Seiten

Freitag, 31. Oktober 2014

Trick or Treat




Wieder ist es mir nicht gelungen, pünktlich zu Halloween einen entsprechenden Blogpost fertigzustellen. Und so habe ich meiner verehrten Leserschaft zur Feier der Hohen Nacht der Geister, Hexen und Dämonen leider nichts weiter anzubieten, als eine kleine Auswahl von Links/Treats: 

1) In Mr. Jim Moons Gallerie der Ars Arcana findet sich seit heute Rado Javors großartiges Gemälde The Punpkin King.
2) Ein kleiner Beitrag des alten Gentlemans von Providence darf natürlich nicht fehlen: Hier kann man sein Gedicht Hallowe'en In A Suburb lesen und sich zugleich an einer Illustration des großen Virgil Finlay erfreuen.
3) Passend zu Samhain beglücken uns die "Monster Hunters" Roy Steel und Lorrimer Chesterfield mit ihrem neuesten Abenteuer
4) Oder wie wäre es mit einer unheimlichen Geschichte von Helen Grant: Grauer Hans?
5) Wer sich für die Historie von Halloween interessiert, sollte einen Besuch in Mr. Jim Moons Bibliothek der Träume in Erwägung ziehen und sich in einer Hypnogoria - Folge von epischer Länge darüber aufklären lassen.

Und so bleibt mir nichts weiter übrig, als allen meinen Leserinnen und Lesern
Happy Halloween
 zu wünschen.

Montag, 27. Oktober 2014

Von Maisfeldern und miesen Filmen

Natürlich kann nicht jede Stephen King - Verfilmung ein Klassiker wie Brian De Palmas Carrie (1974) oder Stanley Kubricks The Shining (1980) sein. Dazu gibt es einfach viel zu viele von ihnen Und obwohl ich die meisten nicht gesehen habe, gehe ich davon aus, dass selbst eher einfach gestrickte, doch kompetent gemachte Horrorunterhaltung, wie sie etwa Tobe Hoopers Salem's Lot (1979) oder Frank Darabonts The Mist (2007) bieten, in dieser Schar eher die Ausnahme denn die Regel bildet. Dennoch hatte ich nicht erwartet, dass sich Fritz Kierschs Children of the Corn als ein derart miserabler Film entpuppen würde 



Vielleicht war ich deshalb so extrem enttäuscht, weil ich den Flick schon seit urdenklichen Zeiten unbedingt einmal hatte sehen wollen. Das Thema  so weit mir bekannt  schien gruselig und vielversprechend zu sein. Und auch jetzt noch würde ich behaupten, dass Kiersch {der nebenbei bemerkt vier Jahre später auch für Gor verantwortlich zeichnen würde ...} und Drehbuchautor George Goldsmith ein vielleicht nicht unbedingt sehr originelles, aber dennoch recht vielversprechendes Material zur Verfügung stand, das sie aufs Sträflichste verhunzt haben.

1. Creepy Kids – Ich habe keine Ahnung, wann dieses Motiv erstmals seinen Eingang in die Welt des Horrors gefunden hat, aber über die Jahrzehnte hat es sich in ganz unterschiedlichen Formen immer wieder als äußerst fruchtbar erwiesen. Ich denke da u.a. an Wolf Rillas Village of the Damned (1960), Jack Claytons The Innocents (1961) oder {das wohl extremste Beispiel} Narciso Ibáñez Serradors ¿Quién puede matar a un niño? aka Who Can Kill A Child? (1976). 
Das Motiv wirkt wohl deshalb so verstörend, weil es gegen unsere Vorstellung von "kindlicher Unschuld" verstößt. Sei es, dass wir mit kaltblütig-"erwachsener" Grausamkeit in Kindsgestalt konfrontiert werden, sei es, dass sich "Unschuld" und Bösartigkeit auf beunruhigende Weise miteinander vermischen.
Das Problem mit Children of the Corn ist: Die "Kids" sind nicht wirklich "creepy". 
Courtney Gains als Malachai gibt einen recht überzeugenden jugendlichen "Bully" ab, dem es Vergnügen bereitet, Macht über andere zu haben, sie einzuschüchtern, zu verletzen oder gar zu töten. Aber ein "Bully" ist nicht per se unheimlich, und Malachai ist kein Kind. Sein Sadismus nimmt zweifellos extreme Formen an, doch im Kern unterscheidet er sich nicht wesentlich von Verhaltensweisen, die wir bei vielen Heranwachsenden tatsächlich beobachten können. Jeder Schulhof hat seine Malachais. 
Wirklich unheimlich – und damit der einzige echte Lichtblick des Films – ist nur John Franklins Isaac. Die Entscheidung, den Sektenführer nicht von einem Kind, sondern von einem kleinwüchsigen Erwachsenen spielen zu lassen, war in mehrfacher Hinsicht eine sehr glückliche. Zum einen sind wirkliche gute Kinderdarsteller eher selten, und vielleicht ebenso selten finden sich Regisseure, die es verstehen , mit ihnen zu arbeiten. Zum anderen wird der Figur des Issac damit auf subtile Weise eine irgendwie "unnatürliche" und darum verstörende Aura verliehen. Wenn man nicht weiß, dass Franklin zum Zeitpunkt des Drehs ein Mittzwanziger gewesen ist, rein optisch könnte man ihn beinah wirklich für ein Kind halten. Und doch umgibt ihn etwas sehr "unkindliches", nicht nur in seinen Worten und Handlungen, sondern auch in seinem Auftreten, seinen Bewegungen, seiner Mimik.
Der Rest der Kinder jedoch wirkt leider weder unheimlich, noch auch bloß wirklich bedrohlich. Während der erschreckend inkompetent in Szene gesetzten Verfolgungsjagd auf Burt (Peter Horton) hinterlassen sie einen beinah lächerlichen Eindruck, so leicht gelingt es unserem Helden, ihnen zu entkommen, obwohl sie ihn mehrfach umzingelt oder in die Enge getrieben haben. Und wenn Burt später eine ihrer "heiligen" Zeremonien brutal unterbricht und sie wie eine Horde dummer, ungezogener Gören behandelt, scheinen sie nicht zu wissen, wie sie auf den "blasphemischen" "Außenseiter" reagieren sollen, und versuchen nicht einmal ernsthaft, ihn davon abzuhalten, ihre Bibeln und "heiligen" Gefäße durch die Gegend zu schleudern. Nach dem Tod von Isaac und Malachai verwandeln sie sich denn auch von einem Moment auf den anderen in eine Schar verängstigter Kinder, die sich hilfesuchend an dieselben Erwachsenen wenden, welche sie vor kurzem noch ihrem Gott opfern wollten.  
Um diesen plötzlichen Wandel zu rechtfertigen, könnte man einwenden, es sei durchaus glaubhaft, dass Mitglieder einer autoritären Gemeinschaft den Kopf verlieren, sobald ihre "Führer" nicht mehr da sind, und sie sich so rasch wie möglich einer neuen Autorität unterwerfen werden {in diesem Fall halt der "natürlichen" Autorität der Erwachsenen}. Aber auch wenn dieses Argument durchaus logisch klingt, die Art, wie der Film die radikale Veränderung im Verhalten der Kinder in Szene setzt, wirkt schlicht unglaubwürdig. Vergessen wir nicht, diese Kinder haben vor wenigen Jahren ihre Eltern und alle erwachsenen Einwohner von Gatlin ermordet. Isaac mag das Blutbad angeordnet haben und Malachai war sicher schon damals der eifrigste Killer, aber die beiden haben nicht als einzige die Sichel geschwungen.

2. Religiöser Fanatismus + Pseudoheidnische Riten – Zufällig habe ich gerade Ramsey Campbells Roman Hungriger Mond (The Hungry Moon) gelesen. Und auch wenn der mich nicht restlos überzeugt hat, gibt er doch ein hübsches Beispiel dafür ab, wie man die Grausamkeit des christlichen Fundamentalismus mit dem Motiv vorzeitlich-dämonischer Schrecken verknüpfen kann. 
Zumindest ansatzweise wäre etwas ähnliches auch in Children of the Corn möglich gewesen. Immerhin spielt die Handlung in einer ländlichen Region des Bible Belt, und einige Züge der von Isaac geschaffenen Sekte sollen wohl sehr bewusst Assoziationen mit extremen Formen des amerikanischen Protestantismus wecken. So vor allem die alttestamentarischen Namen, welche die Kinder sich zugelegt haben. Doch leider macht der Film nicht viel aus diesen Ansätzen. Außer ein zwei oberflächlichen Seitenhieben auf fanatische Radioprediger enthält er keinerlei Versuche, das mörderische Treiben der kindlichen Anhänger von "He Who Walks Behind The Rows" mit dem nicht sehr viel sympathischeren realen Treiben christlicher Fundamentalisten in Verbidnung zu bringen.

3. Die Maisfelder – Scheinbar grenzenlos und völlig menschenleer ... Für den, der sich mitten in ihnen befindet, einem Labyrinth nicht unähnlich ... Der Wind, der knisternd durch die Halme streift ... Mit dem sensiblen Auge eines echten Filmemachers betrachtet, hätten die Maisfelder auf sehr effektvolle Weise dem Heraufbeschwören einer unheimlichen Atmosphäre dienstbar gemacht werden können. Ansatzweise versucht dies Kiersch auch ein-zwei Mal, doch leider mit nur geringem Erfolg. Zumal die entsprechenden {sehr kurzen} Szenen recht unverbunden neben denen stehen, die im Dorf selbst spielen. Und die ausgestorbene Geisterstadt Gatlin könnte in atmosphärischer Hinsicht genausogut in einem abgelegenen Winkel der Appalachen liegen.

Ich habe Stephen Kings Kurzgeschichte nicht gelesen, ebensowenig kenne ich das Remake von 2009. Dennoch bin ich mir ziemlich sicher, dass es ein fataler Fehler der Produzenten war, Kings eigenes Drehbuch {auf dem der 2009er Film basiert} zugunsten von Goldsmiths Script zurückzuweisen. 
Allem Anschein nach sollte nach den Vorstellungen des Schriftstellers die Beziehung zwischen Burt und Vicky ("Sarah Connor" Linda Hamilton) eine sehr viel zentralere Rolle spielen. In der Short Story befindet sich ihre Beziehung in einer tiefen Krise, und die Urlaubsreise, die sie ins ländliche Nebraska und nach Gatlin führt, ist als ein letzter Versuch gedacht, diese zu kitten. Vor diesem Hintergrund würde das Verhalten der beiden, das wir in Children of the Corn zu sehen bekommen, sehr viel mehr Sinn machen. Burt will unbedingt herausfinden, was in Gatlin vor sich geht, und ignoriert dabei alle Einwände seiner Frau, der der Ort unheimlich ist und die möglichst schnell von dort verschwinden will. Wenn wir glaubhaft vermittelt bekommen hätten, dass die beiden kurz vor einer Trennung stehen, würden wir dieses unsensible und beinah etwas aggressive Verhalten in einen Kontext einordnen können, der es realistischer erscheinen ließe. Auf einem Vorhaben oder einer Ansicht zu beharren, gerade weil der Partner oder die Partnerin das Gegenteil vertritt, kommt in sterbenden Beziehungen ja nicht unbedingt selten vor. Ohne diesen Hintergrund jedoch wirkt das Ganze bloß wie ein weiteres Beispiel für die in gar zu vielen Horrorfilmen zu beobachtende Regel, dass sich die Helden dumm verhalten müssen, weil es sonst keine Story gäbe. Wenn Burt auf Vicky gehört hätte {was bloß vernünftig gewesen wäre}, die beiden wären in die nächste Kleinstadt gefahren, hätten dort die Polizei informiert und selbige hätte vermutlich ohne viel Blutvergießen und tricktechnisch miese Auftritte dämonischer Maisgötter die Lage in Gatlin bereinigt.

Nein, Children of the Corn ist wirklich kein guter Film, und warum er zur Produktion von sage und schreibe sieben Sequels geführt hat, mag "He Who Walks Behind The Rows" wissen. Für mich stellt das ein unlösbares Rätsel dar. 

Samstag, 25. Oktober 2014

Strandgut der Woche

Montag, 20. Oktober 2014

"The Once and Future King"

Vor gut einem Monat habe ich an dieser Stelle meiner Vorfreude darüber Ausdruck verliehen, dass BBC4 - Radio in diesem Dezember eine Hörspieladaption von Terry Pratchetts & Neil Gaimans grandiosem Roman Good Omens in den Äther schicken wird. 
{Inzwischen haben mich ein Leser und eine Leserin dieses Blogs freundlicherweise darauf aufmerksam gemacht, wie auch ich als eher unerfahrener deutscher Cybernaut in den Genuss dieser Sendung kommen kann. Dafür noch einmal vielen Dank!}

Nun habe ich erfahren, dass uns Phantastik-Freunden und -Freundinnen bereits zuvor ein weiteres {potentiell} wunderbares Geschenk von BBC4 gemacht werden wird. Bereits im November werden wir uns an einer Hörspielfassung von The Once and Future King erfreuen können. Wenn ich mich recht entsinne, nicht die erste Radio-Adaption von T.H. Whites klassischer Bearbeitung der Artusgeschichte. Aber um ehrlich zu sein: Kann es zu viele davon geben? 

The Once and Future King ist zwar nicht mein absoluter Favorit unter den modernen Aneingnungen des Artusstoffes. Da würde ich persönlich die Krone Naomi Mitchisons To the Chapel Perilous verleihen. Dennoch gehört Whites Romantrilogietetralogie, die einen ebenso liebevollen wie spielerisch-ironischen Umgang mit mittelalterlicher Dichtung & Kultur mit einer {auch heute noch sehr zeitgemäßen} Auseinandersetzung mit dem Problem politischer Macht verbindet {und dabei sehr deutlich Totalitarismus, Nationalismus und Militarismus jedweder Couleur verdammt}, meiner Meinung nach zu den ganz großen Klassikern der Fantasyliteratur. Alles, was dazu beitragen kann, dass sich eine neue Generation mit diesen Büchern auseinandersetzt, genießt allein schon deshalb  meine rückhaltlose Unterstützung. 

Zusatz:
Ich habe das noch einmal nachgeprüft. Offenbar existieren sogar bereits zwei ältere BCC-Hörspieladaptionen von The Sword in the Stone, dem ersten Teil von The Once and Future King. Die ältere von ihnen (1939) enthält Musik von Benjamin Britten, in der jüngeren (1982) wird die Rolle des Merlin vom großen Michael Hordern gesprochen, Freundinnen & Freunden des phantastischen Films möglicherweise am ehesten als Prof. James Parkin aus Jonathan Millers grandioser Adaption von M.R. James Oh, Whistle and I'll Come To You, My Lad bekannt. Eine Radiobearbeitung aller vier Teile scheint es jedoch noch nicht zu geben. Dafür kann ich mich daran erinnern, einmal eine Hörspielfassung von Tankred Dorsts Merlin oder Das wüste Land im Radio gehört zu haben, und dieses Theaterstück ist ja ursprünglich aus dem Versuch erwachsen, eine Bühnenfassung von The Once and Future King / Der König auf Camelot zu kreieren.

Samstag, 18. Oktober 2014

Strandgut der Woche

Montag, 13. Oktober 2014

Lovecrafts morbider Traditionalismus

Zu Beginn von H.P. Lovecrafts Traumsuche nach dem unbekannten Kadath (The Dream-Quest of Unknown Kadath) schaut Protagonist Randolph Carter die Vision einer strahlenden „Stadt der Schönheit und überirdischen Immanenz“, die offensichtlich die Utopie eines kultivierten Lebens verkörpern soll:
Ganz golden und lieblich glänzte sie im Sonnenuntergang, mit Mauern, Tempeln, Kolonnaden und Bogenbrücken aus geädertem Marmor, Fontänen prismatischen Sprühregens in silbernen Bassins auf weiten Plätzen und inmitten duftender Gärten und breiten Straßen, die zwischen köstlichen Bäumen, blütenüberladenen Urnen und glühenden Reihen elfenbeinerner Statuen verliefen, während an schroffen Nordhängen Zeilen roter Dächer und alter, spitzer Giebel emporklommen und kleine grasüberwachsene Pflastersträßchen beherbergten. Sie war ein Fieber der Götter, eine Fanfare himmlischer Trompeten und ein Geschmetter unvergänglicher Zimbeln. Geheimnis umlagerte sie wie Wolken einen sagenhaften unbestiegenen Berg, und als Carter atemlos und erwartungsvoll auf jener Brustwehr mit dem steinernen Geländer ringsum stand, da schwemmten zu ihm herauf Bitternis und Zweifel fast versunkener Erinnerung, der Schmerz über verlorene Dinge und das rasende Bedürfnis, sich wieder dessen zu entsinnen, was einst eine ehrfurchtgebietende und wichtige Stätte gewesen war.
Da die Götter ihm den Zugang zu diesem Paradies verwehren, macht sich Randolph Carter auf die Suche nach dem geheimnisvollen Kadath, dem Olymp des Traumlandes, um seine Bitte den Unsterblichen direkt vorzulegen. Als er nach vielem hin und her endlich den Gipfel des Berges erreicht hat, wird ihm dort von dem satanischen Nyarlathotep eröffnet, dass die wundersame Stadt nichts anderes sei, als „die Summe dessen, was du in der Jugend geschaut und geliebt hast“. Das Paradies ist ... Neuengland!


Die Pracht von Bostons Hügeldächern und Westfenstern ... das antike Salem mit seinen brütenden Jahren ... Providence, schmuck und herrschaftlich auf seinen sieben Hügeln über dem blauen Hafen ... kühle Täler in Concord, Pflasterstraßen in Portsmouth, dämmerige Wegbiegungen im ländlichen New Hampshire ... Dies alles, Randolph Carter, ist deine Stadt; denn du bist es selbst. New England gebar dich, und in deine Seele goß es eine sanfte Lieblichkeit, die nicht sterben kann. (1)
 
Hinter der prachtvollen Fassade der "Stadt im Sonnenuntergang" verbirgt sich ganz offensichtlich in erster Linie die Sehnsucht nach der sicheren und geborgenen Welt der Kindheit, und auf einmal liegt ein Hauch von Neverland über den lovecraftschen Traumgefilden. Robert M. Price vertritt in einem Artikel in Nightscapes die interessante These, die Traumreise sei u.a. von L. Frank Baums The Wonderful Wizard of Oz inspiriert worden. Die Parallelen mögen nicht so eindeutig sein, wie Price zu glauben scheint, aber es ist schon etwas dran an dem Vergleich, der düster-zynischen Lovecraftianern vermutlich wie eine Beleidigung ihres Meisters vorkommen muss.
Die Erinnerung an die Welt seiner Kindertage rettet Randolph Carter schließlich davor, vom chaotischen Limbus der Äußeren Götter verschlungen zu werden, und führt ihn glücklich zurück ins heimatliche Boston. 

Lovecraft verfasste The Dream-Quest of Unknown Kadath in jener äußersten kreativen Phase seines Lebens, die unmittelbar auf seine Rückkehr von New York nach Providence im Jahr 1926 folgte und über die er 1927 in einem Brief an Clark Ashton Smith schrieb:
  
What I absolutely must have - & that is about the only thing really essential to me - is a general atmosphere exactly like that of my youth - the same scenes, the same kind of faces & voices & thoughts & opinions around me - the same type of sounds & impressions. I did not realise my dependence on these things till I tried living in New York, but then I was very soon made to see my essential attachment to them. I discovered that the cosmic & cosmopolitan element in me is the thinnest of veneers, & that I am actually - so far as all the deeper emotions & springs of action are concerned - an extremely localised New Englander of the most pronounced type. In New York my mental processes were virtually atrophied for want of contact with the impressions which form their exclusive nourishment - I was an unassimilated alien there, & always would have been. Only the return home liberated & resuscitated my faculties, such as they are. [...] That ethereal sense of identity with my own native & hereditary soil & institutions is the one essential condition of intellectual life - & even of a sense of complete existence & waking reality - which I cannot do without. Like Antaeus of old, my strength depends on repeated contact with the soil of the Mother Earth that bore me. (2)

Selbst der in derselben Periode entstandene Silberschlüssel (The Silver Key) – jene Story, in der Lovecraft sein Ideal einer von der Realität losgelösten Kunst am offensten formulierte – ist nur scheinbar eine Geschichte über das Wiederfinden des Traumlandes. In Wirklichkeit geht es auch in ihr hauptsächlich um die Rückkehr in die Heimat. Als Randolph Carter jenen Schlüssel findet, der ihm schließlich das Tor der Träume wieder aufschließen wird, beginnt er nächtliche Visionen zu empfangen,
deren Sinn nicht mißzuverstehen war. Sie riefen ihn über die Jahre zurück und zogen ihn mit dem vereinten Willen aller seiner Vorväter zu einem verborgenen Ursprung. Da wußte er, daß er in die Vergangenheit gehen und sich mit den alten Dingen verschmelzen mußte (3)
Also fährt er zurück ins heimatliche Neuengland und sucht den alten, inzwischen verlassenen Familiensitz auf. Und während er nach und nach in die Welt seiner Kindheit zurückgleitet, eröffnet sich ihm aufs neue der Pfad ins Land der Träume. Doch das Durchschreiten des Tores wird nicht mehr beschrieben und zurück bleibt vor allem der Eindruck einer Heimkehr zu den Wurzeln von Familie und Tradition.

Sein literarisches Werk wie seine private Korrespondenz lassen keinen Zweifel daran, wie wichtig Heimat und Tradition für den Alten Gentlelman waren. Dennoch sah er in der phantastischen Kunst in erster Linie ein Mittel, die Grenzen des Bekannten zu überschreiten und der als unerträglich empfundenen Realität zu entfliehen. Auch wenn die Sphären, in die vorzustoßen er dabei beabsichtigte, in seinem späteren Oeuvre nicht mehr die farbenfrohen Gefilde der von Lord Dunsanys Dichtungen inspirierten "Traumlande", sondern die kosmischen Abgründe des Cthulhu-Mythos waren. In gewisser Hinsicht wirkt das wie ein Widerspruch. Weshalb verlangte es Lovecraft nach den Weiten des Kosmos, wenn er das Heil doch ohnehin längst im Anblick der grünen Hügel Neuenglands gefunden hatte? Warum schrieb er nicht einfach nur noch lyrische Gedichte über die Schönheit von Rhode Island und Massachusetts?
 
Zumindest einen Teil der Antwort finden wir in der 1921 entstandenen Traumland-Geschichte Iranons Suche (The Quest of Iranon).
Dort wird von einem wandernden Sänger berichtet, der auf der Suche nach seiner feenhaft schönen Heimat Aira von Stadt zu Stadt zieht, ohne je sein Ziel zu erreichen. Er selbst bezeichnet sich als Prinz und Thronerbe von Aira, das er in frühester Kindheit verlassen habe Die beiden wichtigsten Orte, zu denen Iranon auf seiner Wanderung gelangt, sollen offensichtlich zwei Lovecraft besonders verhasste Aspekte der modernen Gesellschaft verkörpern. Da ist zum einen die Granitstadt Teloth mit ihren „düsteren, viereckigen Häusern“, deren Bewohner nur auf Nützlichkeit und praktische Arbeit bedacht sind und für die Schönheit und Poesie bloße Zeitverschwendung darstellen, zum anderen Oonai, die „Stadt der Lauten und Tänze“, ein Ort nie endender sinnloser Orgien und Ausschweifungen, in der die Kunst zu einem reinen "Unterhaltungsartikel" verkommen ist. Und so zieht der scheinbar ewigjunge Iranon weiter durch die Lande, „während er von Aira, Wonne der Vergangenheit und Hoffnung der Zukunft“ singt. Bis er eines Tages einem alten Hirten begegnet, der ihm die Wahrheit über seine Herkunft enthüllt. Es habe nie ein strahlendes Aira gegeben, doch der Alte kann sich an einen Bettlerjungen aus seiner Kindheit erinnern, der sich einbildete, Prinz in einer Stadt dieses Namens gewesen zu sein:
Und im Zwielicht, als einer nach dem anderen die Sterne hervortraten und der Mond auf die Marsch einen Glanz warf, so wie ihn ein kleiner Junge auf dem Fußboden zittern sieht, während er abends in den Schlaf gewiegt wird, schritt in den tödlichen Treibsand hinein ein sehr alter Mann in zerlumptem Purpur, gekrönt mit welkem Weinlaub, und schaute dabei voraus wie auf die goldenen Kuppeln einer hehren Stadt, wo Träume verstanden werden. In dieser Nacht starb etwas an Jugend und Schönheit in der älteren Welt. (4)
Ohne behaupten zu wollen, The Quest of Iranon sei eine autobiographische Erzählung, dürfte eines doch feststehen: Im Innersten wusste Lovecraft, dass auch das Neuengland seiner Träume nur ein Trugbild war
.
Er empfand ohne Zweifel eine tiefe und ehrliche Liebe zur Landschaft Rhode Islands und zu den Überresten kolonialer Architektur in den Städten Providence und Newport. In einem Brief an Clark Ashton Smith bezeichnete er sich einmal als einen „natural-born rustic whose tastes run largely to green fields & venerable groves“ (5), und tatsächlich streifte er oft stundenlang durch die Wälder von Quinsnicket nördlich seiner Heimatstadt, um sich schließlich auf einem großen Felsblock über dem See niederzulassen – „a favourite haunt of mine“ – lesend, schreibend oder einfach die Szenerie des neuenglischen Vorfrühlings genießend:
There were still patches of snow on the shady slopes, & the ice of the ponds was still unmelted; but brooks were running genially & noisily, & a haze of awakening lay upon all the hills & upland meadows. There is a curious magic in a New England spring even before the visual scene takes on beauty. It always makes me regret my lack of poetic powers. (6) 
Entgegen dem Klischee vom einsiedlerischen Horrorschriftsteller, der nur des nachts bei Kerzenschein schreibt, arbeitete Lovecraft bei gutem Wetter so oft es ging im Freien, „thus drawing some modicum of stimulus from the green loveliness of spring & the winding, archaic lanes of old Providence ......“ (7) In seinen Briefen finden sich mitunter Landschaftsskizzen von geradezu lyrischer Qualität:
Nothing else on earth has power to thrill me as poignantly as an old Rhode-Island upland at sunset, with straggling lines of stone wall, cool woods in the background, & dappled kine with tinkling bells strolling homeward through the green of the grass & the grey of the out-cropping granite ledges. And the little white gables of archaic farmhouses, windows lighting up one by one to match the twilight fireflies by the still meadow pool, are things without which I could not live very long ...... (8)
Doch bezeichnenderweise spielen die menschlichen Bewohner Rhode Islands in diesem Idyll keine Rolle, „except as vague & distant decorative elements, to be classified according to what their dress, physiognomy, & voice contribute to the general geographical impression.“ Wenn Lovecraft in einem Brief an James F. Morton die berühmt gewordene Formulierung „I am Providence“ verwendete, die heute seinen Grabstein ziert, so bezog sich das nicht auf die reale Stadt der 20er Jahre, deren Einwohner ihm stets fremd blieben und mit denen er eigentlich auch gar nichts zu tun haben wollte: „As a matter of fact, the mental attitude of Providence would probably be decidedly hostile to me if I tried to mingle in it - but I've never tried, so far.“ (9)
Das nüchterne und geschäftstüchtige Yankeetum kann kaum nach seinem Geschmack gewesen sein, und in einer seiner Erzählungen beklagt er ausdrücklich „Neuenglands selbstzufriedene Taubheit für die feinen Obertöne des Lebens“ (10) Die Stadt an der Narragansett Bay, in der er lebte, war ganz sicher nicht die magische "Stadt im Sonnenuntergang", und das Neuengland, mit dem er sich identifizierte, blieb bei aller Liebe zu den felsgekrönten Hügeln und grünen Wäldern von Rhode Island eine mythische Landschaft. Nicht zufällig steht das fiktive Arkham im Zentrum vieler seiner Erzählungen und keine reale Stadt wie Boston oder Providence. (11)
Ist Lovecrafts Neuengland in gewisser Hinsicht also nicht weniger irreal als das Traumland, so unterscheidet es sich doch sehr deutlich durch seine provinziellen Dimensionen von den unendlichen Weiten der Meere, Wüsten und Dschungel, die Randolph Carter auf seiner Wanderung zum Kadath durchqueren muss. Und während Basil Eltons Fahrt auf dem Weißen Schiff (The White Ship) diesen möglichst weit von der einsamen Insel mit dem North-Point-Leuchtfeuer wegführen sollte, „das vor mir mein Vater und mein Großvater hüteten" (12), steht die neuenglische Heimat für das Verwurzeltsein in Tradition und Familie. Und zwar nicht so sehr in der real existierenden Familie, als vielmehr in der langen Reihe verehrungswürdiger Ahnen: 
 
My Providence! What airy hosts
Turn still thy gilded vanes;
What winds of elf that with grey ghosts
People thine ancient lanes!
The chimes of evening as of old
Above thy valleys sound,
While thy stern fathers 'neath the mould
Make blest thy sacred ground. (13)
 
Aber auch hier stellen sich gewisse Probleme ein, wenn wir versuchen, Idee und Wirklichkeit miteinander in Einklang zu bringen
Lovecraft entstammte einer sehr alten Familie. Die mütterliche Linie der Phillipses ließ sich beinahe bis zur Mayflower, der väterliche Name der Lovecrafts bis ins England des 15. Jahrhunderts zurückverfolgen. Für jemanden, der sich so viel aus Abstammung machte, war das sicher Grund genug für einen ausgeprägten Ahnenstolz. Doch Sippschaft und Blutlinie sollten ja vor allem als Vermittler der Tradition fungieren, die Lovecraft als den einzig sicheren Halt inmitten einer chaotischen Welt betrachtete:
 
Now what gives one person or race or age relative painlessness & contentment often disagrees sharply on the psychological side from what gives these same boons to another person or race or age. Therefore ‘good’ is a relative & variable quality, depending on ancestry, chronology, geography, nationality, & individual temperament. Amidst this variability there is only one anchor of fixity which we can seize upon as the working pseudo-standard of ‘values’ which we need in order to feel settled & contented – & that anchor is tradition, the potent emotional legacy bequeathed to us by the massed experience of our ancestors, individual or national, biological or cultural. Tradition means nothing cosmically, but it means everything locally & pragmatically because we have nothing else to shield us from a devastating sense of ‘lostness’ in endless time & space. (14)
 
Wie alle "kosmischen" Argumentationen des alten Gentleman dürfen wir auch diese nicht einfach so hinnehmen wie sie dasteht. Lovecrafts ohne Zweifel sehr starkes Gefühl der Verlorenheit hatte wohl in erster Linie nur wenig mit der Endlosigkeit von Zeit und Raum zu tun. Wenn er der Tradition einen so hohen Stellenwert einräumte, dann nicht, weil sie uns vor dem "kosmischen Grauen" bewahrt, sondern weil sie ihm das einzige Bollwerk gegen eine gesellschaftliche Entwicklung zu sein schien, von der er glaubte, dass sie in den Untergang der Zivilisation münden werde: Der Zerfall der überkommenen sozialen Ordnung; Aufruhr und Anarchie; die Entfesselung der animalischen Triebe; der rasende Cthulhu ... davor soll das Festhalten an der Tradition uns bewahren. In diesem Punkt flossen Lovecrafts moralischer und kultureller Konservatismus mit seinem Ahnenkult und seinem Rassismus in eins:
 
No settled & homogeneous nation ought (a) to admit enough of a decidedly alien race-stock to bring about an actual alteration in the dominant ethnic composition, or (b) tolerate the dilution of the culture-stream with emotional & intellectual elements alien to the original cultural impulse. Both of these perils lead to the most undesirable results - i.e.,the metamorphosis of the population away from the original institutions, & the twisting of the institutions away from the original people.....all these things being aspects of one underlying & disastrous condition - the destruction of cultural stability, & the creation of a hopeless disparity between a social group & the institutions under which it lives. (15)
  
Die Entfremdung der Bevölkerung von den Institutionen des Staates ... .Ganz wie zu Zeiten von The Street fürchtete Lovecraft vor allem immer noch eines – Die Revolution. (16) Und mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 sollte diese Furcht ständig neue Nahrung bekommen.
Aber wenn er von der Rückbindung an die Tradition als einzigem Schutz vor einem drohenden Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung sprach, an welche Tradition genau dachte er dann eigentlich?
Vordergründig betrachtet fußte sein Konservatismus auf den rückständigen Idealen und Wertvorstellungen der landbesitzenden Gentry, deren Spross er war. Wie diese aussahen, bekam Noch-Ehefrau Sonia zu spüren, als sie 1926 – das Paar lebte bereits seit gut einem Jahr getrennt – vorschlug, gleichfalls nach Providence zu ziehen und dort ein eigenes Geschäft zu eröffnen. HPL und seine Tanten machten ihr sehr schnell klar, dass sie es mit ihrem sozialen Status nicht vereinbaren könnten, wenn die Gattin eines Lovecraft – zu allem Überfluss auch noch eine Jüdin – sich als selbstständige Geschäftsfrau in der Heimatstadt der Sippe niederlassen würde. Dies hätte ihrem gesellschaftlichen Ansehen geschadet! Das versetzte der Ehe endgültig den Todesstoß, auch wenn es erst drei Jahre später zur rechtskräftigen Scheidung kommen sollte. Wer die bürgerliche Gesellschaft Neuenglands im beginnenden 20. Jahrhundert genauer kennen lernen will, der sollte Edith Wartons großartigen Roman House of Mirth lesen. Was sich ihm oder ihr dabei zeigt, wird kaum geeignet sein, Sympathien zu wecken.
Aber – so möchte man ausrufen – dieser ordinäre Snobismus verarmter Kleinstadt-Gentlefolks kann doch unmöglich den ganzen Inhalt von Lovecrafts strahlender Vision der "Stadt im Sonnenuntergang" ausgemacht haben! Natürlich nicht. Doch an diesem Punkt setzen die inneren Widersprüche seines Traditionalismus ein.
Lovecraft liebte und verehrte das achtzehnte Jahrhundert, jene Ära „der Schönheit, Rationalität und geistigen Weite“ (17), doch meinte er damit in erster Linie das englische, nicht das amerikanische achtzehnte Jahrhundert. Was weiter nicht verwunderlich ist, denn seine Begeisterung speiste sich hauptsächlich aus der Literatur jener Epoche, und die Kolonien brachten niemanden hervor, der einem Pope, Swift, Johnson, Addison, Defoe oder Sterne hätte das Wasser reichen können. Mit einem verhältnismäßig gut entwickelten Bildungssystem, einem lebendigen Pressewesen und nicht zuletzt natürlich mit der Revolution schuf das 18. Jahrhundert zwar die Grundlagen, doch von einer wirklich eigenständigen amerikanische Literatur von Rang kann erst mit dem Auftreten James Fenimore Coopers und Washington Irvings die Rede sein. Und so verschmolz in Lovecrafts Phantasie auf ganz eigenartige Weise der nostalgische Blick auf Neuengland mit einem verklärten Bild des alten England. Über seine Liebe zu Providence schrieb er einmal: „I have a very real affection for the old town with its ancient steeples & belfries, hills & corners, courts & lanes, all reminding me of that 18th century & that Old England which I love so well.“ (18) Für ihn bildete das vermutlich keinen Widerspruch, verkörperten doch sowohl Neuengland als auch der englische Klassizismus die Tugenden der angelsächsischen Rasse. Doch es ist schon bemerkenswert, dass jemand, der so oft seine Verwurzelung im Mutterboden Rhode Islands betonte und im Kampf gegen den Kosmopolitismus der Moderne darauf beharrte, dass Kunst at bottom exceedingly nativistic & nationalistic“ (19) sei, sich selbst in erster Linie als Erbe einer geistigen und literarischen Tradition verstand, die nicht in Providence oder Boston, sondern im fernen London beheimatet gewesen war. Mehr noch – der von ihm angebetete Klassizismus war Ausdruck einer höfisch-aristokratischen Gesellschaft gewesen, wie es sie in dieser Form in Amerika nie gegeben hattte. Um sich klarzumachen, wie fremd diese angebliche "Tradition" dem Geist Amerikas in Wirklichkeit war, reicht es aus, sich Alexander Popes geistreich-witziges Versepos The Rape of the Lock anzuschauen – zu recht eines der berühmtesten Werke des englischen Klassizismus: Losgelöst von der höfisch-mondänen Londoner Gesellschaft adeliger Müßiggänger mit ihrer strengen Etikette und ihren sinnlosen Vergnügungen, die Pope in seinem Gedicht zugleich verspottet und verherrlicht, wäre diese meisterhafte Satire überhaupt nicht denkbar. Und nun stelle man sich daneben das puritanische Neuengland mit seinen biederen, gottesfürchtigen und geschäftstüchtigen Kaufleuten und Handwerksmeistern vor. Ein größerer Gegensatz lässt sich kaum denken. Die Gentry und die in die Kolonien ausgewanderten Teile des englischen Kleinadels mögen auf ihren Landsitzen versucht haben, den Lebensstil und die Kultur der königlichen Metropole nachzuahmen, doch das war nie mehr als eine blutarme Kopie und hatte ganz sicher zu keiner Zeit den Charakter Neuenglands entscheidend geprägt.
.
Wäre es Lovecraft tatsächlich um die traditionellen Wurzeln der neuenglischen Kultur gegangen, so hätte er sich viel eher auf die puritanische Theokratie zurückbesinnen müssen, die im 17. Jahrhundert in Massachusetts geherrscht hatte – auf jene Despotie der Tugend also, deren selbstgerechte Grausamkeit und gottesfürchtige Heuchelei Nathaniel Hawthorne in seinem berühmten Scarlet Letter auf so eindrucksvolle Weise beschrieben hat, und deren grausigstes Produkt der Hexenwahn von Salem im Jahre 1692 gewesen war. Statt auf Pope und Johnson hätte er sich dann auf Cotton Mather berufen müssen.
Dessen Name taucht tatsächlich mehrfach in seinen Geschichten auf, doch glich Lovecrafts Meinung über das literarische Talent des bekannten Predigers, Chronisten und Hexenjägers wohl der seines exzentrischen Malers Richard Pickman, der über die „albernen ‘Magnalia [Christi Americana]’“ und die „hirnrissigen ‘Wunder der Unsichtbaren Welt’“ (20) spottet. Nein – mit dem Regime der gestrengen Gottesmänner konnte er nichts anfangen, und er hasste und verachtete das „dunkle puritanische Zeitalter, das voll von verborgenem Grauen und Hexengeflüster“ (21) war, auch wenn er dessen Einfluss auf die Entwicklung der amerikanischen Horrorliteratur und vor allem auf Hawthornes unheimliche Erzählungen anerkannte. (22)
Doch auch seine Liebe zum aufgeklärten 18. Jahrhundert verrät eine ausgesprochen einseitige und verkürzte Sicht dieser Epoche. Schätzte er am Klassizismus die formale Strenge, die gemessene Würde und den feinen Witz, so war ihm dessen optimistischer Humanismus vollkommen fremd. Und so erstarrte seine Begeisterung für Dichter wie Dryden und Pope in der sterilen Forderung nach ‘metrical regularity’. (23) In A Reminescence ofDr. Samuel Johnson bekundete er seine Verehrung für Voltaire, und dass der Autor des Candide nach seinem Geschmack gewesen ist, kann man sich in der Tat gut vorstellen. Auch Jonathan Swifts ätzendem Zynismus fühlte er sich sicher sehr nahe . Doch war dies nicht die vorherrschende Geisteshaltung des 18. Jahrhunderts, weder unter den klassischen Dichtern noch unter den aufklärerischen. Philosophen
Worin Lovecraft den Denkern der Auflärung tatsächlich nahestand, war seine kompromisslose Feindschaft gegen den religiösen Aberglauben. Und in diesem Bereich war es auch, dass er zumindest einmal versuchte, ihrem Vorbild praktisch nachzueifern und seinen Beitrag zu leisten in „humanity’s age-long struggle for emancipation from the ignoble chains of superstition“. (24) Auslöser hierfür war interessanterweise die Bekanntschaft mit Harry Houdini. Der weltberühmte Zauberkünstler hatte es sich seit Anfang der 20er Jahre zur Aufgabe gemacht, spiritistische Medien und andere mystische Scharlatane zu entlarven, wobei ihm seine beträchtliche Berufserfahrung als Illusionist zugute kam. In seinen Bühnenshows führte er z.B. regelmäßig die Tricks vor, mit denen das bekannte Bostoner "Medium" Mina Crandon ihre leichtgläubigen "Kunden" hinters Licht führte. Nachdem Lovecraft für Houdini die Story Gefangen bei den Pharaonen (Under the Pyramids) geschrieben hatte, schlug ihm der Magier eine Zusammenarbeit im Kampf gegen den Aberglauben vor. HPL verfasste einen Artikel für Houdini, in dem er die Absurdität der Astrologie wissenschaftlich darlegte, und man kam überein, gemeinsam eine antiokkultistische Aufklärungsschrift unter dem Titel The Cancer of Superstition herauszugeben. Leider starb der große Magier, bevor das Projekt ernsthaft in Angriff genommen werden konnte.
Aber von dieser sympathischen Episode einmal abgesehen, lässt sich Lovecraft schwerlich als "Aufklärer" charakterisieren. Zwar feierte er das 18. Jahrhundert als Ära der Rationalität, doch war sein Vernunftbegriff anders als der der großen Denker der Aufklärung passiv und "asozial". Sein Ideal des Wissenschaftlers und Philosophen war das eines „selfish individualist who gratifies the personal human instinct of cosmic curiosity for its own sake.“ Jeder Gedanke an den gesellschaftlichen Nutzen seiner Forschung müsse ihm fremd sein, andernfalls sei er bloß ein primitiver Utilitarist. Seine Vorbilder waren dabei die vorsokratischen Naturphilosophen wie Thales, Heraklit, Demokrit, Leukippos, Pythagoras oder Empedokles. Für den „satyr-faced pragmatist“ Sokrates und vor allem für den „unctuous windbag Platon hatte er hingegen nichts als Verachtung übrig, denn der erstere hatte sich hauptsächlich für moralische, der letztere gar für soziale und politische Fragen interessiert. In seiner Politeia (Der Staat) und den Nomoi (Die Gesetze) hatte Platon ja sogar das Ideal eines „collectivist state“ entworfen, und mit solchem Unsinn können sich natürlich nur marxistische Spießer und „moustacheletted little Chestertons“ abgeben, aber keine wahren Philosophen. (25)
Das sahen die aufklärerischen Denker des 18. Jahrhunderts freilich ganz anders. Für sie war die Vernunft nicht nur ein Werkzeug, um die Geheimnisse der Natur zu ergründen, sondern auch die Richtschnur, nach der die menschliche Gesellschaft eingerichtet werden sollte. Zwischen Politik und Wissenschaft existierte für sie keine unüberwindliche Barriere. Oft genug fand sich beides sogar in ein und derselben Person vereinigt. Und wer würde sich da wohl besser als Beispiel eignen, als ausgerechnet einer der größten Söhne Neuenglands: der in Boston geborene und aufgewachsene Benjamin Franklin – Autodidakt, Schriftsteller, Naturforscher, Erfinder, revolutionärer Politiker und Diplomat; außergewöhnlicher Vertreter eines einmaligen Momentes im Drama der Weltgeschichte, als der Kleinbürger einmal mit vollem Recht die Rolle des Helden spielen durfte?
 
Und damit kommen wir zum wichtigsten Punkt – Lovecrafts erklärter Feindschaft gegen die Amerikanische Revolution.
Zugespitzt ausgedrückt bedeutete das: Er verehrte das rationale Denken des 18. Jahrhunderts, aber er verabscheute dessen praktische Konsequenzen. Denn die großen bürgerlichen Revolutionen in Amerika und Frankreich waren ja die legitimen Sprösslinge der Aufklärung gewesen. Und die fortschrittlichen Zeitgenossen des Unabhängigkeitskriegs hatten das auch genau so gesehen. In englischen liberalen Zirkeln wie der berühmten Lunar Society, zu deren Mitgliedern solch illustre Persönlichkeiten wie der Arzt und Naturforscher Erasmus Darwin – der Großvater von Charles Darwin –, der Chemiker Joseph Priestley und der Erfinder und Ingenieur James Watt gehörten, sympathisierten viele mit der Sache der Amerikaner, die sich gegen "ihren" König George erhoben hatten. Sicher – der alte Samuel Johnson polemisierte heftig gegen die „zealots of anarchy“ (26) und forderte deren rücksichtslose Unterwerfung, doch selbst Edmund Burke, der während der Französischen Revolution zum bedeutendsten Wortführer der Konservativen werden sollte, bekundete bei den Debatten im Unterhaus seine Sympathie für die "Rebellen". Und mit Tom Paine, diesem großartigen Plebejer unter den Aufklärern, war einer der hervorragendsten Geister des damaligen England sogar aktiv an beiden Revolutionen beteiligt. Ihm begegnen wir sowohl in Washingtons Feldlager als auch im Französischen Nationalkonvent. Common Sense und The American Crisis machten ihn zu einem der einflussreichsten Pamphletisten des Unabhängigkeitskrieges. Eine Ausgabe von The Crisis schließt mit den Sätzen:
[I]t may be remarked, that men who study any universal science, the principles of which are universally known, or admitted, and applied without distinction to the common benefit of all countries, obtain thereby a larger share of philanthropy than those who only study national arts and improvements. Natural philosophy, mathematics and astronomy, carry the mind from the country to the creation, and give it a fitness suited to the extent. It was not Newton's honor, neither could it be his pride, that he was an Englishman, but that he was a philosopher, the heavens had liberated him from the prejudices of an island, and science had expanded his soul as boundless as his studies. (27)
Für die besten Vertreter der Aufklärung existierte ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen dem universalen Charakter der Wissenschaft, der Überwindung nationaler und religiöser Vorurteile, dem Ideal des Weltbürgertums und dem Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Wie Christiaan Huygens schon ein Jahrhundert zuvor gesagt hatte: Die Welt ist mein Vaterland, die Wissenschaft meine Religion.
 
Aber es kommt noch schlimmer für Lovecraft. – Ausgerechnet sein heißgeliebtes Neuengland war ja die Wiege der Revolution gewesen: Die Bostoner Tea Party, die Schlacht von Lexington und Concord, Bunker Hill ... Das sind neuenglische Traditionen! Boston war für Amerika was Paris für Frankreich und Petrograd für Russland – die Hauptstadt der Revolution. Hier wurde 1772 unter Leitung von Samuel Adams, dem genialen Führer, Agitator und Organisator der Volksbewegung, das erste Korrespondenzkomitee gegründet, Vorbild jener revolutionären Machtorgane, die schon bald überall in Massachusetts entstanden. Die Revolutionsarmee, deren Oberkommando George Washington im Juni 1775 übernahm, bestand zum größten Teil aus neuenglischen Milizionären. Rhode Islands Schiffsbauer, Kauffahrer und Seeleute schufen die Continental Navy, die unter dem Kommando von Esek Hopkins den Kampf gegen die Schiffe Seiner Majestät aufnahm.
Und auch damit noch nicht genug. – Nirgendwo anders als in Lovecrafts Heimatstadt Providence waren 1772 die ersten Schüsse im Kampf gegen den König gefallen: Am 9. Juni war in der Nähe der Stadt bei Pawtuxet der britische Schoner Gaspee auf Grund gelaufen. Sein Auftrag war es gewesen, amerikanische Schiffe in der Narragansett Bay nach Schmuggelgut zu durchsuchen und die verhassten Abgaben einzutreiben. Unter der Führung von Captain Abraham Whipple, der sich bereits im englisch-französischen Krieg von 1759/60 einen Namen als Freibeuter gemacht hatte, enterte am Morgen des 10. Juni eine Gruppe von Mitgliedern der Sons of Liberty – jener plebejischen Revolutionäre, die man die Sansculotten Amerikas genannt hat – die Gaspee. Nach einem kurzen Kampf mit der Mannschaft wurde der Schoner in Brand gesteckt und versenkt. Der Zwischenfall rief eine heftige Reaktion seitens der Krone hervor, was mit dazu beitrug, dass der Konflikt zwischen König und Kolonien 1774 mit der Schlacht von Lexington und Concord in einen offenen Krieg umschlug.
Ironischerweise war Lovecraft über seinen Großvater Whipple van Buren Philipps mit Captain Abraham verwandt. Und trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Revolution war er offenbar stolz auf die Verwandtschaft mit dem legendären Haudegen, der während des Unabhängigkeitskrieges mit seinem Schiff Providence manch wagemutigen Streich gegen die Briten geführt hatte. Der Kapitän taucht in zwei seiner nostalgischen Erzählungen auf: In Das gemiedene Haus (The Shunned House) von 1924 und in Der Fall Charles Dexter Ward (The Case of Charles Dexter Ward) von 1927. In letzterer spielt er sogar eine führende Rolle bei der Ausräucherung des teuflischen Alchimisten Joseph Curwen. Die Aktion, mit der sich Abraham in die Annalen der Revolution eingetragen hat, wird dort freilich so beschrieben: „Kaum mehr als zwölf Monate danach führte Kapitän Whipple den Pöbelhaufen an, der das Zollschiff Gaspee in Brand steckte, und in dieser ruchlosen Tat könnte man den Versuch erblicken, bedrückende Erinnerungen [an das, was er in Curwens Laboratorium gesehen hat,] auszulöschen.“ (28)
Hier zeigt sich sehr schön die Zwiespältigkeit des lovecraftschen Traditionalismus. Einerseits beharrte HPL auf einem unbedingten Festhalten an der Tradition, die er als „the massed experience of our ancestors, individual or national, biological or cultural“ definierte. Andererseits war ihm ein wichtiger Teil dessen, was die nationalen Traditionen der Vereinigten Staaten ausmacht, völlig zuwider. Denn ohne mich hier auf eine langwierige Diskussion über die Frage einlassen zu wollen, was eine "Nation" eigentlich genau sein soll, dürfte doch kaum angezweifelt werden können, dass die Grundlagen für die Existenz der amerikanischen Nation in der Revolution gelegt wurden. Ein deutscher Nationalist kann sich problemlos auf "die Tradition" berufen, ohne dass dabei jemand an Robert Blum, Gustav Struve oder Friedrich Hecker denken müsste. Das demokratische Erbe des Bürgertums ist hierzulande unbedeutend und schwach. Doch ein Amerikaner, der die nationale Vergangenheit beschwört und dabei Washington, Franklin und Jefferson außen vor lässt?
Andererseits bewies Lovecraft mit seiner Einstellung aber auch eine bemerkenswerte Konsequenz. Die amerikanische Rechte besteht, wie Sinclair Lewis es einmal sehr hübsch formuliert hat, für gewöhnlich aus Leuten, „who spend one half their waking hours boasting of being descended from the seditious American colonists of 1776, and the other and more ardent half in attacking all contemporaries who believe in precisely the principles for which those ancestors struggled.“ (29) Lovecraft war da ehrlicher. Insoweit das Neuengland seiner Träume überhaupt mehr war als ein romantisches Wolkenkuckucksheim, besaß es sein Vorbild in der Gesellschaft und Kultur der landbesitzenden Gentry des 18. Jahrhunderts. Und eben diese Welt war in der Revolution untergegangen.
Denn anders als der patriotische Mythos von der "Einheit aller Amerikaner" und der "unrevolutionären Revolution" bis heute zu suggerieren versucht, war der Unabhängigkeitskrieg nicht nur ein Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft, sondern zugleich ein erbitterter Bürgerkrieg. Ein Großteil der alten Elite Neuenglands gehörte während der Revolution zu den Tories, d.h. zur Partei des Königs, und als der britische General Howe im März 1776 Boston evakuierte, begleiteten ihn über tausend Vertreter der alten Aristokratie. Gerade in Neuengland trug die Bewegung einen ausgesprochen plebejischen Charakter. Wie Samuel Adams und die Bostoner Revolutionäre es formulierten, bildeten “the two venerable orders of men styled Mechanicks [Handwerker & Lohnarbeiter] and Husbandmen [Farmer] the strength of every community.” (30) Washington war anfangs gar nicht glücklich über den "gleichmacherischen" Geist der neuenglischen Milizen, an deren Spitze er sich 1775 gestellt sah. Als die Regierung von Massachusetts 1778 ca. dreihundert führende Tories in die Verbannung schickte, gehörten Vertreter fast aller angesehenen und mächtigen Familien der alten Gentry zur Gruppe der "Verräter".
Lovecrafts Feindschaft gegen die "Rebellen" war also nicht bloß Ausdruck seines exzentrischen Royalismus. Wie so oft spielten auch hier seine panische Angst vor und seine Verachtung für den "Pöbel" eine zentrale Rolle. Was ihn am Unabhängigkeitskrieg abstieß, waren vermutlich nicht der Gentleman Washington und vielleicht nicht einmal der republikanische Pflanzer Jefferson, sondern die Handwerker, Tagelöhner und kleinen Ladenbesitzer Neuenglands, die die Villen der Tories stürmten und die königstreuen Aristokraten teerten und federten; die Plebejer, die der Gentry die Kontrolle über die Gemeindeversammlungen entrissen und eine demokratische Selbstverwaltung aufzurichten versuchten.

Gerade unter sogenannten "radikalen" Intellektuellen ist es heutzutage Mode, den progressiven Charakter der Amerikanischen Revolution herunterzuspielen oder sogar ganz zu leugnen. Tatsächlich waren die nationalen Führer der Bewegung in ihrer Mehrheit keine Anhänger der radikalen Demokratie und in den einzelnen Bundesstaaten blieb das Wahlrecht auch weiterhin an den Besitz gebunden, trotz des lautstarken Protestes der plebejischen Massen, die soviel zum Sieg über George III. beigetragen hatten. Plebejische Aufstände gegen die neue Elite wie Shays Revolte in Massachusetts oder die sog. Whiskey-Rebellion wurden von der Führung um George Washington mit Waffengewalt niedergeschlagen. Es sollten noch mehrere Jahrzehnte vergehen, bis sich das allgemeine Wahlrecht (für weiße Männer) durchsetzen konnte, und in Rhode Island würde dazu sogar die erneute Androhung eines bewaffneten Aufstands nötig sein. Vor allem aber gelang es der ersten bürgerlichen Revolution Amerikas nicht, die Sklaverei abzuschaffen. Dr. Johnsons sarkastische Bemerkung, dass „we hear the loudest yelps for liberty among the drivers of negroes“ (31), war ja nicht ganz unbegründet. Auf ihrer Grundlage sollte schon bald das Monstrum des "Baumwoll-Imperiums" heranwachsen, dessen Herrscher für lange Zeit die amerikanische Politik dominieren würden. Zum Sturz der Pflanzeroligarchie würde es eine zweite Revolution brauchen. Und wieder würde Neuengland seinen Beitrag leisten, etwa in Gestalt des aus Vermont stammenden Thaddeus Stevens, des grimmigen Führers der radikalen Republikaner während des Bürgerkriegs und der Reconstruction. Doch trotz dieser Einschränkungen bleibt die fortschrittliche Bedeutung des Unabhängigkeitskriegs eine unleugbare Tatsache. Die USA besitzen revolutionäre Traditionen, die es verdient haben, dass man sich an sie erinnert. Doch waren das nicht die Traditionen, die Lovecraft im Sinn hatte.
 
Es mag verquer klingen, aber die beiden wichtigsten Wurzeln der neuenglischen Kultur – der Puritanismus und die Revolution – waren Lovecraft zutiefst verhasst. Beinahe ebenso fremd war ihm das kulturelle Erbe seiner Heimat. Die literarische Blütezeit Neuenglands im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts war zugleich Produkt des noch nicht völlig abgestorbenen Geistes des Unabhängigkeitskrieges und Ausdruck jener neuen gesellschaftlichen Entwicklung, die schließlich in der Zweiten Revolution gipfeln sollte. Kein Wunder, dass Lovecraft mit den Transzendentalisten um Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau, ihrem romantischen Individualismus, Nonkonformismus und Utopismus, nichts anfangen konnte. Erstaunlich, dass er zumindest die Bedeutung Nathaniel Hawthornes anerkannte, obwohl auch dieser ihm in Denken und Empfinden sehr fern stand. HPL hielt es da mehr mit Poe, der alles, was mit Neuengland zu tun hatte, gehasst und sich in seiner Kurzgeschichte Wer kann sich retten vor des Teufels Wetten? (Never Bet the Devil Your Head) aufs ergötzlichste über den Moralismus und die metaphysischen Spekulationen der Dichter und Denker von Concord lustig gemacht hatte. Aber selbst für Poe gilt, was Edmund Wilson einmal geschrieben hat: „[F]or all his Tory views, [he] is post-Revolutionary American in his challenging, defiant temper, his alert and curious mind.“ (32)

Das alles verlieh Lovecrafts Traditionalismus einen höchst eigentümlichen Charakter. Denn unglücklicherweise hatte sein Goldenes Zeitalter der wappentragenden Squire mit ihren gepuderten Perücken, die heroische Zweizeiler à la Pope dichteten, kaum bleibende Spuren in der amerikanischen Kultur hinterlassen. Wenn man einmal von den Kuppeln und Walmdächern der georgianischen Architektur absieht, die darum auch in jeder zweiten seiner Erzählungen aufzutauchen scheinen. Es gab nichts lebendiges, woran er bei seiner Suche nach der guten alten Zeit hätte anknüpfen können. Dadurch erhielt sein Konservatismus einen ausgesprochen weltfremden, beinahe morbiden Zug. So als sei es ihm darum gegangen, einen längst vermoderten Leichnam zu galvanisieren. Und es spricht einiges dafür, dass er sich dieses Dilemmas sehr wohl bewusst war.

Besonders eindrückliche Beispiele dafür sind seine beiden Erzählungen Das Grab (The Tomb) und The Case of Charles Dexter Ward, mit denen ich mich in meinem nächsten Artikel auseinandersetzen werden. Dann werde ich auch die angekündigte Besprechung von Dan O'Bannons Film The Resurrected nachliefern.



(1) H. P. Lovecraft: Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath. In: Ders.: Die Katzen von Ulthar. S. 25; 135f.
(3) H. P. Lovecraft: Der Silberschlüssel. In: Ders.: Die Katzen von Ulthar. S. 151.
(4) H. P. Lovecraft: Iranons Suche. In: Ders.: In der Gruft und andere makabere Geschichten. S. 92-99.
(10) H. P. Lovecraft: Das Unnennbare. In: Ders.: In der Gruft und andere makabere Geschichten. S. 108.
(11) Arkham ist zwar nach dem Vorbild von Salem, dem Schauplatz der berüchtigten Hexenprozesse von 1692, gezeichnet, doch darf man deshalb Lovecrafts fiktive Stadt am ebenso fiktiven Miskatonic nicht einfach mit dem realen Ort in Massachusetts gleichsetzen. 
(12) H. P. Lovecraft: Das Weiße Schiff. In: Ders.: Die Katzen von Ulthar. S. 11.
(13) H. P. Lovecraft: Providence. V. 33-40.
(14) H. P. Lovecraft: Selected Letters. Bd. II. S. 356f. Zit. nach: S.T. Joshi: H. P.Lovecraft.
(15) H. P. Lovecraft: Selected Letters. Bd. IV. S. 249. Zit. nach: S.T. Joshi: H. P. Lovecraft.
(16) Über diese Thematik habe ich mich hier bereits einmal etwas ausführlicher ausgelassen.
(17) H. P. Lovecraft: Literatur der Angst. S. 78.
(20) H. P. Lovecraft: Pickmans Modell. In: Ders.: Cthulhu Geistergeschichten. S. 21.
(21) H. P. Lovecraft: Literatur der Angst. S. 78. 
(22) In Das Bild im Haus (The Picture in the House) versuchte er auch selbst, die puritanischen Traditionen Neuenglands als Hintergrund für eine Horrorgeschichte zu benutzen. Die 1920 entstandene Geschichte steht darin jedoch ziemlich alleine da.
(23) So der Titel eines 1915 veröffentlichten Essays, in dem HPL gegen die freien Rhythmen der ‘Radikalen’ polemisiert. Fairerweise muss allerdings hinzugefügt werden, dass er trotz seiner bleibenden Verehrung für Pope et.al. in späteren Jahren Romantiker wie Keats und Shelley sowie den frühen Algernon Swinburne und W. B. Yeats für die größten Lyriker der englischen Sprache hielt.
(24) H. P. Lovecraft: MerlinusRedivivus. In: The Conservative, IV, 1 [Juli 1918]. 
(25) H. P. Lovecraft: Selected Letters. Bd. III. S. 299. Zit. nach: S.T. Joshi: H. P. Lovecraft
(26) Samuel Johnson: Taxation No Tyranny.
(27) Thomas Paine: The American Crisis. [März 1780].
(28) H. P. Lovecraft: Der Fall Charles Dexter Ward. S. 75.
(29) Sinclair Lewis: It Can’t Happen Here. Kap. 1.
(30) Solemn League and Covenant des Bostoner Comitee of Correspondence von 1774. Zit. nach: Harry Frankel: Sam Adams and the American Revolution. §12. 
(31) Samuel Johnson: Taxation No Tyranny.
(32) Edmund Wilson: A Dissenting Opinion on Kafka. In: Ders.: Classics and Commercials. ALiterary Chroncile of the Forties. S. 391.