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Mittwoch, 19. November 2014

Der Décadent der Fantasy (1)

Es liegt nun schon ein paar Jahre zurück. da packte mich der verrückte Ehrgeiz, ein Buch über Leben und Werk von Clark Ashton Smith zu schreiben. Hauptantrieb dabei war natürlich meine große Liebe für das vielgestaltige Schaffen dieses exzentrischen Dichters, Autors, Bildhauers und Malers. Daneben schien es mir aber auch etwas unfair, dass Klarkash-Ton nie die Bekanntheit erlangt hat, die ihm meiner Meinung nach zustehen würde. Insbesondere, wenn man zum Vergleich H.P. Lovecraft und Robert E. Howard heranzieht, die anderen beiden Mitglieder des legendären Triumvirats der Weird Tales.
Ereignisse in meinem Leben, deren Natur jetzt nichts zur Sache tut, führten schließlich dazu, dass ich mein Projekt abbrach. Ob ich die Arbeit jemals fortsetzen werde, steht in den Sternen geschrieben, zumal mir inzwischen sehr deutlich bewusst geworden ist, dass eine echte "Biographie" sehr viel intensivere und professionellere Recherche erfordern würde. Aber im Grunde war das Buch auch nie wirklich als "Biographie" konzipiert gewesen, sondern vielmehr als eine überlange Studie, die Smith und sein Oeuvre in ihren gesellschaftlichen und literaturhistorischen Kontext einbetten sollte.
Würde ich mich noch einmal ernsthaft an diese Arbeit setzen, dann würden ganz sicher auch deren erste Kapitel, die ich in den folgenden Monaten hier zu veröffentlichen gedenke, einer erneuten Bearbeitung unterzogen. Das möge die Leserin oder der Leser bitte stets im Hinterkopf behalten.  

Fritz Leiber, der ein großer Bewunderer von Clark Ashton Smiths Werk war, sich Zeit seines Lebens bemühte, dessen Andenken wach zu halten, und ihm schließlich mit Our Lady of Darkness ein phantastisches literarisches Denkmal setzte, nannte ihn einmal "sui generis, one of the most uninfluenced and original writers I know of". In gewisser Hinsicht trifft dies ganz ohne Zweifel zu. In anderer Hinsicht allerdings auch wieder nicht.
Neben all den Pulpautoren, mit denen er sich in den 30er Jahren die Seiten von Weird Tales oder Astounding Stories teilte, wirkt Smith schon aufgrund seiner komplizierten Sprache und seines eigenwilligen Stils in der Tat wie ein exotischer Sonderling. Dennoch war Klarkash-Ton kein Exilant aus dem versunkenen Atlantis, sondern das Produkt eines ganz bestimmten historischen und kulturellen Milieus. Seine spätere Außenseiterstellung kann man meiner Ansicht nach eigentlich nur dann richtig verstehen, wenn man sich mit seinen Wurzeln und der Tradition, in der er stand, auseinandersetzt. Aus dieser Perspektive wurde das Folgende geschrieben.




Und ich sah und hörte: Ein Adler flog hoch am
Himmel und rief mit lauter Stimme:
Wehe! Wehe! Wehe den Bewohnern der Erde!
Offenbarung des Johannes 8, 13 

Heaven is a prophecy uttered by the lips of despair,
but Hell is an inference from analogy.
Ambrose Bierce, Natura Benigna 

Zwei schöne Dinge gibt es auf der Welt:
Die Liebe und den Tod.
Giacomo Leopardi, Consalvo  

Oh, der nächtlichen Stunde vertraut nicht,
Die von arger Schönheit erfüllt!
Wo die Menschen dem Tode nah sind,
Nur aus Blüten noch Leben quillt.
Sinaida Hippius, Blüten der Nacht

Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.
Friedrich Nietzsche

Tancred:
And though the Last Wind drive along the world
The foam of granite and the dust of seas,
The dust in Man hath lived and loved.

Lilith:
And cried
In agony! Ah, miserable Life,
Lured by a hundred lusts and dogged by sad
Satiety! Blind pilgrim of the years,
With Pain for shadow! Turn thee from the sun
And rest! How very quickly art thou gone,
Smoke of the moth's burnt wing!

Tancred:
Yet was it wing,
And better that than nothing.
George Sterling, Lilith



Clark Ashton Smith erblickte an einem Freitag dem Dreizehnten im Januar des Jahres 1893 in Long Valley, Placer County (Kalifornien) das Licht der Welt. Und wie er selbst später einmal halb scherzhaft bemerkte, stand seine Geburt außerdem noch „under the influence of the planet Saturn“ – des kosmischen Herrn der Melancholie also: „A rather ominous combination, dont’ you think?“ (1)
Vater Timeus Ashton Smith stammte aus England und hatte ein Großteil seines einst recht üppigen Erbes mit Reisen in fremde Länder und beim Glücksspiel durchgebracht. Ob sein Sohn von ihm die Sehnsucht nach fernen und exotischen Gefilden erbte? Wer weiß, jedenfalls wird der junge Clark Ashton so manches Mal den Geschichten seines Vaters über dessen Abenteuer am Amazonas, in Australien oder Macao gelauscht haben.
Timeus’ unstetes Wanderleben hatte in den späten 1880er Jahre sein Ende gefunden, als er sich in Placer County niederließ. Ein Grund für die Ortswahl war möglicherweise die englische Kolonie im benachbarten Penryn, deren wohlhabende Oberschicht so ‘"britisch" war, dass sie sich sogar mit dem aristokratischen und in Amerika sicher höchst exotischen "Sport" der Fuchsjagd vergnügte. Nun besaß Timeus zwar die Manieren eines Gentleman, aber nicht länger den dazugehörigen Geldbeutel, und so arbeitete er als Nachtportier im Freeman Hotel von Long Valley, statt den bemitleidenswerten Meister Reinecke auf Pferderücken zu Tode zu hetzen. Dabei lernte er Mary Frances "Fanny" Gaylord kennen, deren Familie in der Nähe eine Farm besaß. 1891 heirateten die beiden und zwei Jahre später kam ihr erstes und einziges Kind zur Welt.
Clark Ashton wuchs auf der Farm seines Großvaters Hiram auf. Obwohl er nie die Obsession seines Freundes Lovecraft für Blutlinien und Genealogien teilte, erzählte er später doch gerne davon, dass die Familie seiner Mutter „claims descent from an armigerous [wappentragenden] Norman house dating back to the Crusades“. (2) Noch wichtiger allerdings scheint ihm die hugenottische Herkunft der Gaylords gewesen zu sein: 
[T]he family [...] has been in America since 1630. They were descendants of Huguenot refugees driven out of France at the time of the revocation of the Edict of Nantes – the name was Gaillard originally. Oddly enough, some of my father’s people, the Ashtons, were English Catholics! The mixture should make for non-conformity. (3)
Tatsächlich herrschte im elterlichen Haushalt ein toleranter Geist. Jedenfalls ist es später nie zu einem Konflikt über den unorthodoxen Lebenswandel des Sohnes gekommen, der ernsthaft genug gewesen wäre, um einen Bruch befürchten zu lassen.
1902 hatte Timeus endlich genug Geld zusammengespart, um ein knapp 18 ha großes Stück Waldland auf der Anhöhe des Boulder Ridge, eines erstarrten Lavaflusses über dem American River bei Auburn zu erwerben. Ein Brunnen wurde ausgehoben, ein Haus gebaut und 1907 konnte die dreiköpfige Familie endlich ihr eigenes Heim beziehen. Bis 1954 sollte dieser Flecken Erde und das eher primtive Häuschen Clark Ashtons Zuhause bleiben, das er nur selten verließ. Hier würden die meisten seiner Gedichte und Geschichten, seiner Zeichnungen und Skulpturen entstehen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts präsentierte sich Auburn als Kleinstadt mit ungefähr zweitausend Einwohnern. Gegründet worden war die Siedlung 1849, zur Zeit des großen Goldrauschs, nachdem der junge Franzose Claude Chana in der benachbarten Klamm die ersten Nuggets gefunden hatte. Schon bald war der Ort zu einem wichtigen Handelsplatz geworden, von dem aus Pfade zu den zahlreichen Camps in den Hügeln der Umgebung führten. Ein letzter Nachklang dieser Tage war auch in Clark Ashtons Jugendzeit noch zu spüren. Sein Großvater Hiram und sein Onkel Ed versuchten auf dem Gelände der Gaylord-Farm vergeblich nach Gold zu schürfen, wobei ihnen der junge Clark Ashton zur Hand ging. Und auch in der Nähe des Hauses auf dem Boulder Ridge existierte ein alter Minenschacht, der freilich von den Smiths geflutet und als eine Art natürlicher Kühlschrank für leicht verderbliche Lebensmittel genutzt wurde. Verlassene Stollen und Gruben fanden sich überall im Hügelland zu Füßen der Sierra Nevada – Relikte einer längst romantisch verklärten Gründerära. In einer autobiographischenSkizze bemerkt Clark Ashton dazu: „Much of my childhood was spent in the neighborhood of an alleged gold mine; which may be reason why the romance of California gold mining failed to get under my skin.
Während z.B. Robert E. Howards Fantasygeschichten in hohem Maße dem texanischen Frontier-Mythos verpflichtet sind, spielt dessen kalifornisches Gegenstück für Smiths literarisches Werk tatsächlich kaum eine Rolle. Selbst die unheimlichen Geschichten aus der Goldgräberzeit scheinen ihn kaum je inspiriert zu haben. Dabei war der entsprechende Fundus sehr reichhaltig. Der Herausgeber einer seiner frühen Stories (The Haunted Gong) schreibt darüber: „The hills of Auburn, where Clark grew up, were filled with ghostly mining lore. As recently as my own childhood, I heard stories of ghost miners, and strange sounds around jumped claims, and so on.“ Schon Charles M. Skinners klassische Sammlung amerikanischer Folklore Myths and Legends of Our Land von 1896 enthält unter dem Titel The Spook of Misery Hill die Geschichte eines kalifornischen Goldgräbers, der seinen Claim noch über das Grab hinaus mit aller Gewalt verteidigt. Solche Stories waren Legion, und natürlich besaß die Bezeichnung "ghost town" schon zu Clark Ashtons Zeiten einen mehrdeutigen Klang. Auch galten viele Minen als Heimstatt der Tommyknockers, ursprünglich der walisischen Fantasie entsprungener Kreaturen, die hin und wieder durch ihr dumpfes Klopfen auf sich aufmerksam machen, mal, um die Bergleute auf hinterhältige Weise in eine Falle zu locken, mal, um sie vor drohenden Gefahren zu warnen oder auf besonders reiche Goldvorkommen hinzuweisen.
Smith vermied wahrscheinlich ganz bewusst jede Bezugnahme auf diese Traditionen, und im Verlaufe unserer Betrachtungen werden wir sehen, warum das so war. Die einzige Ausnahme bildet die nie vollendete Story The House of Haon-Dor. Diese ist tatsächlich in der Nachbarschaft einer alten Mine bei Cougar Hollow angesiedelt und spielt auch ein wenig mit den lokalen Überlieferungen. Doch die Inspiration dazu hatte Smith bezeichnenderweise nicht aus den alten Goldgräberlegenden bezogen, sondern von seinen Freunden Margaret und Ray St. Clair, die ihm von einer Hütte in der Küstenstadt Oceanside berichtet hatten, von der es hieß, sie sei der Unterschlupf von Schwarzmagiern und der Vorraum zu einem (unsichtbaren) höllischen Gebäude. (4)
Dennoch wollen wir unsere Erzählung mit dem großen Goldrausch beginnen lassen. Denn auch wenn die Tage der Glücksritter und Argonauten (5) längst vergangen waren, hatten sie doch bleibende Spuren nicht nur in der Landschaft, sondern auch in der Mentalität und Kultur Kaliforniens hinterlassen. Wer den Sonnenstaat verstehen will, muss sich mit ihnen beschäftigen.


Kapitel 1: Das Erbe der Argonauten
 
Als James W. Marshall am 24. Januar 1848 bei Sutter’s Mill in der Nähe von Sacramento die ersten Nuggets entdeckte, setzte er eine Entwicklung in Gang, die zur Geburt des modernen Kalifornien führte. Was davor lag war sozusagen Mittelalter: Die Herrschaft der Spanier und Mexikaner, die Ära der franziskanischen Missionen, der Halbfeudalismus der großen Rancheros mit ihren Peones. Der Mexikanisch-Amerikanische Krieg von 1846-48 hatte zum Anschluss Kaliforniens an die Vereinigten Staaten geführt, und ein Zufall der Geschichte wollte es, dass dieses Ereignis mit dem Beginn des Goldrauschs zusammenfiel. Kaum hatte die Nachricht von Marshalls Fund die Ostküste erreicht, da machten sich Abertausende auf, um ihr Glück im Sonnenstaat zu suchen. Quasi über Nacht verwandelte sich San Francisco aus einem verschlafenen kleinen Städtchen in die anarchische, brodelnde Metropole, die Charles W. Stoddard in seinen Kindheitserinnerungen beschrieben hat: 
 
[T]here never was a more cosmical commonwealth than sprang out of chaos on that Pacific coast; and there never was a city less given to following in the footsteps of its elder and more experienced sisters. Nor was there ever a more spontaneous outburst of happy-go-luckiness than that which made of young San Francisco a very Babel and a bouncing baby Babylon. [...] The middle-aged renewed their youth, and youth was wild with an exuberance of health and hope and happiness that seemed to give promise of immortality. (6)

Draufgängertum und Zukunftsoptimismus der Argonauten sollten zu einem bleibenden Bestandteil der kalifornischen Mentalität werden, auch wenn das hier gezeichnete Bild natürlich bereits stark vom Mythos der Forty-niners gefärbt ist. Doch man unterschätze nie die Macht der Mythen!
 
Goldgräbercamps wie Auburn, die im Hinterland Pilzen gleich aus dem Boden schossen, waren typische Frontiersiedlungen, in denen die Siedler – dem Zugriff staatlicher Gewalt weitgehend entzogen – ihr Leben nach ihren eigenen Regeln gestalteten. Die übliche Härte und Entschlossenheit des Pioniers verband sich dabei mit dem Traum vom schnellen Geld. Ein extremer Individualismus, rücksichtsloses Streben nach Reichtum und Erfolg, gepaart mit einem auf persönlicher Arbeit beruhenden Demokratismus (ursprünglich durfte nur der einen Claim sein Eigen nennen, der ihn auch selbst bearbeitete) bildeten das zwiespältige Erbe der Goldgräberzeit. Das kosmopolitische Gewusel San Franciscos und der primitive Egalitarismus der allerersten Camps sollten einen allerdings nicht dazu verleiten, im Kalifornien dieser Ära eine weltoffene tolerante Gesellschaft zu sehen. Die Tage des Goldrauschs erlebten die Geburt des antichinesischen Rassismus, die Ausrottung ganzer Indianerstämme und die Vertreibung tausender Mexikaner. In Frisco machten 1849 die berüchtigten "Hounds" – eine Art Miliz von Revolverhelden – monatelang ungestört Jagd auf alle Hispanos, plündernd, mordend, vergewaltigend. In vielen Siedlungen war Richter Lynch die höchste Autorität. Weihnachten 1850 sah man zum erstenmal einen Mann von der Eiche im Stadtzentrum von Auburn baumeln.

Mit Bret Hartes The Luck of Roaring Camp stand das romantisch verklärte Bild dieser Epoche am Anfang der modernen kalifornischen Literatur. In ihr lagen auch die Wurzeln des verlogenen ‘Californian Dream’, demzufolge es in dem gesegneten Land an der Pazifikküste ein jeder mit Fleiß und etwas Glück zu etwas bringen könne. Für die allermeisten war das freilich schon in den Tagen des Goldrauschs nur eine Illusion gewesen. Ortsnamen wie Poverty Hill, Humbug Flat, Skunk Gulch oder Hell’s Delight sprechen eine deutliche Sprache, und in einem der beliebtesten Songs der 1850er hieß es:
It's four long years since I reached this land,
In search of gold among the rocks and sand;
And yet I'm poor when the truth is told,
I'm a lousy miner,
I'm a lousy miner in search of shining gold.

Oh, land of gold, you did me deceive,
And I intend in thee my bones to leave;
So farewell, home, now my friends grow cold,
I'm a lousy miner,
I'm a lousy miner in search of shining gold.
(7)
 
In Volksphantasie und Literatur lebten die Golgräber fort als grimmige Individualisten, die hinausgezogen waren in die Wildnis der Sierras, um dort ihr Glück zu suchen. In Wirklichkeit waren die meisten von ihnen schon nach wenigen Jahren schlecht bezahlte Lohnarbeiter im Dienst der großen Bergbaugesellschaften geworden, die zusammen mit Bankiers, Bodenspekulanten und Händlern den Löwenanteil der Profite aus den Claims einheimsten. Vom Goldrausch befeuert machte die kapitalistische Entwicklung Kaliforniens rasch Fortschritte. Schon bald schlug die Todesstunde für den Halbfeudalismus der mexikanischen Rancheros. Nutznießer dessen waren in erster Linie nicht die Farmer, sondern einige wenige Großgrundbesitzer, denen es mit allerhand Tricks gelang, in kürzester Zeit riesige Landgüter zu erwerben. Damit entstand zugleich ein großes Landarbeiterproletariat, das bis auf den heutigen Tag den wohl am stärksten ausgebeuteten Teil der kalifornischen Arbeiterklasse bildet. Neben Bergbau und Holzwirtschaft etablierte sich der Weizenanbau als wichtigster Erwerbszweig. Erst später kamen Zitrusfrüchte und anderes Obst hinzu. In den 1930er Jahren würde Clark Ashton wie so viele Gelegenheitsarbeiter in den Sommermonaten auf den Plantagen schuften. Eine scharfe soziale Polarisation gehörte also beinah von den ersten Tagen an zu den Grundzügen des Sonnenstaates.
 
Mittelpunkt der jungen kalifornischen Literaturszene war die legendäre "Golden Gate Trinity" Bret Harte, Ina Coolbrith und Charles W. Stoddard, unter deren Leitung im Juli 1868 die erste Ausgabe des Overland Monthly erschien, der für lange Zeit die wichtigste literarische Plattform des Goldenen Staates bleiben sollte und in der auch noch Clark Ashton sein Debut geben würde. Anfangs gehörte auch der junge Mark Twain zu der Gruppe, doch verließ er bereits 1869 die Stadt und machte sich auf eine Europareise. Zwei Jahre später ging Harte an die Ostküste. Dafür gesellten sich Ambrose Bierce und Joaquin Miller zu dem literarischen Kreis, der von Beginn an stark bohèmehafte Züge trug. Bret Harte benutzte sogar das Pseudonym "The Bohemian" und seine Kolumne in der Zeitschrift The Golden Era trug den Titel "The Bohemian Feuilleton".
Noch war das anarchische Lebensgefühl der Pionierzeit sehr lebendig. Niemand verkörperte dies besser als der exzentrische "Byron der Sierras" Joaquin Miller. Bevor er 1870 von Ina Coolbrith in den Kreis um den Overland Monthly eingeführt wurde, war er u.a. Goldsucher, Reiter beim Ponyexpress, Pferdedieb und Richter in Oregon gewesen. Außerdem hatte er ein Jahr lang unter den Modoc-Indianern gelebt und eine der ihren zur Frau genommen. Seinen Künstlernamen – eigentlich hieß er Cincinnatus Hiner Miller – borgte er sich von dem berühmt-berüchtigten Outlaw Joaquin Murrieta, dem Robin Hood von El Dorado, der nebenbei bemerkt eine der Inspirationen für Johnston McCulleys Figur des Zorro in The Curse of Capistrano gewesen sein soll. Aber nicht nur die Vergangenheit, das Erbe der wilden Tage des Goldrauschs, trug zur Herausbildung einer Bohème-Kultur bei. Mindestens ebenso wichtig und mit den Jahren immer wichtiger war der Charakter der Gegenwart – einer Gegenwart, von der die Künstler sich innerlich abzugrenzen versuchten, weil sie sie aus gutem Grund verabscheuten.

Der 1865 zuendegegangene Bürgerkrieg hatte die Macht der Südstaatenoligarchie gebrochen, das System der Sklaverei zerschmettert und die Weichen gestellt für Amerikas Aufstieg zur größten Industriemacht der Welt. Es begann "das vergoldete Zeitalter" – "The Gilded Age" –, eine Ära von nie dagewesenem ökonomischen Wachstum, von unbeschreiblichem Luxus und ebenso großem Elend. Es war die Epoche der "robber barons", schlauer, energischer und rücksichtsloser Industrie- und Finanzmagnaten vom Schlage eines John D. Rockefeller, J. Pierpont Morgan oder Andrew Carnegie, die in kürzester Zeit fabelhafte Reichtümer anzuhäufen vermochten und den amerikanischen Millionär zu einer sprichwörtlichen Figur machten. Die Republikanische Partei, eben noch die Führerin im Bürgerkrieg, "Retterin der Union" und "Befreierin der Sklaven", verwandelte sich in das willfährige Werkzeug des Geldadels. Abraham Lincoln und Thaddeus Stevens hätten ihre Partei schon nach wenigen Jahren nicht mehr wiedererkannt. Die Korruption erreichte bisher ungekannte Ausmaße. Der Dollar regierte mit geradezu unverschämter Offenheit. Der neuenglische Dichter und Abolitionist James Russell Lowell, der 1865 bei der Nachricht von General Lees Kapitulation ausgerufen hatte „There is something magnificent in having a country to love!“, musste sich elf Jahre später beim Anblick seines Vaterlandes die Frage stellen: „Is ours a ‘government of the people, by the people, for the people,’ or a Kakistocracy [Herrschaft der Schlechtesten], rather for the benefit of knaves at the cost of fools?“ (8) Die Konzentration des Kapitals schritt in Siebenmeilenstiefeln voran und gebar schließlich die riesigen Monopole und Trusts wie Standard Oil oder US Steel. Die USA wurden endgültig zum Gelobten Land des Kapitalismus.

Am 10. Mai 1869 war in Promontory/Utah feierlich der goldene Nagel eingeschlagen worden, der die Schienenstränge der Union Pacific und der Central Pacific Railway miteinander verband. Damit war die erste transkontinentale Eisenbahnverbindung fertiggestellt und die wirtschaftliche Entwicklung Kaliforniens erhielt einen neuen mächtigen Anstoß. In Rekordzeit verwandelte der Kapitalismus das Antlitz des Sonnenstaates. Karl Marx schrieb 1880 in einem Brief an seinen nach Amerika ausgewanderten Freund Friedrich Sorge: „Kalifornien ist mir sehr wichtig, weil nirgendwo sonst die Umwälzung durch kapitalistische Zentralisation in der schamlosesten Weise sich vollzogen hat – mit solcher Hast." Die Macht des monopolisierten Kapitals verkörperte sich am augenscheinlichsten in den riesigen Eisenbahnunternehmen, Frank Norris’ „leviathan, with tentacles of steel clutching into the soil, the soulless Force, the iron-hearted Power, the monster, the Colossus, the Octopus.“ (9) Die "Big Four" Stanford, Huntington, Crocker & Hopkins waren Kaliforniens berüchtigste "robber barons" – Eigner der Southern Pacific Railroad und mit ihren Fähren und Dampfschiffen Herren des Handels in San Francisco, residierten sie Renaissancefürsten gleich in ihren gewaltigen Villen auf Nob Hill. Ihre Dollars bestimmten über Jahrzehnte wer am Goldenen Tor Bürgermeister, Gouverneur oder Senator wurde.
Leidtragende dieser Entwicklung waren natürlich die Lohnarbeiter, die Farmer und die kleinen Gewerbetreibenden, zumal die USA in den 70er Jahren von einer tiefen Rezession erfasst wurden. Im März 1878 erklärte die Farmervereinigung ("Grange") im nordkalifornischen Ferndale: „The toiling masses of this country are today to the banks and corporations what the peons of Mexico are to the aristocracy of that so called Republic." (10) Und im Vorwort zu seinem 1879 erschienen Buch Progress and Poverty schrieb der in San Francisco ansässige Henry George, Amerikas berühmtester Sozialreformer des 19. Jahrhunderts:
 
Where do we find the deepest poverty, the hardest struggle for existence, the greatest enforced idleness? Why, wherever material progress is most advanced. [...] Unpleasant as it may be to admit, it is at last becoming evident that progress has no tendency to reduce poverty. The great fact is, poverty, with all its ills, appears whenever progress reaches a certain stage. Poverty is, in some way, produced by progress itself. [...] This relation of poverty to progress is the great question of our time. It is the riddle that the Sphinx of Fate puts to us. If we do not answer correctly, we will be destroyed.
 
Es war jedoch weniger dieses "Rätsel der Sphinx" – das Nebeneinander von stürmischem Wachstum und zunehmender Armut –, was es den Künstlern unmöglich machte, sich mit der Gesellschaft des Gilded Age zu identifizieren, als vielmehr deren unerträgliche Vulgarität. Denn auch wenn das heutzutage manch einer zu glauben scheint, ist wahre Kunst doch unvereinbar mit der nackten Verehrung von Gier und Reichtum. Der Tanz ums Goldene Kalb ist nie ein besonders ästhetischer Tanz gewesen. H. P. Lovecraft hatte nicht so unrecht, als er die bourgeoise Elite jener Tage als „crude, half-educated clods“ bezeichnete, whose systematically perverted ideals (worship of low cunning, material acquisition, cheap comfort & smoothness, worldly success, ostentation, speed, intrinsic magnitude, surface glitter, &c.) prevented them from ever achieving the tastes and perspectives of the gentlefolk whose dress & speech & external manners they so assiduously mimicked.“ (11) In seinen Kurzgeschichten schildert uns Ambrose Bierce die neureiche Bourgeoisie Kaliforniens als einen Haufen eingebildeter und unkultivierter Emporkömmlinge, die quasi über Nacht zu ungeheurem Reichtum gekommen sind und sich nun nach Kräften bemühen, zu vergessen, dass ihr Besitz dem primitiven und gewalttätigen Milieu der schmutzigen Goldgräberstädtchen der Sierras entsprungen ist. Aus dieser Schicht gingen die Morses, Hapgoods und Blounts hervor, denen wir in Jack Londons Martin Eden begegnen: Kleingeistige Spießer, die sich an der viktorianischen Literatur erbauen und ihre vulgäre Existenz mit Tennysons Visionen von Ritterlichkeit und reiner Liebe zu veredelnsuchen, dabei geflissentlich alles ignorierend, was den Dichter der Idylls of the King über ihre Welt stumpfsinniger Bürgerlichkeit hinaushob. „The world has turn’d shopkeeper“, wie sich Joaquin Millers byronesker Held Don Carlos ausdrückt. (12)

Abgesehen von dem streitlustigen Bierce suchten die meisten Vertreter des San Franciscoer Kreises keine offene Konfrontation mit der Elite des Gilded Age. Einer direkten Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit gingen sie in ihrer Kunst eher aus dem Wege. Dafür ist in ihren Werken sehr deutlich das Verlangen nach einem Leben zu spüren – erfüllter, leidenschaftlicher, natürlicher und schöner als die bürgerliche Existenz. Das imaginierte Ziel konnte dabei sehr unterschiedliche Formen annehmen.
  
Bret Harte mag noch am bodenständigsten wirken, wenn er von den Goldgräbern, Glücksspielern und Huren der Pionierzeit erzählt. Doch in Wahrheit ging es ihm nicht darum, ein realistisches Bild des Lebens in den Camps der 50er Jahre zu zeichnen. Schon zu seinen Lebzeiten machte man ihm den Vorwurf, er habe in seinen Stories die Tage der Argonauten romantisch verklärt. Worauf Charles W. Stoddard erwiederte: „If he portrays only their pictorial or poetical or romantic features, all the better; the commonplace we have always with us, and it was no more tolerable then than it is now.“ (13) Damit charakterisierte Stoddard sehr treffend die eigentliche Bedeutung der farbenfrohen Schnurren seines Freundes. Hartes nostalgischer Blick auf die Zeit des Goldrauschs entsprach ganz einfach den Sehnsüchten seiner Leser nach einem freieren Leben. 
 
Doch waren die Verbindungslinien, die von dort zur Gegenwart führten, nicht zu direkt? War die Gier des Gilded Age nicht das legitime Kind des rauen Individualismus der Forty-niner, und musste man die ersehnte Alternative deshalb nicht in fremderen Gefilden suchen? Wie stand es z.B. um die untergehende Welt der Indianer? Die Jahre nach dem Bürgerkrieg waren die Zeit des letzten verzweifelten Widerstandes der Ureinwohner, jener heroischen Kämpfe, die Namen wie Sitting Bull und Crazy Horse, Geronimo und Cochise unsterblich gemacht haben. War es nicht naheliegend, sich mit dem traurigen Schicksal der Stämme zu identifizieren, auf deren Leichen das "vergoldete Zeitalter" errichtet wurde? Wenn Joaquin Miller in Shadows of Shasta eine wütende Anklage gegen die völkermörderische Politik der Regierung erhob, so lag dem sicher ehrliche Sympathie für ein Volk zugrunde, mit dem er ein Jahr lang zusammengelebt und das er zu respektieren gelernt hatte. Doch damals wie heute interessierten die Indianer nicht so sehr als reale, lebendige Menschen, sondern hauptsächlich als Projektionsfläche für die Sehnsüchte der weißen Künstler. Die stolzen Indianerkrieger in Millers Songs of the Sierras sind mythische Gestalten, tragische Vertreter eines edleren Zeitalters, vom Schicksal zum Untergang verurteilt, doch ungebrochen noch in ihrem Fall; die indianischen Mädchen schwarzäugige, leidenschaftliche "Töchter Montezumas", Kinder der Natur und der Sonne.
 
Dieselbe romantische Sehnsucht ließ Charles W. Stoddard einen melancholischen Blick zurück auf die Ära der franziskanischen Missionen werfen. Die Padres mit ihren riesigen, von indianischen "Konvertiten" bestellten Landgütern repräsentierten für ihn eine humanere, wahrhaft christliche Zeit: „That was, indeed, the golden age of the California missions; everybody was prosperous and proportionately happy.“ (14) Dem entbehrt nicht eine gewisse Ironie, verklärte Joaquin Millers Freund damit doch eine Institution, die ganz entscheidend zur Zerstörung der indianischen Kultur und Gesellschaft beigetragen hatte – wenn auch nicht mittels brutaler Ausrottung, sondern durch christliche "Umerziehung", Ansiedlung und "disziplinierte" Arbeit. Man fühlt sich ein wenig an die deutschen Romantiker erinnert, die das feudale Mittelalter als den Gipfelpunkt der europäischen Zivilisation verherrlichten. Allerdings vermitteln Stoddards Schriften den Eindruck, als sei es vor allem der melancholische Zauber der halbzerfallenen Kirchen und Missionsgebäude, der verblassenden Heiligenbilder und überwucherten Klostergärten gewesen, der die Liebe zur Welt der Padres in ihm geweckt hatte.

Ina Coolbrith schlug einen scheinbar völlig anderen Weg ein. Liest man ihre Songs from the Golden Gate, dann fällt einem vor allem auf, dass sie Schönheit ganz ausdrücklich im Unscheinbaren und Vergänglichen sucht: Ein Gänseblümchen, ein zwitscherndes Rotkehlchen, ein sonniger Frühlingstag in der Natur, ein flüchtiger Moment des Glücks. Man kann das natürlich furchtbar sentimental finden – "typisch Frau!" –, doch indem die Dichterin diesen Zug ihrer Lyrik so deutlich hervorhebt, scheint er mir eine besondere Bedeutung zu erlangen. Er wird zum Gegenentwurf angesichts der Gigantomanie des Gilded Age, einer Ära, in der man halbe Berge abträgt, um der Erde ihre Schätze zu entreißen, einen ganzen Kontinent in Rekordzeit mit einem Netz von Eisenbahnen überzieht und ‘Industriekapitäne’ als moderne Helden feiert, „who made a romance of money-making and who had dreams of empire unequaled by many kings of the past.“ (15) 

Neben all dem lockte schon damals die funkelnde See jenseits des Goldenen Tores zur Flucht in die tropischen Paradiese der Südsee, nach Hawaii oder Tahiti. Stoddard folgte mehr als einmal diesem verführerischen Ruf und verarbeitete seine Erlebnisse in Büchern wie South-sea Idylls. Wir werden später etwas genauer auf diesen Fluchtweg zurückkommen, denn er spielte auch für Clark Ashton Smith eine nicht unwichtige Rolle, obwohl dieser Kalifornien niemals verließ.

In einer der ersten Ausgaben des Overland Monthly erschien ein Artikel von George F. Parsons mit dem Titel What is Bohemianism?, der mit folgenden programmatischen Sätzen schloss: 
 
[T]he mission of Bohemianism in the nineteenth century is a mission of progress and enlightenment. By weary travel in foreign lands; by stubborn researches amid the graves of buried theories; by dauntless advancement of theses which an Old World, centuries ago, heard, and denounced, and crushed out with the iron heel of armed ignorance; by patient investigation and earnest thought, and ceaseless yearning after light and truth, they make their way. [...] truth-seekers and expounders, light-seekers and diffusers, liberty-seekers and bestowers. (16)

 
Ein hehres Ideal – aber wurden die Bohèmiens von San Francisco ihm wirklich gerecht? Bei allen Unterschieden hatten die Westküstenromantiker doch eines gemein: Sie sahen sich offenbar nicht in der Lage, dem triumphierenden Kapitalismus ihrer Tage eine wirkliche Alternative entgegenzustellen. So wie sie den Völkermord an den Indianern als ein tragisches, letztlich jedoch unaufhaltsames historisches Geschick betrachteten, standen sie auch den gesellschaftlichen Umwälzungen des Gilded Age weitgehend hilflos gegenüber. Sie konnten keine soziale Kraft ausmachen, die es mit den "robber barons" hätte aufnehmen und der amerikanischen Gesellschaft den Weg in eine bessere Zukunft hätte eröffnen können. Was blieb war der Blick zurück auf vergangene Zeiten, die Flucht in exotische Regionen oder der Rückzug in Ina Coolbriths kleinen Garten der bescheidenen Schönheit.

(Teil 2) * (Teil 3) * (Teil 4)



(1) Clark Ashton Smith (CAS) an George Sterling (GS) (27.1.1914). In: David E. Schultz & S.T. Joshi (Hg.): The Shadow of the Unattained. S. 102.
(2) CAS an Samuel J. Sackett (30.6.1949). In: Selected Letters of Clark Ashton Smith. S. 359.
(3) CAS an H.P. Lovecraft (HPL) (9.5.1926). In: Selected Letters of Clark Ashton Smith. S. 86.
(4) Vgl.: The Black Book of ClarkAshton Smith. § 18. / CAS an Margaret & Ray St. Clair (23.5.1933). In: Selected Letters of Clark Ashton Smith. S. 207f.
(5) Spitzname für die kalifornischen Goldgräber; nach dem antiken Heroen Jason und seinen Gefährten, die sich mit dem Schiff Argos – darum Argonauten – nach Kolchis aufmachten, um das Goldene Vlies zu erringen.
(6) Charles W. Stoddard: Old Days in El Dorado. In: Ders.: In the Footprints of the Padres. S. 66f.; 101.
(7) Zit. nach: James J. Rawls: A Golden State: An Introduction. In: James J. Rawls/ Richard J. Orsi (Hg.): A Golden State. Mining and Economic Development in Gold Rush California. S. 7f.
(8) Zit. nach: Charles A. & Mary R. Beard: History of the United States. Kap. 17.
(9) Frank Norris: The Octopus. A Story of California. S. 48.
(10) Zit. nach: Daniel Cornford: To Save the Republic. The California Workingmen’s Party in Humboldt County. In: Daniel Cornford (Hg.): Working People of California. S. 298.
(11) H. P. Lovecraft: Selected Letters. Bd. V. S. 397f.
(12) Joaquin Miller: Ina. In: Ders.: Songs of the Sierras. S. 167.
(13) Charles W. Stoddard: Early Recollections of Bret Harte. In: Ders.: Exits and Entrances. A Book of Essays and Sketches. S. 242.
(14) Charles W. Stoddard: Old Days in El Dorado. In: Ders.: In the Footprints of the Padres. S. 84. 
(15) Charles A. & Mary R. Beard: History of the United States. Kap. 18.
(16) Overland Monthly and Out West Magazine. Vol. 1; Issue 5; November 1868. S. 430.

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