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Samstag, 29. Juni 2013

Fulcis Fantasy

Seit einiger Zeit schon trage ich mich mit dem Gedanken, mir einmal Joe D'Amatos Ator Italiens Antwort auf Conan den Barbaren  vorzuknöpfen, und bei diesem Anlass auch gleich ein wenig auf die Geschichte des italienischen B-Movies einzugehen. Diese Queste muss noch ein bisschen warten, doch dafür bin ich letztens ganz zufällig über Conquest gestolpert, Lucio Fulcis Beitrag zur Sword & Sorcery - Mode der 80er Jahre.


Ein guter Film? Ein mieser Film? Keine Ahnung  Doch was für ein Film, bei Crom!

Fulci ist ein echter Auteur, und das beweist er sogar, wenn er sich in die Gefilde der B-Movie-Fantasy begibt. Kurz zuvor hatte er in Filmen wie City of the Living Dead (1980), The Beyond (1981) und The House by the Cemetery (1981) seine Vorstellung vom "totalen Kino" in bisher reinster Form umgesetzt. Alle drei Teile der "Gates of Hell" - Trilogie gehorchen weniger den üblichen Regeln filmerischen Erzählens, als vielmehr einer bizarren Traumlogik. Plot und Charaktere sind dabei eher nebensächlich. Die Filme leben ganz von ihrer intensiven, über alle erreichbaren Sinne des Zuschauers evozierten Atmosphäre. Natürlich hält der 1983 in Mexiko produzierte Fantasyschinken keinen Vergleich mit Fulcis Meisterwerken stand. Aber er trägt doch unverkennbar die Handschrift des Maestros, was ihn zu einem der interessanteren Produkte der durch John Milius' Conan the Barbarian (1982) angestoßenen Sword & Sorcery - Welle macht.

Wie bei einem reifen Fulci nicht anders zu erwarten, vermittelt eine Zusammenfassung der Story von Conquest einen nicht einmal ansatzweise adäquaten Eindruck von dem Film. Eine solche muss vielmehr ziemlich öde klingen:
Bewaffnet mit dem magischen Bogen seiner Vorväter begibt sich der junge Ilias (Andrea Occhipinti) in ein fremdes, von primitiven Höhlenmenschen bewohntes Land. Herrscherin dieser wenig einladenden Gefilde ist die grausame Okhren (Sabrina Sellers/Siani), und es dauert nicht lange, da sieht sich unser Held auch schon in erste Kämpfe mit ihren wolfsköpfigen Handlangern verwickelt. Denn Okhren hat in einer Vision gesehen, dass Ilias sie töten wird. Ein denkbar guter Grund, dem jungen Mann alle Mächte der Hölle auf den Hals zu schicken. Dieser kann von Glück sagen, dass er dem einsamen Krieger Mace (Jorge Rivero) begegnet, der ihn trotz seiner erklärten Menschenfeindschaft vor den Monstern der bösen "Göttin" rettet. Gemeinsam machen sich die zwei auf, Okhren ihrer "gerechten Strafe" zuzuführen. Doch nur einer von ihnen wird diese Queste überleben.
Das klingt nun weder besonders spannend noch besonders originell. Und auch dass die gute Sabrina Sellers den ganzen Film über praktisch nackt durch die Gegend läuft, wird heute wohl kaum noch einen Hund hinter dem Ofen hervorlocken.
Sucht man nach Vorbildern {oder "Inspirationsquellen"}, so sollte man sein Augenmerk übrigens weniger auf Conan als vielmehr auf die altehrwürdige italienische B-Movie-Tradition der "Peplums" oder "Sandalenfilme" à la Herkules oder Maciste richten. Daneben wirkt Mace außerdem ein bisschen wie eine misanthrope Variante des "Beastmaster", der wie der Cimmerier ein Jahr zuvor seinen ersten filmischen Auftritt gehabt hatte.

Was sofort auffällt ist, dass die beiden Helden keine ausreichend starke und nachvollziehbare Motivation für ihr Handeln besitzen. Warum hat sich Ilias überhaupt auf seine Wanderung in die Fremde begeben? Einiges spricht dafür, dass es sich um eine Art Initiationsritus handelt, doch bleibt dies nicht viel mehr als eine verschwommene Andeutung. Und Mace? Er lässt keinen Zweifel daran, dass er nichts für Menschen übrig hat, und ermordet kaltblütig einen alten Jäger, um in den Besitz von dessen Beute zu gelangen. Warum verwandelt er sich im Laufe der Geschichte in einen treuen Kameraden? Zu Beginn mag er Ilias begleiten, weil ihn dessen Bogen fasziniert, doch kann dies schon bald nicht mehr als ausreichendes Motiv für sein Verhalten gelten.
Es wäre nicht nur sinnlos hier weiter nachzufragen, man würde sich mit dieser Einstellung auch um einen cineastischen Genuss ganz eigener Art bringen. Denn wie bereits gesagt: Es sind nicht der Plot oder die Charaktere, welche den Reiz von Fulcis Filmen {und vielen anderen italienischen B-Movies} ausmachen. Ihren Zauber verleihen ihnen Stil und Atmosphäre.
Conquest lebt zu einem Gutteil von Alejandro Ulloas phantastischer Cinematographie. Über der in blasse Farben getauchten Landschaft liegen ständig milchige Dunstschleier, die der Szenerie einen unwirklichen, traumhaften Charakter verleihen. Und trotz der zum Teil äußerst brutalen Dinge, die sich  vor unseren Augen abspielen, besitzt der Film eine eigentümliche Form von Schönheit.
Fulcis Fantasy ist dekadent, kompromisslos und blutig. Hier werden Schädel zertrümmert, Gehirne ausgeschlürft und Leute bei lebendigem Leibe langsam geröstet. Gerade dies jedoch hat mir besonders gut gefallen: Wenn schon Barbarentum, dann bitte richtig. Mace ist weder ein sympathischer Glücksritter noch ein strahlender Recke, sondern ein brutaler Schlagetot, der seine sanfte Seite nur Tieren gegenüber zeigt.
Ein bloßer Exploitation-Flick in der Fantasysparte also? Nein! Es steckt mehr in diesem eigenartigen Werk. Auch wenn es schwer fällt, selbiges konkret zu fassen. Conquest besitzt eine symbolische Dimension. Ich zumindest habe den Film am Ende so verstanden, dass es in ihm darum geht, wie der Mensch sich von der hilflosen Unterwerfung unter die Kräfte der Natur befreit. Mit seinem Bogen und seiner höheren Ethik ist Ilias so etwas wie der Vertreter der jungen Zivilisation in einer barbarischen Welt. Okhren hingegen, deren Anhänger glauben, sie sorge jeden Morgen dafür, dass die Sonne aufgeht, steht für die von den primitiven Menschen vergöttlichten Naturgewalten. Darum verwandelt sie sich bei ihrem Tod auch in eine Wölfin.
Den Universalschlüssel zu allen Geheimnissen des Filmes glaube ich mit dieser Interpretation freilich nicht in Händen zu halten. Es bleibt noch genug Geheimnisvolles, was sich einer simplen Erklärung entzieht. Und vermutlich ist der Streifen auch nicht auf eine einzelne Interpretation hin angelegt. Das würde einfach nicht zu Lucio Fulci passen.

Strandgut der Woche

Mittwoch, 26. Juni 2013

Quatermass und die Ängste der Nachkriegsgesellschaft (I)

Die Nigel Kneale - Tour #2a: The Quatermass Experiment (1953)

Spätestens mit Nineteen Eighty-Four hatten sich Nigel Kneale und Rudolph Cartier als das dynamische Duo des jungen britischen Fernsehens etabliert. Sie hatten gezeigt, dass TV-Dramen etwas anderes seien konnten und mussten, als abgefilmte Theaterstücke; dass es eine eigene Ästhetik und Erzählweise für sie zu entwickeln galt.

Auch im Privaten war 1954 ein wichtiges Jahr für den Autor, denn am 8. Mai heiratete er Judith Kerr. Die Tochter des legendären Theaterkritikers Alfred Kerr hatte im Alter von zehn Jahren 1933 zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder vor den Nazis aus Deutschland flüchten müssen. Über die Schweiz und Frankreich war die Familie schließlich nach England gelangt. Dort hatte Judith während des Kriegs für das Rote Kreuz gearbeitet, zugleich jedoch damit begonnen, den Grundstein für eine künstlerische Karriere zu legen. Wie Kneale schrieb auch sie in den 50er Jahren eine Zeit lang für die Drehbuchabteilung des BBC. Zu wirklicher Berühmtheit gelangte sie jedoch erst später als Kinderbuchautorin. Hierzulande dürfte sie vor allem durch ihr semi-autobiographisches Buch Als Hitler das rosa Kaninchen stahl bekannt sein. In Großbritannien beruht ihr Ruhm darüberhinaus auf der siebzehnteiligen Serie um die Katze Mog.

Beruflich blieb Nigel Kneale bis 1956 fest angestellter Autor für die BBC. Als solcher schuf er 1955 eine Adaption von Peter Ustinovs Theaterstück The Moment of Truth einer Art Groteske über Vichy-Frankreich – und entwickelte zusammen mit Cartier The Creature – einen auf der Yeti-Legende basierenden Film. Keines der beiden Werke scheint sich erhalten zu haben, doch diente letzteres als Grundlage für den Hammer-Film The Abominable Snowman, der die nächste Station auf unserer Tour sein wird.
Derweil war es zu einer tiefgreifenden Veränderung in der britischen Fernsehlandschaft gekommen. Der Television Act von 1954 hatte das gesetzlich verankerte Monopol der BBC beendet, und 1955 ging erstmals das über Werbung finanzierte ITV auf Sendung. Man musste sich eine Strategie überlegen, um der neuerwachsenen Konkurrenz erfolgreich zu begegnen. Schon 1954 hatte BBCs "Controller of Programmes" Cecil McGivern in einem internen Memo zu dieser Frage erklärt: "Had competitive television been in existence then [1953], we would have killed it every Saturday night while [The Quatermass Experiment] lasted. We are going to need many more 'Quatermass Experiment' programmes." Also beauftragte man Nigel Kneale damit, eine weitere Serie um den genialen Raketenwissenschaftler zu schreiben.
Doch bevor wir uns Quatermass II zuwenden, sollten wir zuerst einmal einen kurzen Blick zurück auf seinen Vorläufer werfen.

Wie ich bereits im Zusammenhang mit Nineteen Eighty-Four erwähnt habe, wurden Fernsehspiele damals live übertragen und nur sehr selten aufgezeichnet, da es dafür noch keine adäquate Technik gab. Im Falle des Quatermass Experiment nahm dieser Ad hoc - Charakter des frühen Fernsehens besonders extreme Züge an, existierte zu Beginn der Produktion und Ausstrahlung doch nicht einmal ein fertiges Drehbuch. Wie Nigel Kneale später einmal erzählt hat:
 I was still writing the serial when it began to be transmitted. I think I'd written four episodes when the first one was shown, and I wrote the remaining two while it was going out. So nobody really knew what the end was - even the production team, certainly not the actors, which made it more exciting I suppose.
Wir können uns glücklich schätzen, dass wenigstens von den ersten zwei der sechs Episoden Aufzeichnungen gemacht wurden. Diese erlauben es uns, zumindest einen vagen Eindruck davon zu bekommen, was diese Serie einmal gewesen ist. Was die Geschichte als Ganzes angeht, sind wir freilich auf andere Quellen angewiesen.
Die von Professor Bernard Quatermass* geleitete British Experimental Rocket Group schickt die erste bemannte Rakete ins All. Doch es kommt zu unvorhergesehenen Komplikationen. Die Kapsel dringt weit über den geplanten Orbit hinaus in den Weltraum ein und stürzt anschließend im Londoner Stadtteil Wimbledon ab. An Bord befindet sich nur einer der drei Astronauten – Victor Carroon –, und dessen Zustand ist kritisch. Nicht nur Quatermass und seine Mitarbeiter, sondern auch Scotland Yards Inspector Lomex und der Journalist James Fullalove bemühen sich, das Geheimnis zu lüften. Die Wahrheit allerdings ist bizarrer und bedrohlicher als jeder von ihnen es sich hätte vorstellen können. Nicht nur sind die Persönlichkeiten der drei Astronauten in Caroons Kopf zu einer Einheit verschmolzen worden, sein Körper beherbergt außerdem einen außerirdischen Organismus und beginnt erschreckend schnell zu einem pflanzenartigen Monstrum zu mutieren, das die Lebenskraft von Menschen aufsaugt. Und wähend Quatermass herausfindet, dass die Sporen des Ungeheuers in der Lage sein könnten, die gesamte Menschheit auszurotten, gelingt diesem die Flucht in die Straßen von London.**
So ganz originell war diese Geschichte freilich nicht. Bereits zwei Jahre zuvor hatte eine pflanzenartige außerirdische Lebensform in Howard Hawks' The Thing From Another World dem Kinopublikum mit großem Erfolg das Fürchten gelehrt. Allerdings spielt Nigel Kneales Serie nicht in der abgeschlossenen Welt einer arktischen Forschungsstation. Bei ihm bricht die fremdartige Bedrohung vielmehr über die Großstadt London und ihre Bewohner herein. Das macht es sehr viel leichter, in ihr eine Verkörperung der allgemeinen Verunsicherung im Großbritannien der Nachkriegszeit zu sehen.
Noch war die Erinnerung an die Schrecken des Weltkriegs sehr frisch, während sich mit dem Beginn des Ost-West-Konfliktes bereits die Angst vor einem drohenden atomaren Holocaust auszubreiten begann. Der nicht länger wegzuleugnende Zusammenbruch des Empire erschütterte das nationale Selbstbewusstsein, derweil das Reformprogramm von Clement Atlees Labour-Regierung zugleich die Angst der Konservativen vor dem Untergang des Abendlandes gesteigert und die Hoffnungen breiter Schichten auf eine sozialistische Umwälzung enttäuscht hatte.
Ich glaube nicht, dass das Quatermass Experiment irgendeine dieser Ängste direkt ansprach. Seine Faszination bestand wohl eher in einer diffus-bedrohlichen Atmosphäre. Ohne die Serie gesehen oder auch nur das Drehbuch gelesen zu haben, kann ich darüber natürlich nicht wirklich ein Urteil abgeben.  Doch Geoffrey Wansells Bemerkung in einem Artikel für die Times aus dem Jahre 1981 scheint mir in diese Richtung zu weisen: "Quatermass was one of the first series on British television to make life seem potentially terrifying".
Als Hintergrund diente dabei das wachsende öffentliche Interesse an der sich rasch entwickelnden Raketentechnik. Wie Nigel Kneale selbst einmal erklärt hat:

Around this time we were seeing the beginning of rocketry ; Von Braun had moved to California with some of the V-2s they hadn’t used up dropping on London. The Americans were removing the nose cones and replacing them with something harmless for experiments in the deserts….When I was thinking up the story nobody knew if it was safe to fire a rocket a long way and bring it back. There was a lot of unease about this at the time. Later when manned space flight actually begun, there was a tremendous thing about decontamination. People didn’t know what you might ‘pick up’ in space, so I thought I’d write a story about a space flight that returns with some very nasty contamination. In fact my original title for the story was Bring Something Back, but this was rejected - I suppose it did sound a bit like fetching some shopping.
Sind also vielleicht die vermeintlichen Gefahren von Wissenschaft und Technik das eigentliche Thema des Quatermass Experiment? Die Idee von "science going bad" übte nach Kneales eigener Einschätzung eine große Faszination auf ihn aus. Dennoch hielte ich es für falsch, wollte man hierauf das Hauptaugenmerk legen. Ein  Vergleich mit The Thing From Another World sollte deutlich machen, warum:
Bei Hawks & Nyby ist der Leiter des Forschungsprojektes Dr. Carrington eine reichlich unsympathische Figur: überheblich, gefühllos und leicht fanatisch. Nicht nur gefährdet er bewusst das Leben aller Anwesenden im Namen von Forschung und Wissenschaft, er bekundet auch offen seine Bewunderung für das mörderische Ungeheuer, das er für eine dem Menschen überlegene Lebensform hält, da es keinerlei Emotionen und vor allem keinen Sexualtrieb besitze. Obwohl es sich bei Protagonist Patrick Hendry um einen Air Force - Captain handelt, ist der Geist des Filmes weniger "militaristisch" als vielmehr "populistisch".  Wie in vielen Filmen von Howard Hawks sind die Helden auch hier relativ "einfache", aber kompetente Leute. Das gilt sowohl für die Soldaten wie für die meisten der Wissenschaftler.  Sie arbeiten zusammen, jeder steuert seine speziellen Fähigkeiten bei und gemeinsam überwinden sie die Bedrohung. Im Grunde ein sehr sympathisches Bild, von dem erstaunlicherweise nicht einmal die weibliche Hauptfigur Nikki ausgeschlossen bleibt, die sich als ebenso selbstbewusst wie intelligent erweist und auf einige der entscheidenden Ideen zur Bekämpfung des Monsters kommt. Schade nur, dass diesem Hawks'schen Heldentyp in The Thing From Another World als Antagonist der Typus des elitären Akademikers entgegengestellt wird.
Das Motiv der Zusammenarbeit von Menschen unterschiedlichster Profession findet sich auch in den ersten beiden Quatermass-Serien, doch der Held und Koordinator ist ein Naturwissenschaftler. Quatermass ist nicht unfehlbar und mag mitunter sogar ein bisschen selbstherrlich wirken, aber er verkörpert das Ideal einer Verschmelzung von Vernunft und Humanität. In späteren Werken (vor allem der Quatermass-Serie von 1979) wird die Figur des Professors dann zwar auch zum Vehikel für den wachsenden Pessimismus Nigel Kneales, doch soweit sind wir noch nicht. Zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn legte der Autor ein optimistisch-humanistisches und demokratisches Weltbild an den Tag. Im Quatermass Experiment zeigt sich dies am deutlichsten im großen Finale. {Das legen zumindest die Zusammenfassungen nahe, die ich gelesen habe.}
Der zum Monster mutierte Caroon ist in die Kirche von Westminster Abbey geflohen. Auf Drängen seiner Mitarbeiterin Judith warnt Quatermass via Rundfunk zuerst einmal die Öffentlichkeit vor der drohenden Katastrophe und übernimmt persönlich die Verantwortung dafür, um sich anschließend in die Kirche zu begeben. Er weiß, dass das außerirdische Wesen durch konventionelle Waffen nicht verletzt werden kann, und versucht deshalb, das immer noch vorhandene Bewusstsein von Caroon und seinen Kameraden anzusprechen. Er ruft sie auf, sich ihrer Menschlichkeit bewusst zu werden und gegen die fremde Macht aufzubegehren. Und tatsächlich gewinnen die Überreste menschlichen Bewusstseins in dem Ungeheuer  ein letztes Mal die Oberhand und initiieren dessen Selbstzerstörung. Statt eines Triumphes militärischer Gewalt, wie in so vielen SciFi-Filmen der Zeit, der Triumph eines Appells an Menschlichkeit und Vernunft! 

Zur selben Zeit, als sich Nigel Kneale daranmachte, Quatermass II zu schreiben, entstand eine Kinoversion des Quatermass Experiments. Verantwortlich dafür war niemand anderes als Hammer Film Productions, damals noch eine ganz junge britische Filmfirma.
Wie nicht anders zu erwarten, hatte das allmähliche Aufblühen des Fernsehens in den Chefetagen der Filmbranche eine mittelprächtige Panik ausgelöst. Zwar konnte sich in den 50er Jahren wohl auch in England noch nicht jede Familie einen Telly leisten, doch an den Kinokassen machte sich die neue Konkurrenz bereits unangenehm bemerkbar. Die Schlaufüchse von Hammer hatten darauf eine clevere Antwort: Wenn es in der Vergangenheit Gang und Gäbe gewesen war, erfolgreiche Theaterstücke auf die Leinwand zu übertragen, warum sollte man dasselbe nicht auch mit erfolgreichen Fernsehspielen machen können? Also besorgte man sich von der BBC die Rechte am Quatermass Experiment. Nigel Kneale hatte dabei kein Wörtchen mitzureden, denn als festangestellter Autor landeten die Vermarktungsrechte für seine Werke automatisch beim Sender. Die unter dem Titel Quatermass Xperiment präsentierte Kinoversion war sehr erfolgreich, doch Kneale konnte sie auf den Tod nicht ausstehn. Insbesondere missfiel ihm Hauptdarsteller Brian Donlevy, der Quatermass nicht als den intelligenten Humanisten, sondern als eine rücksichtslose Autoritätsperson darstellte. Eine entsprechende Abwandlung erfuhr auch das Ende, in der die außerirdische Lebensform mithilfe eines massiven Elektroschocks ins Jenseits befördert wird.
   


* Der Name "Quatermass" stammte angeblich aus dem Londoner Telefonbuch, doch mag bei der Wahl auch der Umstand eine Rolle gespielt haben, dass viele Familiennamen auf Kneales heimatlicher Isle of Man mit "Q" beginnen. Den Vornamen "Bernard" wählte der Autor als Hommage an den Physiker und Radioastronomen Bernard Lovell.
** Was die Besetzung angeht, so verdient neben Reginal Tate als Quatermass vor allem Duncan Lamont als Caroon Erwähnung. Der irische Schauspieler sollte später u.a. in Quatermass and the Pit und in Lewis Milestones 1962er Version von Mutiny on the Bounty {der mit Marlon Brando als Fletcher Christian} mitwirken.

Montag, 24. Juni 2013

Professor Elemental

Normalerweise stehe ich der ganzen Steampunk-Mode ja eher skeptisch gegenüber, aber der Charme von Professor Elemental (alias Paul Alborough) ist einfach unwiderstehlich:


Wer noch mehr von dem guten Professor und seinem Gorilla-Butler Geoffrey sehen will, kann dies u.a. in Cup of Brown Joy, This Is My Horse und The Chronicles of Professor Elemental.

Sonntag, 23. Juni 2013

Mittsommernacht unter Hexen

Die astronomische Sommersonnenwende war bereits vorgestern, und die Russen feiern ihr Mittsommerfest Iwan Kupala aufgrund des Julianischen Kalenders erst am 7. Juli. Doch da zumindest hierzulande heute die Johannisnacht ist, dachte ich mir, dies sei das richtige Datum zur Präsentation des 1933 von Alexandre Alexeieff geschaffenen Trickfilms Eine Nacht auf dem Kahlen Berge zur Musik von Modest Mussorgskij und Nikolaj Rimskij-Korsakov. Denn in slawischen Landen feiern die Hexen ihr Hohes Fest offenbar nicht wie ihre deutschen Schwestern in der Walpurgisnacht, sondern in der Nacht vor dem Johannisfest. Die Zeit scheint nicht gerade sehr gnädig zu Alexeieffs Werk gewesen zu sein, doch besitzt es meiner Meinung nach immer noch eine große suggestive Kraft:


Und wer danach noch eine angemessen stimmungsvolle Geschichte lesen will, dem empfehle ich Der Abend vor Iwan Kupala (Johannisnacht) aus Nikolaj Gogols phantastischer Sammlung Abende auf dem Weiler bei Dikanka.

Samstag, 22. Juni 2013

Superman, du tust mir leid


Was ich an den klassischen Superman - Filmen mit Christopher Reeve schätze und liebe, ist, dass sie mit dem Urvater aller Superhelden so umgegangen sind, wie man dies meiner Meinung nach tun sollte: Sie haben ihn nicht wirklich ernst gemommen und doch eine liebenswerte Gestalt aus ihm gemacht. In ihrer charmanten Mischung aus Selbstironie und Naivität sind diese Flicks einfach ein Riesenspaß.
Hätte man den guten Clark Kent danach doch bloß in Frieden ruhen lassen!
Angesichts des filmischen Superhelden-Booms der letzten zehn Jahre ein reichlich kindischer Wunsch. Bryan Singers Superman Returns (2006) war so unabwendbar wie der Kater nach einer durchzechten Nacht. Schlimm genug, doch ist es wirklich fair, dass sich – kaum hatten wir Singers Machwerk erfolgreich aus unser Erinnerung verdrängt – Zack Snyder und Christopher Nolan über den ollen Kryptonier hermachen mussten?
Nein, ich habe mir Man of Steel nicht angesehen. Und der Grund dafür ist sehr einfach: Meine alchimistischen Experimente haben leider noch nicht zu den gewünschten Resultaten geführt, und ich bin nach wie vor nicht in der Lage Blei in Gold zu verwandeln. Also schaue ich mir nur Filme an, von denen ich zumindest hoffe, dass sie die sündhaft teure Kinokarte wirklich wert sein könnten. Doch was ich so über die neueste Filmversion Supermans gelesen habe, bestätigt voll und ganz meine ursprünglichen Befürchtungen. Wenn man Figuren wie ihn "ernst nimmt" und "realistisch" behandelt, dann werden sie zu unmenschlichen, gruseligen, leicht faschistoiden Ungeheuern. Und es hilft nicht wirklich, wenn man sie dabei zu allem Überfluss auch noch mit Jesus vergleicht. Snyder hätte das eigentlich wissen müssen, schließlich hat er Alan Moores Watchmen verfilmt. Aber wie ein kurzer Blick auf sein übriges Oeuvre sehr deutlich zeigt, benutzt dieser Regisseur sein Gehirn offenbar nur selten zum Denken.

Strandgut der Woche

Donnerstag, 20. Juni 2013

Richtigstellung

Rasch eine kleine Richtigstellung zu meinem letzten Blog-Eintrag: Genau genommen existierte noch eine fünfte Verfilmung von Nineteen Eighty-Four. Nigel Kneales Script wurde nämlich 1965 ein weiteres Mal von der BBC verfilmt. Wenn ich recht informiert bin, so ist diese Fassung jedoch leider verloren gegangen.  Der Autor selbst hatte allerdings keine besonders hohe Meinung von dem Remake, wie aus einem Interview, das Andrew Pixley mit ihm führte, hervorgeht:
I don't know how it came about. Somebody thought that a few years had gone by and they would try again to see if it had the same sensational effect as the first one. It didn't. The script was almost exactly the same, except I think for the extreme opening, and we had certain additional benefits, but not a lot. The music for the original version was written by John Hotchkis and he conducted it himself with an orchestra in the second studio. The synchronisation, which was done live, had to be very, very finely timed. In the second production, the 1965 version, there was also an orchestra with specially written music by Wilfred Josephs. He conducted it, but I think it had been pre-recorded. I don't think we had the same awful problem of synchronisation. It was a skilful version, but for me the acting was much less good. The performance that I did like as an interesting variation was Joseph O'Conor as O'Brien, the Inner Party chief. In the original version, Andre Morell had played that part in a very alarming, authoritative, powerful performance. O'Conor played it in a different but equally effective way as a very religious man turned inside-out, which is a subtle observation on the kind of fanatic that O'Brien would have been. I think both performances were quite excellent, and hugely interesting because they were so different. There was of course no great reaction, and I'd put that down partly to some of the performances - which were pretty null - and also because the audience was much less suprisable and shockable. In 1954, it was a fairly new phenomenon - television. In 1965, it wasn't. You had two channels and a much, much bigger audience and they simply got used to the whole thing.

Mittwoch, 19. Juni 2013

Nigel Kneales Blick auf Ozeanien

Die Nigel Kneale - Tour #1: Nineteen Eighty-Four (1954)

Bei einer Verfilmung von George Orwells Nineteen Eighty-Four werden die meisten vermutlich beinahe automatisch an Michael Radfords beeindruckende Version aus dem Jahr 1984 mit John Hurt, Richard Burton und Suzanna Hamilton denken. Mir zumindest ist es lange Zeit so gegangen. Ich wusste zwar, dass es da auch noch eine Adaption von Michael Anderson (Around the World in 80 Days, The Quiller Memorandum, Logan's Run)  aus den 50ern gab, aber der ging ein denkbar übler Ruf voraus, und außerdem hatten die Erben des Autors dafür gesorgt, dass sie nicht länger zugänglich war. Inzwischen soll es zwar wieder eine DVD-Ausgabe davon geben {und Youtube ist eine schier unerschöpfliche Fundgrube, wenn man bloß geduldig genug sucht}, dennoch habe ich bisher tunlichst vermieden, mir dieses Werk anzuschauen. {Schon das Plakat wirkt auf mich äußerst abschreckend}.
Tatsächlich jedoch hat es nicht nur zwei, sondern bereits vier filmische Adaptionen des dystopischen Erzklassikers gegeben. Die allererste davon war eine fünfzigminütige (!) Version, die der amerikanische Fernsehsender CBS 1953 – drei Jahre nach Orwells Tod – ausstrahlte. Ein reichlich bizarr anmutendes Projekt, über das mir nichts näheres bekannt ist. Ein Jahr später folgte die BBC-Fassung von Nigel Kneale und Rudolph Cartier. Und erst 1956 vergriff sich Anderson an dem Stoff und bereitete ihn à la Hollywood auf.

Geboren am 18.April 1922 in Barrow-in-Furness und aufgewachsen auf der Isle of Man, hatte Thomas "Tom" Nigel Kneale ursprünglich eine Karriere als Rechtsanwalt einschlagen wollen. Ob seine Herkunft zu seiner späteren Hinwendung zur Phantastik beigetragen hat – wer weiß? Er selbst sagte dazu einmal: "There's always been a traditional belief on the Isle of Man in things you can't quite see." Doch abgesehen von dem Namen "Quatermass" wüsste ich nicht, dass sich in seinem Werk irgendetwas finden ließe, was auf das keltische Erbe der Insel hindeuten würde. Wie dem auch sei, jedenfalls begann ihn die Beschäftigung mit dem Rechtswesen schon bald zu langweilen, und er wandte sich stattdessen der Schriftstellerei zu. Seine {lebenslange} Erkrankung an Photophobie verhinderte, dass er als Soldat in den 2. Weltkrieg ziehen konnte. Stattdessen siedelte er nach London über, wo er 1945 eine Schauspielausbildung an der Royal Academy of Dramatic Art begann, während zur selben Zeit einige seiner Kurzgeschichten im Radio der BBC vorgetragen und in Magazinen wie Argosy, Convoy und The Strand veröffentlicht wurden. 1949 erschien ein Sammelband unter dem Titel Tomato Cain and Other Stories mit einem Vorwort von Elizabeth Bowen, in dem sich die irische Schriftstellerin quasi als Prophetin erwies, wenn sie schrieb: "These tales ... show a return to the great mainstream of the English story tradition – with which one associates Kipling, Wells, Saki, Somerset Maugham". Tatsächlich gewann Kneale im nächsten Jahr den Somerset Maugham Award. Seine finanziellen Probleme waren damit freilich nicht gelöst, und seine Arbeit am Stratford Memorial Theatre befriedigte ihn nicht wirklich. So musste es ihm wie ein Geschenk des Himmels erscheinen, als sich ihm die Möglichkeit eröffnete, für das Fernsehen der BBC zu arbeiten.
1952 löste Michael Barry Val Gielgud an der Spitze der Schauspielabteilung der BBC ab. Der Bruder des großen Schauspielers John Gielgud hatte eine herausragende Rolle in der Entwicklung des Radiodramas gespielt, schien jedoch kein Gefühl dafür zu haben, was das neue Medium Fernsehen leisten könnte. Und auch in seiner angestammten Domäne machte sich allmählich sein künstlerischer Konservativismus bemerkbar. So zeigte er sich in den 50er Jahren u.a. blind für das Talent von Samuel Beckett und Harold Pinter und war verantwortlich dafür, dass Waiting for Godot sein englischsprachiges Debut nicht als Radiohörspiel erlebte. Barry seinerseits trat mit dem Ziel an, das Fernsehen von den Spinnweben altmodischer Kunstvorstellungen zu befreien und ihm neue, ihm angemessene Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen. Dazu holte er sich Leute wie Rudolph Cartier und Nigel Kneale an Bord.
Der als Rudolph Kacser 1904 in Wien zur Welt gekommene Max Reinhardt - Schüler Cartier hatte seine Filmkarriere bei der UFA begonnen. Nach der Machtergreifung Hitlers war er 1933 aus Deutschland geflohen, hatte auf Anraten seines Exkollegen und Mitemigranten Billy Wilder vergeblich versucht, in Hollywood Fuß zu fassen, um 1935 schließlich nach Großbritannien überzusiedeln. Michael Barry engagierte ihn 1952 als Produzenten und Regisseur für die BBC. Cartier teilte seine Einschätzung, dass das Fernsehdrama dringend einer Reform bedurfte: "When Michael Barry asked me my opinion of British television drama, I told him I thought it was terrible. I said that the BBC needed new scripts, a new approach – a whole new spirit, rather than endlessly televising classics like Dickens or familiar London stage plays." Sein erstes Projekt war das Schauspiel Arrow to the Heart, eine Bearbeitung der Erzählung Unruhige Nacht von Albrecht Goes, die auf dessen Erfahrungen als "Kriegspfarrer" der Wehrmacht an der Ostfront basierte. Einen solchen Stoff anzupacken, erforderte Anfang der 50er Jahre gehörigen Mut. Cartiers Dialoge wirkten auf Barry "zu deutsch", so dass er Nigel Kneale, den er soeben als fest angestellten Drehbuchschreiber in den Stab der BBC aufgenommen hatte, mit einer Überarbeitung beauftragte. Wie groß Kneales Beitrag zu Cartiers Stück tatsächlich war, ist unbekannt, auf jedenfall begann damit die äußerst fruchtbare Zusammenarbeit der beiden.
Obwohl Kneale bis dato keinerlei Erfahrung mit Fernsehproduktionen gehabt hatte, besaß er eine ähnlich klare Position zu ihnen wie Cartier: "I was determined to break away from all the drawing-room stage plays that TV did then". Gemeinsam machten sie sich daran, das britische Fernsehen der 50er Jahre zu revolutionieren, getreu Cartiers Credo: "One only discovers the possibilities of television by trying the impossible". Ihr erster richtig großer Coup war die im Sommer 1953 in sechs Teilen ausgestrahlte SciFi-Serie The Quatermass Experiment, auf die ich im zweiten Teil meiner Tour etwas näher eingehen werde. Dem folgte im Dezember 1953 eine Adaption von Emily Brontës Wuthering Heights. Mit diesen beiden Produktionen hatte Cartier gezeigt, dass er sowohl für Science Fiction als auch für Literaturadaptionen ein Händchen besaß, was der Grund dafür gewesen sein dürfte, dass ihn Michael Barry als nächstes mit der Verfilmung von Nineteen Eighty-Four betraute.

Die BBC hatte die Rechte für eine Fernsehadaption des Romans unmittelbar nach dessen Erscheinen 1949 erworben, und es geht das Gerücht, dass der exzentrische und radikale Theaterkritiker Kenneth Tynan eine Zeit lang mit dem Gedanken gespielt habe, eine entsprechende Bearbeitung anzufertigen. Tatsächlich jedoch war es der Autor Hugh Faulks, der 1953 ein erstes Drehbuch verfasste. Dieses fand jedoch offenbar nicht die Zustimmung Cartiers, der es stattdessen vorzog, erneut mit Nigel Kneale zusammenzuarbeiten.
Vor allem aus technischen Gründen war es in den 50er Jahren üblich, Fernsehspiele live zu übertragen und nicht aufzuzeichnen. Mit Ausnahme einiger bereits zuvor gefilmter Sequenzen {vor allem der Außenaufnahmen im "Prole"-Viertel}, galt dies auch für die am 12. Dezember 1954 ausgestrahlte Fassung von Nineteen Eighty-Four. (1) Der gewaltige Publikumserfolg führte jedoch dazu, dass vier Tage später eine zweite "Aufführung" produziert und gesendet wurde. Und von dieser wurde mit Hilfe von "Telerecording" eine Aufzeichnung für die Archive der BBC angefertigt, wofür wir den Göttern der Filmkunst auf ewig zu Dank verpflichtet sind, auch wenn Hauptdarsteller Peter Cushing später erklärte, die erste, nicht erhaltene Version sei die bessere gewesen.

Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde, Kneales & Cartiers Adaption zur besten Verfilmung von Nineteen Eighty-Four zu erklären. Auf jedenfall ist sie der Version von Michael Radford zumindest ebenbürtig. Auch trug sie ganz entscheidend dazu bei, Orwells Roman bei einem breiteren Publikum bekannt zu machen.
Kneales Script hält sich sehr eng an seine literarische Vorlage, und mit Cushing als Winston Smith, André Morell als O'Brien, Donald Pleasance als Syme und Campbell Gray als Parsons verfügt der Film über vier ausgezeichnete Darsteller in den männlichen Hauptrollen. Lediglich Yvonne Mitchell als Julia scheint mir ein Missgriff gewesen zu sein, doch darauf werde ich gleich noch etwas genauer eingehen. Eine Inhaltszusammenfassung scheint mir unnötig. Zumindest in groben Zügen dürfte jedem literarisch oder filmisch Interessierten der Plot bekannt sein.

Die ersten zehn Minuten freilich hinterließen bei meiner ersten Begegnung mit dem Film ein eher zwiespältiges Gefühl,  und wenigstens zum Teil hat sich dies auch jetzt noch nicht geändert.
So bin ich z.B. bis heute nicht recht glücklich damit, dass die Parteimitglieder große, weiße Kennnummern auf ihren Overalls tragen. Wird uns damit nicht etwas gar zu deutlich aufs Auge gedrückt, dass in Ozeanien Menschen zu bloßen Nummern degradiert worden sind? Irgendwie erinnert mich das an das Erscheinungsbild der Proletarier in Metropolis, mit dem entscheidenden Unterschied, dass Fritz Langs Werk als Ganzes einer expressionistischen, nicht realistischen Ästhetik gehorcht, was auf Nineteen Eighty-Four nicht zutrifft.
Sehr viel problematischer finde ich allerdings nach wie vor, dass der Film mit Bildern eines Atomkriegs beginnt, woraufhin uns das Panorama eines weitgehend in Trümmern liegenden London präsentiert wird und eine Stimme aus dem Off vom Untergang der Zivilisation und dem Aufstieg von Ingsoc erzählt. Nun war die Angst vor einem drohenden atomaren Holocaust 1954 sicher sehr groß. Die Einäscherung von Hiroshiama und Nagasaki lag noch kein Jahrzehnt zurück, und Großbritannien hatte gerade einmal zwei Jahre zuvor seine erste eigene Kernwaffe gezündet, derweil die USA und die Sowjetunion sich im Wettrüsten mit Wasserstoffbomben gegenseitig zu übertrumpfen versuchten. Mit Them! (Formicula) und Gojira/Godzilla gelangten 1954 zwei weitere Phantastik-Klassiker in die Kinos, die der weitverbreiteten Furcht vor den höllischen Vernichtungswaffen Ausdruck verliehen. Im Zusammenhang mit Quatermass II werden wir noch sehen, wie wichtig dieses Thema für Nigel Kneale war, doch im Falle von Nineteen Eighty-Four scheint mir die Verknüpfung mit ihm eher unklug. Die Geschichte erhält dadurch einen leicht postapokalyptischen Touch, was dazu führen könnte, dass wir in der Ingsoc-Despotie weniger das Produkt gesellschaftlicher Entwicklungen als vielmehr einer politischen Fehlentscheidung {des berühmten Drucks auf den roten Knopf} sehen.
Auch die Darstellung der "Two Minutes Hate" – der regelmäßigen Propagandaveranstaltung, bei der die Parteimitglieder auf wütenden Hass gegen die "äußeren und inneren Feinde" eingeschworen werden – scheint mir nicht wirklich geglückt. Sie finden in einen kleinem Raum vor einer Handvoll von Leuten statt und bestehen fast ausschließlich aus einer Rede des "Erzverräters" Emmanuel Goldstein, die auf einem Teleschirm zu sehen ist. Goldstein erscheint dabei als eine leicht zu identifizierende Karrikatur Leo Trotzkis. Nun besitzt er zwar auch in Orwells Schilderung karrikaturenhafte Züge – im Buch verwandelt er sich sogar in eine meckernde Ziege (2) –, doch bei einer filmischen Umsetzung wirkt das irgendwie falsch. Der sentimental-pathetische Gestus des "Erzverräters" lässt zusammen mit dem sehr kleinen Publikum die hysterischen Ausbrüche der Parteiarbeiter unrealistisch erscheinen. Hier zumindest zeigt sich Michael Radfords Version als eindeutig überlegen, wobei man natürlich nicht vergessen darf, dass diesem ein sehr viel größeres Budget zur Verfügung stand.
Schließlich muss ich zugeben, dass mir auch Peter Cushings Porträt von Winston Smith anfangs nicht so ganz gefallen hat. In den ersten paar Szenen spielt er ihn als eine übermäßig nervös wirkende Person, die so offensichtlich etwas zu verbergen hat, dass man sich fragen muss, warum die Gedankenpolizei ihn nicht schon längst abgeholt hat.

Doch dieser negative Eindruck verflüchtigt sich sehr schnell, und im Laufe des Films beweist Cushing dann einmal mehr sein gewaltiges schauspielerisches Talent. Sein Winston ist ein ständig von Zweifeln und Schuldgefühlen gequälter Mensch, der verzweifelt versucht, das richtige zu tun, und nicht einmal in der Umarmung seiner Geliebten für mehr als ein paar Minuten Frieden zu finden vermag. Alles in allem glaube ich, dass Jim Moon recht hat, wenn er seine Darstellung von Orwells "Held" als die defintive bezeichnet.
Und auch in anderer Hinsicht zeigt der Film von Kneale und Cartier schon sehr bald seine beeindruckenden Qualitäten. So liefert uns Donald Pleasance eine beunruhigende Interpretation Symes, des ebenso klugen wie zynischen Intellektuellen (3). Und das sowohl, wenn er in zugleich ruhiger und verzückter Weise die Tugenden von Newspeak anpreist, als auch, wenn wir ihm verwirrt und panisch kurz vor seiner Verhaftung im Chestnut Café begegnen. (4)
Vielleicht noch faszinierender ist Campbell Grays Parsons mit seiner ehrlichen Begeisterung für Ingsoc und seiner im Grunde sympathisch, aber irgendwie auch traurig und erschreckend wirkenden Kameraderie {so spricht er Winston grundsätzlich mit "old man" an}. Wirklich unheimlich wird es dann, sobald wir seine Familie kennenlernen. Wie quälend ist es, die Hilflosigkeit von Mrs. Parsons (Hilda Fenemore) mit ansehen zu müssen, die einfach nicht anders kann, als sich wie eine liebevolle Mutter zu verhalten, und dafür mit nichts anderem belohnt wird als Verletzungen und Demütigungen. Die Partei ist bemüht, alle natürlichen emotionalen Bindungen zwischen Kindern und ihren Eltern zu zerstören, und indoktriniert die junge Generation dementsprechend. Parsons Kinder sind in dieser Hinsicht ein voller Erfolg. Dass ihr Vater darauf auch noch stolz ist, macht die Situation nur noch unerträglicher. Vor allem die Art, in der die Parsons-Tochter(Pamela Grant) die eigene Mutter terrorisiert und demütigt, ja ihr kaum verhüllt mit der Gedankenpolizei droht, wirkt extrem verstörend. Der genießerische Tonfall, in dem das kleine Mädchen den Namen "Ministry of Love" ausspricht, reicht aus, um einem eisige Schauer über den Rücken zu jagen.

Die größte Schwäche des Films ist Julia. Nicht dass Yvonne Mitchell eine schlechte Schauspielerin wäre, doch für diese Rolle ist sie meiner Ansicht nach eine klare Fehlbesetzung gewesen. Das fängt schon damit an, dass sie mit 39 Jahren eindeutig zu alt für den Part ist. Julia ist ein Mitglied der "Anti-Sex League", der Jugendorganisation der Partei, vergleichbar dem sowjetischen Komsomol. Anders als Winston ist sie die Vertreterin einer Generation, die unter Ingsoc aufgewachsen ist und nicht einmal mehr verschwommene Erinnerungen an eine Zeit vor Big Brother besitzt. Dieser Altersunterschied akzentuiert auch die verschiedenen Formen, die die Rebellion gegen das System bei den beiden annimmt. Während Winston sich bemüht, die Entstehung und Funktionsweise des Regimes zu verstehen, und eine politische Aktivität in den Reihen von Goldsteins legendärer "Bruderschaft" anstrebt, begnügt sich Julia damit, im Geheimen die Regeln zu brechen und aus ihrem persönlichen Leben das Beste zu machen, was unter den gegebenen Umständen möglich ist. Kneales Drehbuch ignoriert diesen Unterschied nicht, hebt ihn vielleicht sogar noch deutlicher hervor. Doch Yvonne Mitchell ist dafür einfach die falsche Schauspielerin. Sie wirkt mehr wie eine typische 50er Jahre - Film - Heroine und weniger wie Orwells impulsive, sinnlich-hedonistische Rebellin. Ihre Verachtung für die Heuchelei der herrschenden Kaste klingt bei weitem nicht scharf genug, selbst wenn sie die Mitglieder der Inneren Partei als privilegierte "Schweine" beschimpft. Alles in allem hinterlässt sie einen eher sentimentalen Eindruck, was natürlich auch damit zu tun hat, dass die im Buch so wichtige sexuelle Dimension ihrer Beziehung zu Winston stark heruntergespielt wird.

Das zweite große Problem teilt der Film mit dem von Michael Radford. Und vermutlich würde auch jede neue Adaption von Nineteen Eighty-Four unter ihm leiden. Die Passagen aus Goldsteins Buch The Theory and Practice of Oligarchical Collectivism, die Winston liest, spielen eine zentrale Rolle in Orwells Roman. (5) In ihnen erfahren wir, wie und warum das Ingsoc-System entstanden ist und wie es funktioniert. Filmisch lässt sich das aus verständlichen Gründen nur sehr schwer umsetzen, so dass sich sowohl Nigel Kneale als auch Michael Radford darauf beschränkt haben, Smith einige markante Zitate vortragen zu lassen. Doch dadurch verliert die Geschichte nicht nur sehr viel an intellektuellem Gehalt {was möglicherweise einfach nicht zu verhindern ist}, es entsteht auch die Gefahr, dass das Publikum ganz andere Schlussfolgerungen aus dem Dargestellten zieht, als dies von Orwell beabsichtigt wurde. Es ist vermutlich kein Zufall, dass der folgende Auszug aus Goldsteins Buch, der die historischen Wurzeln von Ingsoc beschreibt, in keiner der Filmversionen vorkommt:
From the moment when the machine first made its appearance it was clear to all thinking people that the need for human drudgery, and therefore to a great extent for human inequality, had disappeared. If the machine were used deliberately for that end, hunger, overwork, dirt, illiteracy, and disease could be eleminated within a few generations. [...] But it was also clear that an all-round increase in wealth threatened the destruction – indeed, in some sense was the destruction – of a hierarchical society. [...] In the long run, a hierachical society was only possible on a basis of poverty and ignorance.
Die Diktatur der Partei ist nicht das Ergebnis eines fehlgeleiteten Versuchs, eine klassenlose Gesellschaft zu erschaffen. Sie ist vielmehr die Methode, mit der eine bürokratisierte Mittelklasse die historisch möglich und sogar notwendig gewordene Errichtung einer solchen Gesellschaft zu verhindern sucht. Macht man sich dies klar, so lässt sich Orwells Roman kaum mehr als das "antikommunistische Lehrstück" lesen, zu dem er vor allem während des Kalten Kriegs von vielen erklärt wurde.
Ohne Nigel Kneale damit irgendwelche bösen Absichten unterstellen zu wollen, macht seine Adaption den Missbrauch der Erzählung durch rechte Propagandisten doch sehr viel leichter als dies bei Orwells Original der Fall ist {vorausgesetzt man liest das Buch sorgfältig}. Und die anfängliche Verknüpfung mit dem Thema Atomkrieg verstärkt diesen Zug des Filmes eher noch. So gesehen wundert es mich auch nicht so sehr, dass Königin  Elizabeth und Prinz Philip damals öffentlich verkünden ließen, dass ihnen die Sendung gefallen habe.

Damit kommen wir zum letzten und vielleicht auch wichtigsten Stück des Filmes: Winstons "Umerziehung" im "Ministerium der Liebe". Hier wird vielleicht am deutlichsten, warum Nineteen Eighty-Four als ein Meilenstein der britischen TV-Geschichte, und Nigel Kneale und Rudolph Cartier als die Schöpfer des modernen Fernsehspiels auf der Insel gelten. Es waren vor allem diese Szenen, die 1954 eine politische Kontroverse und sogar offizielle Proteste seitens einiger Tory-Abgeordneter auslösten. (6) Dabei bekommt man von der eigentlichen Folterung Smiths nur sehr wenig zu sehen. Die Kamera konzentriert sich vielmehr fast vollständig auf O'Briens Gesicht, was das Geschehen in seiner zynischen Grausamkeit jedoch eher noch bedrückender macht. Freilich würde Cartiers kunstvolle Cinematographie ihre volle Wirkung nicht ohne das beeindruckende Spiel von André Morell entfalten können. Cartier hatte mit dem Schauspieler  bereits ein Jahr zuvor bei It Is Midnight, Dr Schweitzer zusammengearbeitet und ihn ursprünglich auch für die Rolle von Prof. Quatermass vorgesehen {die er 1958/59 in Quatermass and the Pit schließlich tatsächlich übernehmen sollte}. Freunden & Freundinnen des britischen Genrefilms dürfte Morell vor allem als Dr. Watson aus Hammers Version des Hound of the Baskervilles (1959) und einer Reihe von Horrorflicks wie She (1965), Plague of the Zombies (1966) und The Mummy's Shroud (1967) bekannt sein. Er hat aber auch einen Auftritt in Stanley Kubricks Barry Lyndon (1975). Seinem O'Brien verleiht er eine eisige Kälte und Intelligenz, die den Vertreter der Inneren Partei zu einer noch bedrohlicheren Figur machen, als dies dreißig Jahre später Richard Burton gelingen würde.

Dass Nigel Kneale den ebenso grausamen wie hoffnungslosen Schluss von Orwells Roman in keiner Weise abgeschwächt hat, spricht einmal mehr für seine künstlerische Integrität und seinen Mut, war man derartiges im jungen Fernsehen der BBC doch ganz sicher nicht gewöhnt.

Auf die naheliegenden Parallelen zwischen Nineteen Eighty-Four und aktuellen politischen Entwicklungen möchte ich an dieser Stelle gar nicht erst eingehen. Stattdessen beende ich die erste Etappe auf unserer Nigel Kneale - Tour lieber damit, meinen Leserinnen und Lesern noch einmal wärmstens ans Herz zu legen, sich diese frühe Adaption von Orwells Roman unbedingt einmal anzuschauen. Es lohnt sich wirklich! Der Film ist sowohl auf Youtube als auch im Internet Archive zu finden.




(1) Wer sich für die technischen Details der Produktion interessiert, kann genaueres dazu in  Episode 59 des British Invaders - Podcast erfahren.
(2) Wikipedia behauptet: "This image was used in a propaganda film during the Kino-eye period of Soviet film, which showed Trotsky transforming into a goat." Leider enthält der Artikel keine wirkliche Quellenangabe. Dass es eine solche Szene in einem der zahllosen stalinistischen Propagandastreifen tatsächlich gibt, halte ich für sehr gut möglich. Doch ärgerlicherweise vermittelt der Artikel den Eindruck, diese hätten irgendetwas mit Dsiga Wertows Prinzip des "Kino-Auges" zu tun gehabt. Eine (wenn auch vielleicht ungewollte) Verleumdung eines der ganz Großen der Filmkunst. Die Bezeichnung "Kino-Auge-Periode des sowjetischen Films" ist mir unbekannt. Wenn überhaupt, so könnte sie sich höchstens auf die frühe Phase (1923-27) beziehen, als Wertow seine Filme Kino-Auge, Kino-Prawda, Ein Sechstel der Erde sowie sein avantgardistisches Meisterwerk Der Mann mit der Kamera drehte. In dieser Zeit ist eine Trotzki-Ziegen-Montage jedoch völlig undenkbar.
(3) Man kann sich sehr gut den Typus des stalinistischen Intellektuellen vorstellen, der Orwell als Vorbild für diese Figur gedient haben mag: Zu klug, um die monströsen Lügen der Führung nicht zu durchschauen, doch stets bereit, Stalin und die Parteilinie rückhaltlos zu verteidigen. Stolz darauf, zur "revolutionären Avantgarde" zu gehören, und zugleich voller Verachtung für die "Massen".

(4) Ironischerweise wirkte Pleasance auch in Michael Andersons Version mit, in der die von ihm gespielte Figur offenbar ein {schwer vorstellbares} Amalgam aus Syme und Parsons darstellt.
(5) Orwell ahmte dabei den Stil Trotzkis nach, dessen Analyse des Stalinismus in Die verratene Revolution eines der Vorbilder für Goldsteins Buch gewesen sein dürfte.
(5) Vgl. Episode 60 der British Invaders.

Montag, 17. Juni 2013

"Signal to Noise"

Ende der 80er Jahre gründeten Steven Brust, Emma Bull, Bill Colsher, Lojo Russo und Adam Stemple {Sohn von Jane Yolen} in Minneapolis die kurzlebige Folk Jazz - Band Cats Laughing. Auf ihrer ersten LP The Bootleg Issue findet sich u.a. eine Vertonung von
aus Emma Bulls wunderbarem Roman War for the Oaks (1987), einem der Gründungswerke der Urban Fantasy, die damals noch nichts mit schmachtenden Teengirls und glitzernden Vampiren zu tun hatte.

Drinking coffee,
Have to stay awake and think of you.
Aching awfully,
Knowing my perceptions aren’t true.
If you were what I’ve made you
Not as your acts betrayed you
How could I keep away?
But things still lead me on,
A word, and then it’s gone.
What lives here, and what’s stray?
Tell me, please, what’s signal and what’s noise?

Interference
Or is that the broadcast that I’ve got?
Your appearance
Renders me incapable of thought.
Here’s your voice on the phone.
Your sweet and sullen tone,
What am I to believe?
Did you blow me a kiss
Or was that just tape hiss?
When I hang up, will you grieve?
Have pity, now, what’s signal and what’s noise?

Here’s your photo,
I found it cleaning out my bottom drawer.
When you wrote, oh,
I couldn’t keep from wondering what for.
Through the gray, through the grain,
A picture taken in the rain,
That doesn’t show your face.
Connected dots don’t make a line,
You confuse me every time,
Confusion has its place,
But just this once, what’s signal and what’s noise?

Als Flash Girls präsentierten Emma Bull und Lorraine Garland später noch einmal eine andere Version desselben Songs.

Samstag, 15. Juni 2013

Strandgut der Woche

Mittwoch, 12. Juni 2013

Und das soll der "Hobbit" sein?

Es gibt viele Gründe, warum ich nur sehr wenig von Peter Jackson als Filmemacher halte: Ihm fehlt die Sensibilität eines echten Künstlers; seine Werke vermitteln den Eindruck, als halte er sein Publikum für einen Haufen Idioten, denen man alles mit dem Vorschlaghammer einbläuen müsste; er verwechselt regelmäßig Action mit Dynamik; ihm fehlt die wichtige Fähigkeit, Maß halten zu können; in dramaturgischer Hinsicht sind seine Filme oft echte Katastrophen; seine Vorliebe für ausufernde Schlachtengemälde ruft bei mir in erster Linie Langeweile hervor usw. usf.  Der Trailer zum zweiten Teil seiner Hobbit - Adaption The Desolation of Smaug hat mich jedoch vor allem an einen dieser Gründe erinnert: Jackson hat keine filmischen Adaptionen von Tolkiens Werken geschaffen, er hat vielmehr der Welt gezeigt, was dabei herauskommt, wenn man den Lord of the Rings und den Hobbit als klischeehafte 80er Jahre - High Fantasy liest. Und das Ergebnis ist in meinen Augen nicht sehr erbaulich:


Dienstag, 11. Juni 2013

"Some honesty and truth"

Drehbuchautor Nigel Kneale (1922-2006) war der wohl bedeutendste Vertreter der Phantastik im britischen Fernsehen des 20. Jahrhunderts. Doch wenn man sich sein Oeuvre etwas genauer betrachtet, so wird man dabei u.a. zu der wichtigen Erkenntnis gelangen, dass es in erster Linie nicht das Phantastische, sondern das Menschliche ist, was die bleibende Faszination seiner Filme und TV-Serien ausmacht. Ganz gleich, ob es in ihnen um Außerirdische, Yetis, intelligente Ratten oder Gespenster geht, letztenendes handelt es sich bei ihnen allen um Auseinandersetzungen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem Wesen des Menschen. Wenn der Begriff der Wahrheit von den postmodernen Schlauköpfen unserer Zeit meist nur noch mit Hohn und Verachtung behandelt wird {weil es so etwas in Wirklichkeit ja überhaupt nicht gäbe}, galt für ihn ganz selbstverständlich: "All stories should have some honesty and truth in them, otherwise you're just playing about."

Wie ich bereits am Ende meiner Peter Cushing - Woche angekündigt habe, plane ich, eine kleine Tour durch Nigel Kneales Werk zu unternehmen und dabei einige der Highlights aus seinem über vierzigjährigen Schaffen vorzustellen.
Ich weiß, vergleichbare Ankündigungen meinerseits sind in der Vergangenheit schon häufiger mal im Sande verlaufen. Aber vielleicht klappt es ja besser, wenn ich einen offiziellen Plan für mein Unternehmen aufstelle {ähnlich wie zu Cushings 100. Geburtstag}. Viel mehr als eine Besprechung pro Woche wird kaum drin sein, so dass sich für die nächsten sieben Wochen ungefähr folgender Ablauf ergeben würde:
  • Nineteen Eighty-four (1954)
  • Quatermass II (1955)
  • The Abominable Snowman (1957)
  • Quatermass and the Pit (1958/59)
  • The Year of the Sex Olympics (1968)
  • Beasts (1976)
  • The Woman in Black (1989)
Den Fernsehfilm The Stone Tape von 1972 werde ich draußen lassen. Zum einen, weil ich hier schon einmal etwas über ihn geschrieben habe. Zum anderen, weil ich momentan nicht die Möglichkeit besitze, ihn mir noch einmal anzuschauen.

Montag, 10. Juni 2013

Das Frühlingsopfer

Letzten Monat jährte sich zum einhundertsten Mal die legendäre Pariser Uraufführung von Igor Strawinskijs Ballett Le Sacre du Printemps, einem der prägenden Stücke der musikalischen Moderne. Nun bin ich zwar wirklich kein Experte in Sachen Musik – was mich nicht davon abhalten soll, allen meinen Lesern & Leserinnen dringend zu empfehlen, sich dieses fantastische Werk einmal anzuhören, falls sie noch nicht mit ihm vertraut sind (1) –; aber da ich mich vor bald einem Jahrzehnt im Zusammenhang mit einer {nie fertiggestellten} Arbeit über den Buddhismus im jungen Sowjetrussland auch mit dem Maler Nikolai Roerich beschäftigt habe, der neben dem Komponisten wohl am meisten zur Entstehung dieses Meisterwerkes beigetragen hat, dachte ich mir, ich könnte die entsprechenden Passagen aus meinem Manuskript anlässlich dieses Jubiläums hier einmal in leicht abgewandelter Form präsentieren. (2)

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert breitete sich in großen Teilen der russischen Intelligenzija eine starke Faszination für einen {meist asiatisch angehauchten} Mystizismus aus. {Wie es dazu kam, will ich an dieser Stelle nicht genauer ausführen, doch wer sich für den sozialen Kontext dieser Entwicklung interessiert, sollte sich einmal Maxim Gorkis Theaterstück Sommergäste zu Gemüte führen.}
Die Formen, die dieser Mystizismus annahm, waren ausgesprochen vielfältig – von Dmitri Mereschkowskijs eher christlich geprägtem "neuem religiösen Bewusstsein", über das Rosenkreuzertum und den auf die Lehren Joseph Alexandre Saint-Yves d’Alveydres basierenden "Ordre Martiniste", bis hin zur theosophischen Heilslehre Helena Blavatskys. Letztenendes schuf sich jeder dieser Individualisten eine auf den persönlichen Geschmack zugeschnittene Privatreligion. Zu den theosophisch beeinflussten Künstlern Russlands zählten u.a. so bedeutende Persönlichkeiten wie der Komponist Aleksandr Skrjabin und die Pioniere der abstrakten Malerei Vassilij Kandinskij und Kasimir Malewitsch. Skrjabins unvollendetes Projekt Mysterium eine Verschmelzung von religiösem Ritual und wagnerianischem Gesamtkunstwerk – lässt den theosophischen Einfluss unschwer erkennnen:

.’Mystery’ was to be a massive performance without spectators, only participants. Music, dance, poetry, a light show, and even perfumes were incorporated into the score. Its opening chords were to be struck in the Tibetan Himalayas, continue way over to England, and culminate in a moment of mystic union on the banks of the Ganges.Mystery’ would be an expression of a single, universal truth, a synthesis of music, poetry, dance, and light. (3)
Andrej Belyj  einer der führenden Vertreter des Symbolismus und der vielleicht bedeutendste Prosaiker dieser Schule begann sich ab 1896 mit der Theosophie auseinanderzusetzen, lernte 1901 Anna Sergejewna Gonearowa  die Gründerin des ersten theosophischen Zirkels in Moskau kennen und beschäftigte sich in den folgenden Jahren intensiv mit den Schriften Blavatskys, nur um sein Heil schließlich in Rudolf Steiners Anthroposophie zu finden.
Der bekannteste Vertreter des asiatisch inspirierten Okkultismus war jedoch ganz ohne Zweifel der Maler Nikolai K. Roerich. Während der Einfluss der theosophischen Philosophie und Symbolik auf Werke wie Belyjs Roman Petersburg oder Skrjabins Prometheus sicher nicht zu leugnen ist, erschöpft sich deren Bedeutung doch nicht in der Darstellung okkulter Lehren. (4) Bei Roerich jedoch überwucherte der Mystizismus schließlich beinahe sein gesamtes künstlerisches Schaffen und machte aus dem Maler letztenendes eine etwas tragikomische Gestalt. Und auch wenn seine Metamorphose zum Guru des Agni Yoga erst nach der Oktoberrevolution in der Emigration einsetzte, waren die Grundlagen für diese Entwicklung doch bereits in den Jahren zuvor gelegt worden.

1874 als Sohn des angesehenen und wohlhabenden Rechtsanwaltes Konstantin Fjodorowitsch Roerich in St. Petersburg zur Welt gekommen, wuchs er in einer kultivierten und weltoffenen Umgebung auf. Zum Freundeskreis des Vaters, der ein überzeugter Anhänger der liberalen Reformen der 60er Jahre war, gehörten so bedeutende Persönlichkeiten wie der berühmte Chemiker Dmitrij Mendelejew, der Folklorist Kostomarow, die Orientalisten Golstunskij und Podzdnejew sowie der Maler und Bildhauer Michail Mikeschin.
Nach seinem Studium an der Kaiserlichen Kunstakademie, näherte sich Roerich nach und nach der Gruppe Mir Iskusstwa ("Welt der Kunst") an, der er allerdings erst 1903 – ein Jahr vor ihrer Auflösung – endgültig beitrat. Der Kreis junger Maler um den Kunstkritiker Sergej Djagilow bildete in gewisser Weise das Pendant zum Zirkel der Symbolisten in der Literatur. Man lehnte sowohl den verstaubten akademischen Stil als auch den sozialen Realismus der Peredwischniki (5) ab, verkündete die Prinzipien des l’art pour l’art und war darum bemüht, die russische Malerei für die Errungenschaften der europäischen Avantgarde zu öffnen. Die im Januar 1899 eröffnete internationale Mir Isskustwa - Ausstellung machte das russische Publikum erstmals mit den aktuellen Strömungen des Impressionismus und Post-Impressionismus bekannt. Viele Mitglieder der Gruppe standen dem mystisch-philosophischen Kreis um Mereschkowskij nahe. Ihre Rolle als Avantgarde der russischen Malerei war allerdings nur von kurzer Dauer. Der Beginn des 20. Jahrhunderts war auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in Russland eine Epoche stürmischer Entwicklungen. Mit Kubismus, Futurismus und Expressionismus standen schon bald ganz andere Stilrichtungen an der Spitze der künstlerischen Bewegung. Ab 1910 war die Künstlergruppe Karobube das Zentrum der Avantgarde und Mir Isskustwa gehörte längst der Vergangenheit an.

Es ist kennzeichnend für Roerichs Weltanschauung, dass er wie jeder slawophile Romantiker auf die Frage "Welche historischen Persönlichkeiten mögen Sie am wenigsten?" die Antwort gab: "Peter der Große". (6) Der Maler sehnte sich aus der Gegenwart in einen harmonischen Urzustand zurück, von dem er glaubte, dass er einstmals existiert habe. Der große Herrscher des 17. Jahrhunderts, der Russland mit der Knute des Despoten auf den Weg einer modernen Entwicklung gezwungen und das "Fenster nach Europa" geöffnet hatte, musste ihm deshalb als der böse Geist der russischen Geschichte erscheinen. Ein Lobsänger altrussischer Bojarenherrlichkeit war Nikolai Roerich trotzdem nicht. Auch wenn manche seiner frühen Gemälde in einer klar definierten historischen Epoche angesiedelt sind – im 9./10. Jahrhundert, der Ära der Waräger und der Gründung der Kiewer Rus –, war er doch nie ein Historienmaler im eigentlichen Sinne des Wortes. Patriotische Großtaten oder epische Schlachtszenen interessierten ihn nur wenig. Er suchte in der Vergangenheit vielmehr nach einem kulturellen Gegenentwurf zur trivialen und hässlichen Gegenwart:

Es gibt heute nicht mehr viel Schönheit. Alles Schöne ist aus unseren Häusern, den Dingen des alltäglichen Lebens, aus uns selbst und unserer Arbeit verschwunden..., denn Schönheit wird nicht mehr benötigt, wo die große Niedergeschlagenheit unserer Zeit – die allmächtige Geschmacklosigkeit vorherrscht, wo sie über das Sehen und Fühlen der Menschen regiert.
Anders als die meisten Künstler des fin de siècle hatte Roerich nur wenig übrig für barocke Pracht oder einen überfeinerten Ästhetizismus. Wahre Schönheit glaubte er vor allem im Einfachen und Archaischen finden zu können. Der Kritiker Aleksandr Benois, der zum inneren Kreis der Mir Isskustwa - Gruppe gehörte, beschrieb diesen Unterschied folgendermaßen:

Roerich und ich haben verschiedene Ansichten zur Geschichte der Menschheit und des Menschen selbst: Wir haben unterschiedliche Weltbilder, die tief in uns verwurzelt sind. Ich schätze alles, was vollständig ist, alle Dinge, in denen die Idealvorstellungen bereits perfektioniert worden sind... Roerich dagegen fühlt sich zur Wildnis hingezogen, zur Entfernung, zu Urvölkern, zu der Entstehung von Formen und Ideen. In allen seinen Werken, mit all seiner Inspiration macht er seine Meinung geltend, daß das Gute der Kraft innewohnt - daß sich das Gute in der Vereinfachung und der Weiträumigkeit zeigt - und daß es notwendig ist, am Anfang zu beginnen. Ich schätze die Sprache Pushkins und wäre froh, wenn jedermann die Sprache der Götter sprechen würde, denn in dieser feinsinnigen Sprache findet sich soviel Wahrheit. Für den Künstler Roerich, für den Träumer Roerich und aufgrund seiner Vorliebe für die Vorgeschichte wäre es nichts Erschreckendes, zu der einfachen Sprache der Wilden zurückzukehren, solange nur der Instinkt klar und deutlich zum Ausdruck gebracht wird und solange es nicht die Falschheit und Verwirrung der sogenannten Zivilisation geben würde. (7)
Roerichs Archaismus war nicht nur eine Frage des künstlerischen Geschmacks, sondern – wie Benois ganz richtig bemerkt – ein Ausdruck seiner "Ansichten zur Geschichte der Menschheit und des Menschen selbst". Wenn er die Meinung vertrat, "daß es notwendig ist, am Anfang zu beginnen", seine Sympathie und Aufmerksamkeit den "Urvölkern" zuwandte und sich über "die Falschheit und Verwirrung der sogenannten Zivilisation" ereiferte, so sprach aus ihm die Überzeugung, der gesamte Entwicklungsgang der europäischen Kultur und Gesellschaft sei letztlich ein einziger tragischer Irrweg gewesen. Mit der Epoche der Waräger beschäftigte er sich wohl deshalb, weil sie den Beginn der schriftlich fixierten historischen Überlieferung Russlands darstellt. Doch sein eigentliches Verlangen war auf eine Welt jenseits der Geschichte gerichtet. Die innere Dynamik des historischen Prozesses mit seinen zahllosen Konflikten und Brüchen war unvereinbar mit seiner Vorstellung von ‘Wahrheit’ und ‘Schönheit’. Er sehnte sich nach einem vermeintlich entwicklungs
losen außer- oder vorgeschichtlichen Zustand der Harmonie. Konsequenterweise stand denn auch nicht die Kiewer Rus im Zentrum seines frühen Schaffens, sondern die Steinzeit.
Bereits in seiner Jugend hatte Roerich sich ernsthaft mit archäologischen Ausgrabungen beschäftigt. Hinzu kam ein starkes Interesse an Mythenforschung und Ethnologie. Das so erworbene Wissen floss auch in seine Gemälde ein. Dennoch sollte man sie nicht als Versuch interpretieren, das reale Leben der Menschen in einer prähistorischen Gesellschaft darzustellen. Vielmehr entwarf Roerich in ihnen das Bild eines Goldenen Zeitalters, in welchem der Mensch noch in Einklang mit der Natur und den himmlischen Mächten gelebt habe. Ein typisches Beispiel für diese romantische Vision von einem vorzeitlichen Idyll ist das 1911 entstandene Bild Vorväter des Menschen. Vor dem Hintergrund einer in zarten Pastelltönen gehaltenen Hügellandschaft sitzt ein Mann in altslawischer Tracht und spielt auf einer Rohrflöte. Sechs Bären haben sich rund um ihn herum friedlich ins Gras gelagert und scheinen seinem Spiel zu lauschen. Was auffällt, sind die mythologischen Bezüge. Der Kunsthistoriker Sergej Ernst hat sehr treffend von einer slawischen Version des Orpheus-Mythos gesprochen. Die Bären verweisen außerdem auf eine uralte slawische Überlieferung, derzufolge Meister Petz der Vorfahr des Menschen gewesen seien soll. In Roerichs vorzeitlichen Welten sind Mythos, Geschichte und Natur noch eins. Die sich in grenzenlose Fernen erstreckenden Hügellandschaften; der unendlich hohe und weite Himmel, der manchmal gut drei Viertel eines Gemäldes ausfüllt – dies alles lässt die Natur als eine ehrfurchtgebietende, quasigöttliche Macht erscheinen, der gegenüber der Mensch winzig und bedeutungslos wirkt. Man spürt, diesen Bildern liegt die Idee einer zugleich natürlichen wie gottgegebenen Ordnung der Dinge zugrunde, in die der Mensch sich einzufügen hat. Bei Vorväter des Menschen ist der Flötenspieler praktisch zu einem Teil der ihn umgebenden Landschaft geworden. Doch muss die Unterordnung des Menschen unter die Natur keineswegs immer solch idyllische Formen annehmen. Das Gemälde Befehle des Himmels z.B. ruft im Betrachter ganz andere Empfindungen wach. Das Bild zeigt einen bedrohlichen, wolkenverhangenen Himmel. Auf einem Hügel im Vordergrund hat sich eine Gruppe kleiner menschlicher Gestalten versammelt, die ihre Arme in einer Geste der Anbetung und Unterwerfung erhoben haben. Die gesamte Szenerie ist in rötliches Licht getaucht – ob von den Strahlen der untergehenden Sonne oder von den Flammen des göttlichen Feuers ist nicht auszumachen. Der Mensch als gehorsamer Diener der himmlischen Mächte – dies war Roerichs Ideal. Bilder wie der 1903 entstandene Bau der Schiffe, in denen der Mensch als Schöpfer von Kultur und Zivilisation dargestellt wird, bilden die große Ausnahme.
Die wohl bedeutendste Frucht dieser ‘Steinzeit-Periode’ im Schaffen Roerichs war jedoch kein einzelnes Gemälde, sondern die Zusammenarbeit mit Igor Strawinskij an Le Sacre du Printemps (‘Das Frühlingsopfer’). (8)
Sergej Djagilew hatte die beiden 1910 miteinander bekannt gemacht, und der Maler unterbreitete dem Komponisten bald darauf den Vorschlag für ein Ballettszenario: (9) In grauer Vorzeit versammelt sich ein Slawenstamm in der Nähe eines Heiligen Hügels, um den Beginn des Frühlings zu feiern. Höhepunkt der heiligen Riten und mystischen Tänze, die unter Leitung der Stammesältesten durchgeführt werden, ist ein Menschenopfer. Ein vom Schicksal auserwähltes Mädchen wird dem Sonnengott Yarilo dargebracht. In wilder Ekstase tanzt sich das junge Opfer im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode und ermöglicht so die Wiedergeburt des Frühlings.

Roerich lieferte nicht nur die Grundidee für das Szenario, er entwarf auch die Bühnenbilder und Kostüme für die legendäre Pariser Uraufführung vom Mai 1913 (10) und übte darüberhinaus einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die Choreographie Waslaw Nijinskys aus. Nicht ohne Grund sprachen Strawinskij und er von ‘unserem Kind’.
Hier zeigte sich, dass Roerich mehr war als ein Neoromantiker, der sich in eine idealisierte Steinzeit zurückträumte. Um so bedauernswerter ist seine spätere Entwicklung, die ihn zu dem etwas lächerlichen Guru einer esoterischen Sekte machte, worunter auch sein künstlerisches Schaffen zu leiden hatte. Selbstverständlich ist es in erster Linie Strawinskijs atemberaubende Musik, die Le Sacre du Printemps zu einem der bedeutendsten Werke der Moderne macht. Dennoch sollte man Roerichs Beitrag nicht unterschätzen. Bei dieser Arbeit bewies er wirkliches Einfühlungsvermögen in eine archaische Gefühls- und Gedankenwelt. Das Universum, das er uns dadurch eröffnet, ist kein friedliches Idyll, sondern wird von harten und grausamen Gesetzen beherrscht. Leben und Tod scheinen aufs engste miteinander verflochten zu sein. Damit die Natur im Frühling zu neuem Leben erwachen kann, muss ein Mensch den Tod erleiden. Das Opfer vollzieht sich in Form eines Tanzes. Der Ausdruck höchster Lebenskraft schlägt dabei um in die Vernichtung eines Lebens. Doch aus diesem Tod erwächst neues Leben für die Natur und die Stammesgemeinschaft. Eine ebenso faszinierende wie erbarmungslose Sicht der Welt.

Trotz der Härte seines "archaischen Realismus" fügt sich Le Sacre du Printemps sehr gut in Roerichs Gesamtwerk aus diesen Jahren ein, liegt dem Frühlingsopfer doch die Idee des ewigen Kreislaufs der Jahreszeiten zugrunde.
Die Natur als ein von unveränderlichen Gesetzen des Werdens und Vergehens beherrschter Bereich der Wirklichkeit war nicht nur für Roerich eine bevorzugte Zufluchtsstätte vor der beunruhigenden Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung. Auch Afanassi Fet, der letzte große Dichter des russischen Adels, hatte in seiner Lyrik immer wieder einen solchen außergeschichtlichen  Naturzustand heraufbeschworen. Der entscheidene Unterschied zwischen den beiden besteht jedoch darin, dass der Dichter seine zyklische Zeitvorstellung aus der unmittelbaren Anschauung der Natur – der blühenden Blumen im Gedicht Georginen etwa (11) – entwickelte. Benutzte er doch einmal mythisch-märchenhafte Formulierungen, so nur zur poetischen Umschreibung einer an sich völlig "alltäglichen" Erscheinung, so wenn er den anbrechenden Frühling "Prinzessin-Braut" nannte. (12)
Es ist gesagt worden, Fets Gedichte zeigten die Welt wie in den ersten Schöpfungstagen. Dies trifft insofern zu, als die Welt sich hier noch ihre natürliche Unschuld bewahrt hat. Auch wenn der Dichter vom Bauern bestellte Äcker oder saftige Viehweiden beschreibt, so ist dies keine Erde, die sich der Mensch untertan gemacht hätte. Andererseits sind Fets Landschaften keine Szenen aus einem verlorenen Garten Eden, sondern unmittelbare Eindrücke der ihn umgebenden Wirklichkeit. Als einem der letzten künstlerischen Vertreter der untergehenden Feudalwelt war dem dichtenden Gutsbesitzer noch ein wirklich ungebrochenes Verhältnis zur Natur zu eigen gewesen.

Wie fern stehen Roerichs archaische Steinzeitlandschaften dem zarten Impressionismus Fets! Mochte er auch in seiner Kindheit viel Zeit auf dem väterlichen Landsitz Iswara verbracht und sich in seiner Jugend begeistert der Jagd gewidmet haben, im Herzen blieb Nikolai Konstantinowitsch stets ein Stadtmensch, dem der unmittelbare Bezug zur Natur für immer fremd bleiben musste. Eben deshalb stürzte er sich ja mit solcher Begeisterung in vergangene Zeiten und in die Welt der Märchen und Mythen. Er war auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Roerich musste sich seine "unschuldige Natur" erst konstruieren, er konnte sie nicht mehr wie Fet unmittelbar erleben. Was dabei heraus kam, war eine sehr viel abstraktere – man könnte auch sagen philosophischere – Betrachtungsweise. Statt naiver Anschauung intellektuelle Konstruktion. Eben dies war der Ausgangspunkt für Roerichs wachsendes Interesse an der indischen Kultur, Religion und Philosophie. Seine Biographin Jacqueline Decter schreibt darüber:
Roerichs Glaube, daß der Mensch der Moderne vieles von den alten, vorgeschichtlichen Kulturen lernen könne, leitete ihn zu dem fundamentalen Lehrsatz in der östlichen Philosophie, daß die Geschichte des Universums nicht linear, sondern zyklisch ist. Die östliche Vorstellung ‘einer immer wiederkehrenden Philosophie, einer zeitlosen Weisheit, die sich wieder und wieder offenbart, neu geschaffen wird, verlorengeht, um erneut durch den Zyklus der Zeit wiedererschaffen zu werden’, war seinen eigenen Vorstellungen viel näher als die verhältnismäßig moderne westliche Vorstellung, die die Geschichte als ein sich immer weiterentwickelndes Phänomen ansieht. (13)
Es muss immer wieder betont werden, dass dieses zyklische Geschichtsbild ursprünglich auf der Basis einer vorwiegend agrarischen Gesellschaftsordnung entstanden war. Es entsprach den tatsächlichen Lebenserfahrungen der altindischen Philosophen. Dies traf auf Roerich nicht zu. Im Gegenteil – die russische Gesellschaft der Jahrhundertwende durchlebte eine Phase stürmischster Entwicklung. Der große Theaterregisseur Konstantin Stanislawskij, mit dem der Maler am Moskauer Künstlertheater zusammenarbeitete, begann seine Autobiographie mit den Sätzen:
Ich wurde an der Grenze zweier Epochen geboren. Ich war Zeuge der Entwicklung vom Talglicht zum elektrischen Scheinwerfer, von der Reisekutsche zum Flugzeug, vom Segelschiff zum U-Boot, von der Kurierpost zum Telegraphen, vom Steinschloßgewehr zur Dicken Bertha, von der Leibeigenschaft zum Bolschewismus. (14)
Angesichts dieser ungeheuren Dynamik einem Weltbild zu huldigen, das mit dem Prediger Salomonis der Meinung war, es gäbe nichts neues unter der Sonne, bedeutete ganz einfach Flucht vor der Wirklichkeit.

Kurioserweise erwähnt Jacqueline Decter in ihrer Roerichbiographie mit keinem Wort die Revolution von 1905 oder die Stellung des Künstlers zu den dramatischen Ereignissen dieses Jahres. Doch dürfte es kein Zufall sein, dass Roerichs gesteigertes Interesse an Indien in eben dieser Zeit erwacht zu seien scheint. Freilich hatte er schon in seinen Studentenjahren die Theorien des Historikers Wladimir Stasow kennengelernt, der an eine tiefgehende innere Verwandtschaft zwischen altrussischer und indisch-asiatischer Kultur glaubte. Stasows Ideen beschäftigten Roerich sein Leben lang und bildeten das Bindeglied zwischen seinen slawophilen Neigungen und der zunehmenden Faszination für die asiatische Geisteswelt. Doch erst seit ungefähr 1905 begann er sich eingehend mit der Bhagavad Gita, dem Gedankengut der Hindureformer Ramakrishna und Vivekananda sowie dem Werk des berühmten indischen Schriftstellers Rabindranath Tagore auseinanderzusetzen. Er knüpfte enge Kontakte zur neugegründeten Loge der Theosophen und träumte zusammen mit dem Orientalisten Fjodor Stcherbatskij allen Ernstes davon, einen Hindutempel aus Indien nach St. Petersburg transportieren zu lassen. Bald schon lernte er auch den äußerst rührigen burjatischen Lama Agvan Dorschiew kennen und wurde Mitglied in dem Komitee, das ab 1909 den Bau eines buddhistischen Tempels (datsan) in St. Petersburg überwachte. Seine Frau Elena, die in späteren Jahren Blavatskys The Secret Doctrine – sozusagen die Bibel der Theosophen – ins Russische übersetzte, war ihm eine begeisterte Gefährtin in seinen Streifzügen durch die Wunderwelt der indischen Mystik. Ob Roerich allerdings tatsächlich im Jahre 1913 dem Orde Martiniste beitrat, ist heftig umstritten. Als gesichert kann nur gelten, dass er in den okkultistischen Kreisen, in denen er nunmehr verkehrte, Saint-Yves d’Alveydres Lehre vom unterirdischen Wunderreich Agharta kennenlernte, die ihn offenbar nachhaltig beeinflusste Auch teilte er mit den Martinisten den Glauben an eine bevorstehende mystische Wiedergeburt Russlands. In seinem Schaffen als Maler schlug sich Roerichs asiatischer Okkultismus vorerst noch kaum nieder. Er blieb auch weiterhin bei seinen archaisch-slawischen Motiven und schuf u.a. den gewaltigen Bogatyri-Fries für das Haus des Petersburger Industriellen F. G. Baszhanow, der 1910 fertiggestellt wurde und auf dem Roerich die Recken (bogatyri) der altrussischen Bylinen (Heldenepen) darstellte. Auch Roerichs religiöse Kunstwerke aus dieser Zeit stehen noch ganz in christlich-orthodoxer Tradition, so fertigte er z.B. gewaltige Fresken für die Kirche des Heiligen Geistes in Talaschkino an. Erst die Ereignisse von 1917 würden die Saat zum reifen bringen, die in diesen Jahren gelegt worden war.


(1) Und wer die Möglichkeit dazu hat, sollte sich auf jedenfall einmal Pia Bauschs  Inszenierung/Choreographie von Sacre du Printemps anschauen.
(2) Freundinnen & Freunde der phantastischen Literatur werden den Namen des Malers vielleicht aus At the Mountains of Madness kennen, vergleicht Lovecraft dort doch die bizarren Gebirgsformationen, die seine Helden  in der Antarktis entdecken, mit Roerichs Gemälden von buddhistischen Klöstern im Himalaja.
(3) James von Geldern: Bolshevik Festivals, 1917-1920. S. 36f.
(4) Vgl.: Maria Carlson: Fashionable Occultism: The World of Russian Composer Aleksandr Scriabin.
(5) Die Bewegung der Peredwischniki (‘Wanderaussteller’) war 1863 entstanden, als sich vierzehn Studenten der Akademie weigerten, das vorgeschriebene konventionelle Abschlussthema zu behandeln, und stattdessen begannen, auf eigene Faust Wanderausstellungen abseits des akademischen Betriebs zu organisieren. Bedeutende Vertreter dieser ‘Schule’ waren u.a. I. N. Kramskoi, N. N. Ge, I. J. Repin und der Historienmaler W. I. Surikow.
(6) Vgl.: Jacqueline Decter: Nikolas Roerich - Leben und Werk eines russischen Meisters. Kap. 3.
(7) Zit. nach: Jacqueline Decter: Nikolas Roerich - Leben und Werk eines russischen Meisters. Kap. 4.
(8) Der russische Name des Stückes Vesna svjašennaja bedeutet eigentlich Heiliger Frühling.
(9) Strawinskij selbst behauptete später allerdings, ihm sei die erste Idee zu Sacre du Printemps bereits während seiner Arbeit am Feuervogel gekommen. Ich maße mir kein Urteil in dieser Streitfrage an.
(10) Für Bilder siehe: Jacqueline Decter: Nikolas Roerich - Leben und Werk eines russischen Meisters. Kap. 5.
(11) "Ich ging in deinen Georginen/ Gestern, als rot die Sonne schwand,/ Und üppig jegliche von ihnen,/ Wie eine Odaliske stand.// Wie viele feurige Gesichter,/ Geneigt die samtnen Wimpern stumm,/ Erschöpfte traurige und frohe/ Und stolze lächelten ringsum!// Es war, als wollt ihr Trug nie enden/ Tief in der Stille weichem Schoß, -/ Und heut nach morgendlichen Frösten/ Stehn sie gebräunt und anmutslos.// Doch Schönheit, Zauber, Reiz entstehen/ Nun rätselvoll aus ihnen neu,/ Und mit dem schweigenden Vergehen/ Zu grolln, verwehrt mir eine Scheu." (Afanassi Fet: Gedichte. S. 57.)
(12) "Ich harrte. Als Prinzessin-Braut/ Stiegst du erneut zur Erde nieder./ Der Morgen leuchtet purpurn wider,/ Und hundertfältig schenkst du wieder,/ Was uns der karge Herbst geraubt.// Du siegtest, flohst mit raschem Flügel,/ Geheimes raunt die Gottheit sacht,/ Es grünt der frische Gräberhügel,/ Von ihrem Sieg jauchzt ungezügelt/ Eine besinnungslose Macht." (Afanassi Fet: Gedichte. S. 61.)
(13) Jacqueline Decter: Nicholas Roerich - Leben und Werk eines russischen Meisters. Kap. 6.
(14) Zit. nach: Jürgen Rühle: Theater und Revolution. S. 40.