jungen kalifornischen Literaturszene war die legendäre "Golden Gate Trinity" Bret Harte, Ina Coolbrith und Charles W. Stoddard, unter deren Leitung im Juli 1868 die erste Ausgabe des Overland Monthly erschien, der für lange Zeit die wichtigste literarische Plattform des Goldenen Staates bleiben sollte und in der auch noch Clark Ashton sein Debut geben würde. Anfangs gehörte auch der junge Mark Twain zu der Gruppe, doch verließ er bereits 1869 die Stadt und machte sich auf eine Europareise. Zwei Jahre später ging Harte an die Ostküste. Dafür gesellten sich Ambrose Bierce und Joaquin Miller zu dem literarischen Kreis, der von Beginn an stark bohèmehafte Züge trug. Bret Harte benutzte sogar das Pseudonym "The Bohemian" und seine Kolumne in der Zeitschrift The Golden Era trug den Titel "The Bohemian Feuilleton".
Noch war das anarchische Lebensgefühl der Pionierzeit sehr lebendig. Niemand verkörperte dies besser als der exzentrische "Byron der Sierras" Joaquin Miller. Bevor er 1870 von Ina Coolbrith in den Kreis um den Overland Monthly eingeführt wurde, war er u.a. Goldsucher, Reiter beim Ponyexpress, Pferdedieb und Richter in Oregon gewesen. Außerdem hatte er ein Jahr lang unter den Modoc-Indianern gelebt und eine der ihren zur Frau genommen. Seinen Künstlernamen – eigentlich hieß er Cincinnatus Hiner Miller – borgte er sich von dem berühmt-berüchtigten Outlaw Joaquin Murrieta, dem Robin Hood von El Dorado, der nebenbei bemerkt eine der Inspirationen für Johnston McCulleys Figur des Zorro in The Curse of Capistrano gewesen sein soll. Aber nicht nur die Vergangenheit, das Erbe der wilden Tage des Goldrauschs, trug zur Herausbildung einer Bohème-Kultur bei. Mindestens ebenso wichtig und mit den Jahren immer wichtiger war der Charakter der Gegenwart – einer Gegenwart, von der die Künstler sich innerlich abzugrenzen versuchten, weil sie sie aus gutem Grund verabscheuten.

Der 1865 zuendegegangene Bürgerkrieg hatte die Macht der Südstaatenoligarchie gebrochen, das System der Sklaverei zerschmettert und die Weichen gestellt für Amerikas Aufstieg zur größten Industriemacht der Welt. Es begann "das vergoldete Zeitalter" – "The Gilded Age" –, eine Ära von nie dagewesenem ökonomischen Wachstum, von unbeschreiblichem Luxus und ebenso großem Elend. Es war die Epoche der "robber barons", schlauer, energischer und rücksichtsloser Industrie- und Finanzmagnaten vom Schlage eines John D. Rockefeller, J. Pierpont Morgan oder Andrew Carnegie, die in kürzester Zeit fabelhafte Reichtümer anzuhäufen vermochten und den amerikanischen Millionär zu einer sprichwörtlichen Figur machten. Die Republikanische Partei, eben noch die Führerin im Bürgerkrieg, "Retterin der Union" und "Befreierin der Sklaven", verwandelte sich in das willfährige Werkzeug des Geldadels. Abraham Lincoln und Thaddeus Stevens hätten ihre Partei schon nach wenigen Jahren nicht mehr wiedererkannt. Die Korruption erreichte bisher ungekannte Ausmaße. Der Dollar regierte mit geradezu unverschämter Offenheit. Der neuenglische Dichter und Abolitionist James Russell Lowell, der 1865 bei der Nachricht von General Lees Kapitulation ausgerufen hatte „There is something magnificent in having a country to love!“, musste sich elf Jahre später beim Anblick seines Vaterlandes die Frage stellen: „Is ours a ‘government of the people, by the people, for the people,’ or a Kakistocracy [Herrschaft der Schlechtesten], rather for the benefit of knaves at the cost of fools?“ (8) Die Konzentration des Kapitals schritt in Siebenmeilenstiefeln voran und gebar schließlich die riesigen Monopole und Trusts wie Standard Oil oder US Steel. Die USA wurden endgültig zum Gelobten Land des Kapitalismus.

Am 10. Mai 1869 war in Promontory/Utah feierlich der goldene Nagel eingeschlagen worden, der die Schienenstränge der Union Pacific und der Central Pacific Railway miteinander verband. Damit war die erste transkontinentale Eisenbahnverbindung fertiggestellt und die wirtschaftliche Entwicklung Kaliforniens erhielt einen neuen mächtigen Anstoß. In Rekordzeit verwandelte der Kapitalismus das Antlitz des Sonnenstaates. Karl Marx schrieb 1880 in einem Brief an seinen nach Amerika ausgewanderten Freund Friedrich Sorge: „Kalifornien ist mir sehr wichtig, weil nirgendwo sonst die Umwälzung durch kapitalistische Zentralisation in der schamlosesten Weise sich vollzogen hat – mit solcher Hast." Die Macht des monopolisierten Kapitals verkörperte sich am augenscheinlichsten in den riesigen Eisenbahnunternehmen, Frank Norris’ „leviathan, with tentacles of steel clutching into the soil, the soulless Force, the iron-hearted Power, the monster, the Colossus, the Octopus.“ (9) Die "Big Four" Stanford, Huntington, Crocker & Hopkins waren Kaliforniens berüchtigste "robber barons" – Eigner der Southern Pacific Railroad und mit ihren Fähren und Dampfschiffen Herren des Handels in San Francisco, residierten sie Renaissancefürsten gleich in ihren gewaltigen Villen auf Nob Hill. Ihre Dollars bestimmten über Jahrzehnte wer am Goldenen Tor Bürgermeister, Gouverneur oder Senator wurde.
Leidtragende dieser Entwicklung waren natürlich die Lohnarbeiter, die Farmer und die kleinen Gewerbetreibenden, zumal die USA in den 70er Jahren von einer tiefen Rezession erfasst wurden. Im März 1878 erklärte die Farmervereinigung ("Grange") im nordkalifornischen Ferndale: „The toiling masses of this country are today to the banks and corporations what the peons of Mexico are to the aristocracy of that so called Republic." (10) Und im Vorwort zu seinem 1879 erschienen Buch Progress and Poverty schrieb der in San Francisco ansässige Henry George, Amerikas berühmtester Sozialreformer des 19. Jahrhunderts:
 
Where do we find the deepest poverty, the hardest struggle for existence, the greatest enforced idleness? Why, wherever material progress is most advanced. [...] Unpleasant as it may be to admit, it is at last becoming evident that progress has no tendency to reduce poverty. The great fact is, poverty, with all its ills, appears whenever progress reaches a certain stage. Poverty is, in some way, produced by progress itself. [...] This relation of poverty to progress is the great question of our time. It is the riddle that the Sphinx of Fate puts to us. If we do not answer correctly, we will be destroyed.
 
Es war jedoch weniger dieses "Rätsel der Sphinx" – das Nebeneinander von stürmischem Wachstum und zunehmender Armut –, was es den Künstlern unmöglich machte, sich mit der Gesellschaft des Gilded Age zu identifizieren, als vielmehr deren unerträgliche Vulgarität. Denn auch wenn das heutzutage manch einer zu glauben scheint, ist wahre Kunst doch unvereinbar mit der nackten Verehrung von Gier und Reichtum. Der Tanz ums Goldene Kalb ist nie ein besonders ästhetischer Tanz gewesen. H. P. Lovecraft hatte nicht so unrecht, als er die bourgeoise Elite jener Tage als „crude, half-educated clods“ bezeichnete, whose systematically perverted ideals (worship of low cunning, material acquisition, cheap comfort & smoothness, worldly success, ostentation, speed, intrinsic magnitude, surface glitter, &c.) prevented them from ever achieving the tastes and perspectives of the gentlefolk whose dress & speech & external manners they so assiduously mimicked.“ (11) In seinen Kurzgeschichten schildert uns Ambrose Bierce die neureiche Bourgeoisie Kaliforniens als einen Haufen eingebildeter und unkultivierter Emporkömmlinge, die quasi über Nacht zu ungeheurem Reichtum gekommen sind und sich nun nach Kräften bemühen, zu vergessen, dass ihr Besitz dem primitiven und gewalttätigen Milieu der schmutzigen Goldgräberstädtchen der Sierras entsprungen ist. Aus dieser Schicht gingen die Morses, Hapgoods und Blounts hervor, denen wir in Jack Londons Martin Eden begegnen: Kleingeistige Spießer, die sich an der viktorianischen Literatur erbauen und ihre vulgäre Existenz mit Tennysons Visionen von Ritterlichkeit und reiner Liebe zu veredelnsuchen, dabei geflissentlich alles ignorierend, was den Dichter der Idylls of the King über ihre Welt stumpfsinniger Bürgerlichkeit hinaushob. „The world has turn’d shopkeeper“, wie sich Joaquin Millers byronesker Held Don Carlos ausdrückt. (12)

Abgesehen von dem streitlustigen Bierce suchten die meisten Vertreter des San Franciscoer Kreises keine offene Konfrontation mit der Elite des Gilded Age. Einer direkten Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit gingen sie in ihrer Kunst eher aus dem Wege. Dafür ist in ihren Werken sehr deutlich das Verlangen nach einem Leben zu spüren – erfüllter, leidenschaftlicher, natürlicher und schöner als die bürgerliche Existenz. Das imaginierte Ziel konnte dabei sehr unterschiedliche Formen annehmen.
  
Bret Harte mag noch am bodenständigsten wirken, wenn er von den Goldgräbern, Glücksspielern und Huren der Pionierzeit erzählt. Doch in Wahrheit ging es ihm nicht darum, ein realistisches Bild des Lebens in den Camps der 50er Jahre zu zeichnen. Schon zu seinen Lebzeiten machte man ihm den Vorwurf, er habe in seinen Stories die Tage der Argonauten romantisch verklärt. Worauf Charles W. Stoddard erwiederte: „If he portrays only their pictorial or poetical or romantic features, all the better; the commonplace we have always with us, and it was no more tolerable then than it is now.“ (13) Damit charakterisierte Stoddard sehr treffend die eigentliche Bedeutung der farbenfrohen Schnurren seines Freundes. Hartes nostalgischer Blick auf die Zeit des Goldrauschs entsprach ganz einfach den Sehnsüchten seiner Leser nach einem freieren Leben. 
 
Doch waren die Verbindungslinien, die von dort zur Gegenwart führten, nicht zu direkt? War die Gier des Gilded Age nicht das legitime Kind des rauen Individualismus der Forty-niner, und musste man die ersehnte Alternative deshalb nicht in fremderen Gefilden suchen? Wie stand es z.B. um die untergehende Welt der Indianer? Die Jahre nach dem Bürgerkrieg waren die Zeit des letzten verzweifelten Widerstandes der Ureinwohner, jener heroischen Kämpfe, die Namen wie Sitting Bull und Crazy Horse, Geronimo und Cochise unsterblich gemacht haben. War es nicht naheliegend, sich mit dem traurigen Schicksal der Stämme zu identifizieren, auf deren Leichen das "vergoldete Zeitalter" errichtet wurde? Wenn Joaquin Miller in Shadows of Shasta eine wütende Anklage gegen die völkermörderische Politik der Regierung erhob, so lag dem sicher ehrliche Sympathie für ein Volk zugrunde, mit dem er ein Jahr lang zusammengelebt und das er zu respektieren gelernt hatte. Doch damals wie heute interessierten die Indianer nicht so sehr als reale, lebendige Menschen, sondern hauptsächlich als Projektionsfläche für die Sehnsüchte der weißen Künstler. Die stolzen Indianerkrieger in Millers Songs of the Sierras sind mythische Gestalten, tragische Vertreter eines edleren Zeitalters, vom Schicksal zum Untergang verurteilt, doch ungebrochen noch in ihrem Fall; die indianischen Mädchen schwarzäugige, leidenschaftliche "Töchter Montezumas", Kinder der Natur und der Sonne.
 
Dieselbe romantische Sehnsucht ließ Charles W. Stoddard einen melancholischen Blick zurück auf die Ära der franziskanischen Missionen werfen. Die Padres mit ihren riesigen, von indianischen "Konvertiten" bestellten Landgütern repräsentierten für ihn eine humanere, wahrhaft christliche Zeit: „That was, indeed, the golden age of the California missions; everybody was prosperous and proportionately happy.“ (14) Dem entbehrt nicht eine gewisse Ironie, verklärte Joaquin Millers Freund damit doch eine Institution, die ganz entscheidend zur Zerstörung der indianischen Kultur und Gesellschaft beigetragen hatte – wenn auch nicht mittels brutaler Ausrottung, sondern durch christliche "Umerziehung", Ansiedlung und "disziplinierte" Arbeit. Man fühlt sich ein wenig an die deutschen Romantiker erinnert, die das feudale Mittelalter als den Gipfelpunkt der europäischen Zivilisation verherrlichten. Allerdings vermitteln Stoddards Schriften den Eindruck, als sei es vor allem der melancholische Zauber der halbzerfallenen Kirchen und Missionsgebäude, der verblassenden Heiligenbilder und überwucherten Klostergärten gewesen, der die Liebe zur Welt der Padres in ihm geweckt hatte.

Ina Coolbrith schlug einen scheinbar völlig anderen Weg ein. Liest man ihre Songs from the Golden Gate, dann fällt einem vor allem auf, dass sie Schönheit ganz ausdrücklich im Unscheinbaren und Vergänglichen sucht: Ein Gänseblümchen, ein zwitscherndes Rotkehlchen, ein sonniger Frühlingstag in der Natur, ein flüchtiger Moment des Glücks. Man kann das natürlich furchtbar sentimental finden – "typisch Frau!" –, doch indem die Dichterin diesen Zug ihrer Lyrik so deutlich hervorhebt, scheint er mir eine besondere Bedeutung zu erlangen. Er wird zum Gegenentwurf angesichts der Gigantomanie des Gilded Age, einer Ära, in der man halbe Berge abträgt, um der Erde ihre Schätze zu entreißen, einen ganzen Kontinent in Rekordzeit mit einem Netz von Eisenbahnen überzieht und ‘Industriekapitäne’ als moderne Helden feiert, „who made a romance of money-making and who had dreams of empire unequaled by many kings of the past.“ (15) 

Neben all dem lockte schon damals die funkelnde See jenseits des Goldenen Tores zur Flucht in die tropischen Paradiese der Südsee, nach Hawaii oder Tahiti. Stoddard folgte mehr als einmal diesem verführerischen Ruf und verarbeitete seine Erlebnisse in Büchern wie South-sea Idylls. Wir werden später etwas genauer auf diesen Fluchtweg zurückkommen, denn er spielte auch für Clark Ashton Smith eine nicht unwichtige Rolle, obwohl dieser Kalifornien niemals verließ.

In einer der ersten Ausgaben des Overland Monthly erschien ein Artikel von George F. Parsons mit dem Titel What is Bohemianism?, der mit folgenden programmatischen Sätzen schloss: 
 
[T]he mission of Bohemianism in the nineteenth century is a mission of progress and enlightenment. By weary travel in foreign lands; by stubborn researches amid the graves of buried theories; by dauntless advancement of theses which an Old World, centuries ago, heard, and denounced, and crushed out with the iron heel of armed ignorance; by patient investigation and earnest thought, and ceaseless yearning after light and truth, they make their way. [...] truth-seekers and expounders, light-seekers and diffusers, liberty-seekers and bestowers. (16)

 
Ein hehres Ideal – aber wurden die Bohèmiens von San Francisco ihm wirklich gerecht? Bei allen Unterschieden hatten die Westküstenromantiker doch eines gemein: Sie sahen sich offenbar nicht in der Lage, dem triumphierenden Kapitalismus ihrer Tage eine wirkliche Alternative entgegenzustellen. So wie sie den Völkermord an den Indianern als ein tragisches, letztlich jedoch unaufhaltsames historisches Geschick betrachteten, standen sie auch den gesellschaftlichen Umwälzungen des Gilded Age weitgehend hilflos gegenüber. Sie konnten keine soziale Kraft ausmachen, die es mit den "robber barons" hätte aufnehmen und der amerikanischen Gesellschaft den Weg in eine bessere Zukunft hätte eröffnen können. Was blieb war der Blick zurück auf vergangene Zeiten, die Flucht in exotische Regionen oder der Rückzug in Ina Coolbriths kleinen Garten der bescheidenen Schönheit.

(Teil 2) * (Teil 3) * (Teil 4)



(1) Clark Ashton Smith (CAS) an George Sterling (GS) (27.1.1914). In: David E. Schultz & S.T. Joshi (Hg.): The Shadow of the Unattained. S. 102.
(2) CAS an Samuel J. Sackett (30.6.1949). In: Selected Letters of Clark Ashton Smith. S. 359.
(3) CAS an H.P. Lovecraft (HPL) (9.5.1926). In: Selected Letters of Clark Ashton Smith. S. 86.
(4) Vgl.: The Black Book of ClarkAshton Smith. § 18. / CAS an Margaret & Ray St. Clair (23.5.1933). In: Selected Letters of Clark Ashton Smith. S. 207f.
(5) Spitzname für die kalifornischen Goldgräber; nach dem antiken Heroen Jason und seinen Gefährten, die sich mit dem Schiff Argos – darum Argonauten – nach Kolchis aufmachten, um das Goldene Vlies zu erringen.
(6) Charles W. Stoddard: Old Days in El Dorado. In: Ders.: In the Footprints of the Padres. S. 66f.; 101.
(7) Zit. nach: James J. Rawls: A Golden State: An Introduction. In: James J. Rawls/ Richard J. Orsi (Hg.): A Golden State. Mining and Economic Development in Gold Rush California. S. 7f.
(8) Zit. nach: Charles A. & Mary R. Beard: History of the United States. Kap. 17.
(9) Frank Norris: The Octopus. A Story of California. S. 48.
(10) Zit. nach: Daniel Cornford: To Save the Republic. The California Workingmen’s Party in Humboldt County. In: Daniel Cornford (Hg.): Working People of California. S. 298.
(11) H. P. Lovecraft: Selected Letters. Bd. V. S. 397f.
(12) Joaquin Miller: Ina. In: Ders.: Songs of the Sierras. S. 167.
(13) Charles W. Stoddard: Early Recollections of Bret Harte. In: Ders.: Exits and Entrances. A Book of Essays and Sketches. S. 242.
(14) Charles W. Stoddard: Old Days in El Dorado. In: Ders.: In the Footprints of the Padres. S. 84. 
(15) Charles A. & Mary R. Beard: History of the United States. Kap. 18.
(16) Overland Monthly and Out West Magazine. Vol. 1; Issue 5; November 1868. S. 430.

Dienstag, 18. November 2014

Ach Arnie ...

Wie ich ich hier immer mal wieder sehr gerne verlauten lasse, habe ich eine große Schwäche für Arnold Schwarzenegger in seiner "klassischen" Periode.
Okay, Mark Lesters Commando (1985) -- der Film, der bei vielen als das stilprägende Werk des mit Arnies Namen verbundenen Eighties & Nineties-Actioners gilt -- erweist sich aus heutiger Sicht als ein inkompetent zusammengestoppeltes Flickwerk aus Celluloid. Aber Arnie als Ein-Mann-Anti-Terror-Armee wie in True Lies (1994), Eraser (1996) oder Collateral Damage (2002) war ohnehin nie mein Fall. Ich denke da zuallererst an Conan the Barbarian (1982), Terminator (1984), Predator (1987) und Total Recall (1990). Und ich finde es wirklich schwer, mir diese Filme ohne Schwarzenegger vorzustellen. Wer hätte an seine Stelle treten können? Sylvester Stallone?!?
Um so trauriger wirken auf mich die Bemühungen des Mittsechzigers, nach seinem Ausflug in die Welt der Politik seine alte Karriere als Actionheld wieder aufzunehmen. Das Ganze hat etwas leicht peinliches und würdeloses an sich. Dabei sind Streifen wie die Action-Opa-Gipfeltreffen The Expendables 2 & 3 oder The Last Stand nicht einmal das Schlimmste. Gruseliger finde ich die Vorstellung, dass es tatsächlich noch zu den mehrfach angekündigten Sequels zu Conan und Terminator kommen könnte. Und Arnie hört nicht auf, die Gerüchte über derartige Wiederbelebungsversuche seiner alten "Klassiker" am Leben zu erhalten. Vor wenigen Tagen erst ließ er während einer Q&A - Session in London eine kurze Bemerkung über ein mögliches Sequel {oder Reboot?} von Running Man (1987) fallen.
Um ehrlich zu sein: Schon das Original war recht mies, und das einzige, was mich in Bezug auf eine Neuauflage interessieren würde, ist die Frage: Werden wir auch diesmal so einen putzigen "Revolutionär" mit Pseudo-Che-Guevara-Barett zu sehen bekommen? Ich will doch schwer hoffen!

Samstag, 15. November 2014

Universen der Ödnis?

Letzten Monat stellten sowohl Warner Bros als auch Disney/Marvel der Öffentlichkeit die Terminpläne für ihre kommenden Superheldenfilme vor:

Warner Bros (DC):
  • März 2016: Batman v Superman: Dawn of Justice
  • 5. August 2016: Suicide Squad 
  • 23. Juni 2017: Wonder Woman
  • 10. November 2017: Justice League Part One
  • 23. März 2018: The Flash
  • 27. Juli 2018: Aquaman
  • 5. April 2019: Shazam
  • 4. Juni 2019: Justice League Part Two
  • 3. April 2020: Cyborg
  • 19. Juni 2020: Green Lantern 
Disney (Marvel):
  • Juli 2015: Ant-Man
  • 6. Mai 2016: Captain America: Civil War
  • 3. November 2016: Doctor Strange
  • 5. Mai 2017: Guardians of the Galaxy 2
  • 28. Juli 2017: Thor. Ragnarok
  • 3. November 2017: Black Panther
  • 4. Mai 2018: Avengers: Infinity War Part One
  • 6. Juli 2018: Captain Marvel
  • 2. November 2018: Inhumans
  • 3. Mai 2019: Avengers: Infinity War Part Two 
Beim Anblick dieser mehr als ein Jahrfünft umfassenden Pläne überkommt mich ehrlich gesagt ein mulmiges Gefühl. Man verstehe mich bitte nicht falsch: Ich habe nichts grundsätzliches gegen Superheldenflicks, auch wenn ich der Meinung bin, dass diese bei Lichte betrachtet doch etwas lächerlichen Figuren im heutigen Film viel zu ernst genommen werden. Wenigstens werden uns endlich auch ein paar Superheldenfilme mit weiblichen und farbigen Protagonisten in Aussicht gestellt, und das ist ja schon einmal etwas. Es ist die massierte und durchgeplante Form, in der uns hier zwei der großen Studios vor Augen führen, wie sie sich die Zukunft des amerikanischen Kinos vorstellen, die ich etwas depremierend finde.

Bunter und meinetwegen auch bombastischer Eskapismus ist ein legitimer Bestandteil des cineastischen Universums. Aber wenn er zur alles dominierenden Form des Films wird, dann liegt etwas im Argen. Wenn es Warner Bros und Disney tatsächlich gelingen sollte, ihre Vision in die Wirklichkeit umzusetzen, dann werden wir alljährlich mehr als ein halbes Dutzend Superheldenflicks zu sehen bekommen. Denn neben ihren eigenen Produktionen gibt es da ja auch noch Sonys Ausbaupläne für das Amazing Spider Man - Franchise sowie Projekte à la X-Men: Apocalypse und The Fantastic Four.

Seit geraumer Zeit schon gleicht Hollywood einem bizarren Paralleluniversum, das jede Verbindung zu der Welt, in der der Rest der Menschheit lebt, verloren zu haben scheint. Stärker als vielleicht jemals zuvor in seiner Geschichte hat sich das amerikanische Mainstream-Kino von der gesellschaftlichen Realität abgekoppelt. {Warum es meiner Ansicht nach um den Independent-Film auch nicht viel besser bestellt ist, soll jetzt nicht das Thema sein.} Die Lebenswirklichkeit der überwältigenden Mehrheit der US-Amerikaner und -Amerikanerinnen findet selbst in vermittelter, abgeschwächter oder zu Klischees erstarrter Form nur noch äußerst selten eine Widerspiegelung im Film. Stattdessen konzentrieren sich die Studios ganz darauf, primitive cineastische Gegenwelten zu erschaffen, die von Mal zu Mal immer steriler wirken. Der Superhelden-Boom des letzten Jahrzehnts ist eine besonders eindringliche Ausdrucksform dieses Trends. Und wenn es nach den großen Studios geht, soll sich daran offenbar auch in den nächsten fünf Jahren nichts ändern.

Nun bin ich nicht so naiv, dass ich glauben würde, der Impuls zur Veränderung könnte aus der Filmindustrie selbst kommen. Der Anstoß dazu wird von außen, von allgemeineren sozialen und politischen Entwicklungen in den USA kommen müssen. Marxistisch ausgedrückt: Dafür wird es ein Wiederaufleben des Klassenkampfes in den Vereinigten Staaten brauchen. Nur auf diese Weise wird die selbstzufriedene Isolation Hollywoods erschüttert werden können. Doch trotz der sich Jahr für Jahr verschärfenden sozialen Gegensätze ist dieser Punkt noch nicht erreicht.
      
Wer weiß, wie es in fünf Jahren tatsächlich aussehen wird. Wir leben in Zeiten rascher und dramatischer Entwicklungen. Die Studiobosse allerdings glauben offenbar immer noch, dass sie ewig so weiter machen könnten wie bisher. Wenn sie überhaupt eine Veränderung ins Auge fassen, so besteht diese bloß in einer weiteren Verschärfung all der negativen Trends der letzten zwanzig Jahre. Das ist zumindest für mich die eigentliche Aussage der Ankündigungen von Warner Bros und Disney. Hinzu kommt, dass all dies inzwischen geradezu generalstabsmäßig geplant wird. Und dabei spielt eine nicht ganz unwichtige Rolle die {auch nicht mehr so neue} Tendenz zur Entwicklung "filmischer Universen".

Genaugenommen manifestiert sich diese bisher allerdings hauptsächlich in Ankündigungen und weniger in fertiggestellten Produktionen. Das einzige wirklich etablierte Universum ist das der Marvel - Filme, welches deshalb auch immer wieder als Vorbild herangezogen wird.
Warum andere Studios Disney hierin nachzueifern versuchen, ist nicht weiter verwunderlich: Schließlich sind Guardians of the Galaxy und Captain America: The Winter Soldier die bis dato kommerziell erfolgreichsten Filme dieses Jahres, und das Franchise als Ganzes wird in Sachen Gewinn nur noch von der Harry Potter - Reihe übertroffen. Auf den ersten Blick mag es zwar nicht ganz logisch erscheinen, eine direkte Verbindung zwischen Format und finanziellem Erfolg herzustellen, doch Logik ist nicht unbedingt das höchste Gebot in der Welt von Hollywood. Bei all dem dürfte wohl jenes uralte Gesetz des Filmgeschäfts eine große Rolle spielen, das da lautet: Wenn irgendetwas erfolgreich ist, kopiere es! Eine Faustregel, die über die Jahrzehnte nicht nur zur Produktion vieler mediokrer Machwerke, sondern auch zu einer ganzen Reihe finanzieller Flops geführt hat. Was ihr erstaunlicherweise in den Augen vieler Studiobosse dennoch nichts von ihrer Überzeugungskraft geraubt zu haben scheint. In diesem Kontext wirkt es dann vielleicht nicht mehr so erstaunlich, dass andere Studios zu glauben scheinen, ein eigenes "filmisches Universum" könne ihnen einen ähnlichen Geldregen bescheren wie den, an dem Disney sich seit einigen Jahren erfreuen kann. Unabhängig von Inhalt oder Qualität der Flicks, aus denen selbiges sich zusammensetzen soll.
Am offensichtlichsten ist das natürlich bei Warner Bros' Bemühungen, mit ihren DC - Streifen einen direkten Konkurrenten zum Marvel - Universum aufzubauen. Ähnliches gilt für Sonys eher traurige Versuche, ihr ohnehin schon erbärmliches Amazing Spider Man - Franchise zu etwas Größerem aufzublähen. Doch der Superheldenfilm ist nicht das einzige Genre, in dem wir diese Entwicklung beobachten können. Für Star Wars ist bekanntlich etwas ähnliches geplant, während mit Dracula Untold vor kurzem der erste Vertreter eines Universal Monsters - Universums in die Kinos gelangt ist. Und als wäre letzteres nicht bereits absurd und geschmacklos genug, hat Sony vor einiger Zeit auch noch verkünden lassen, man wolle ein ganzes Robin Hood - Universum auf die Beine stellen! Bei manchen Nachrichten aus Hollywood weiß man wirklich nicht mehr, ob man lachen oder weinen soll ...

Neben den offensichtlichen Versuchen, Marvels Erfolgsrezept zu kopieren, scheint das Format also ganz allgemein Schule zu machen. Die Gründe hierfür sind nicht wirklich schwer zu erraten, und sie sind ausschließlich ökonomischer Natur.
Im Großen und Ganzen gesehen sind die Profite, die die Studios produzieren, schon seit geraumer Zeit nicht mehr hoch genug, um ihre Geldgeber an der Wall Street zu befriedigen. Dies zeigte sich letzten Monat auf sehr dramatische Weise, als Warner Bros bekannt machen ließen, dass man beabsichtige, die aktuellen Produktionskosten um $200 Mio zu senken, und zum Erreichen dieses Ziels mehr als 1.000 der 8.000 Studioangestellten entlassen werde.
Chief Executive Kevin Tsujihara told investors, “We are firmly committed to improving our margins. Through that process we have committed to cutting costs significantly.” Warner Bros. recently finished in third place among rival studios for box office share, the worst showing in over a decade. The studio has made $1.08 billion in movie sales in the US and Canada so far this year, down nearly 15 percent from last year. Overall, the major studios, including 20th Century Fox and Disney, have made $7.25 billion domestically, down almost 5 percent compared to last year, according to Box Office Mojo.
Zur selben Zeit investierte Warner Bros' Mutterkonzern Time Warner -- ähnlich wie viele andere amerikanische Großkonzerne -- mehrere Milliarden Dollar in den Aufkauf eigener Aktien, um damit den Kurs künstlich in die Höhe zu treiben und die Gewinne der Anleger zu maximieren.
Die Studiobosse, bei denen es sich schon längst nicht mehr um die allmächtigen Mogule vergangener Zeiten, sondern um die bloßen Befehlsempfänger von Finanzinstituten und Hedge Funds handelt, stehen also unter einem gewaltigen Druck, und das Format des "filmischen Universums" könnte deshalb aus zweierlei Gründen sehr verführerisch auf sie wirken:
1) Auf diese Weise lässt sich ein Franchise, an dem man die Rechte besitzt, noch umfangreicher ausbeuten, als durch die übliche Sequel- oder Reboot-Masche. Anders ausgedrückt: Man kann mehr Filme aus einer Grundidee herausquetschen.
2) Ist es einem erst einmal gelungen, ein Filmuniversum zu etablieren, so sichert man sich damit auch ein Kernpublikum. Selbst Leute, die noch nie von Ant-Man gehört haben, werden sich einen Film über ihn anschauen, weil selbiger Teil des Marvel-Universums ist.

Letztlich ist das "filmische Universum" bloß eine Fortsetzung des Sequel- und Remake-Irrsinns der jüngeren Vergangenheit. Ob dieses neue Konzept einen gravierenden negativen Einfluss auf die Qualität der unter seiner Herrschaft produzierten Filme haben wird, halte ich für ungewiss. Ein Streifen wie Guardians of the Galaxy scheint eher dagegenzusprechen. Allerdings führt Scott Tobias in einem Artikel für The Dissolve folgendes, durchaus bedenkenswertes Argument an:
All movies must conform to the same template. This objection is related as much or more to traditional sequels and franchises in general than to cinematic universes in particular. [...] The specific frustration with cinematic universes, however, is that they could—and should—be stylistically discrete, but they all have to look the same anyway.
Das klingt einleuchtend, würde im Grunde aber bloß die weitere Verschärfung eines Trends darstellen, der dem modernen Blockbuster an sich eigen ist: Der Tendenz zu immer größerer strukturell-erzählerischer und stilistischer Stromlinienförmigkeit. Und dessen Wurzeln sind einmal mehr hauptsächlich wirtschaftlicher Natur.

In den bald vier Jahrzehnten seiner Existenz hat das Blockbusterformat eine Entwicklung durchgemacht, die sehr viel damit zu tun hat, wie Filme finanziert und vermarktet werden. In den späten 70er und vor allem in den 80er Jahren begann Hollywood seine Ressourcen mehr und mehr auf die Produktion von immer weniger Filmen zu konzentrieren, welche ihrerseits immer teurer wurden. Daneben flossen immer größere Summen Geldes in riesige PR-Feldzüge. Das war mit einer der Gründe dafür, dass es allmählich zu einer tiefgreifenden Veränderung in der Struktur der Filmindustrie kam. Wie praktisch alle Teile der Wirtschaft wird auch Hollywood schon seit längerem von den großen Finanzinstuten, Banken, Hedge Funds etc. dominiert, die alleine in der Lage sind, die für eine große Blockbusterproduktion nötigen Mengen an Kapital zur Verfügung zu stellen. Mehr noch als in den alten Tagen ist damit der Profit zum höchsten {und beinah einzigen} Maßstab geworden, an dem sich Filme messen lassen müssen. Hollywood ist ein Anlagegebiet unter vielen geworden, und wenn es nicht die erwarteten Gewinne abwirft, wird das Finanzkapital anderswohin abwandern. Zugleich müssen diese Gewinne immer höher werden, da die Produktionen selbst immer kostspieliger geworden sind. Ein Weg, um dies zu erreichen, ist die Ausweitung des Marktes. Längst schon produziert Hollywood nicht mehr vornehmlich für den amerikanischen, sondern für einen internationalen Markt. All dies muss zu einem immer größeren Druck in Richtung Konformismus und Simplizität führen. Jedes gar zu heftige Abweichen von den "bewährten" Schemata muss in diesem Kontext als unnötiges Risiko erscheinen. Ein Risiko, das man sich schlicht nicht leisten kann.

Zugegebenermaßen äußerte sich dieser Druck hin zu immer größerer Gleichförmigkeit bislang in Fragen des filmerischen Stils weniger extrem als in den Bereichen Inhalt und Erzählweise. In dieser Hinsicht könnte das Prinzip der "filmischen Universen" in der Tat einen weiteren Schritt auf dem Weg zum unterschiedslosen Einheitsbrei darstellen. Dennoch halte ich eine Debatte über das Für und Wider von "Filmuniversen" letztenendes für wenig sinnvoll. Zuerst einmal wissen wir nicht, ob dieses Format mehr als eine kurzlebige Mode sein wird. Wenn es keinem von Disneys Konkurrenten gelingt, ein vergleichbar erfolgreiches {sprich einträgliches} Universum wie das der Marvel-Streifen zu etablieren, glaube ich ehrlich gesagt nicht, dass dem Modell eine all zu große Zukunft beschieden ist. Darüberhinaus sind die Probleme, mit denen der aktuelle Film zu ringen hat, sehr viel grundsätzlicherer Natur. Ähnlich wie der Remake-Wahn mag auch das Konzept der "filmischen Universen" ein Symptom der Krise sein, doch deren Wurzeln reichen sehr viel tiefer. Und wenn man diese angehen will, sollte man sich nicht gar zu sehr mit irgendwelchen formalen Fragen aufhalten.

Strandgut der Woche