Seiten

Mittwoch, 19. Juni 2013

Nigel Kneales Blick auf Ozeanien

Die Nigel Kneale - Tour #1: Nineteen Eighty-Four (1954)

Bei einer Verfilmung von George Orwells Nineteen Eighty-Four werden die meisten vermutlich beinahe automatisch an Michael Radfords beeindruckende Version aus dem Jahr 1984 mit John Hurt, Richard Burton und Suzanna Hamilton denken. Mir zumindest ist es lange Zeit so gegangen. Ich wusste zwar, dass es da auch noch eine Adaption von Michael Anderson (Around the World in 80 Days, The Quiller Memorandum, Logan's Run)  aus den 50ern gab, aber der ging ein denkbar übler Ruf voraus, und außerdem hatten die Erben des Autors dafür gesorgt, dass sie nicht länger zugänglich war. Inzwischen soll es zwar wieder eine DVD-Ausgabe davon geben {und Youtube ist eine schier unerschöpfliche Fundgrube, wenn man bloß geduldig genug sucht}, dennoch habe ich bisher tunlichst vermieden, mir dieses Werk anzuschauen. {Schon das Plakat wirkt auf mich äußerst abschreckend}.
Tatsächlich jedoch hat es nicht nur zwei, sondern bereits vier filmische Adaptionen des dystopischen Erzklassikers gegeben. Die allererste davon war eine fünfzigminütige (!) Version, die der amerikanische Fernsehsender CBS 1953 – drei Jahre nach Orwells Tod – ausstrahlte. Ein reichlich bizarr anmutendes Projekt, über das mir nichts näheres bekannt ist. Ein Jahr später folgte die BBC-Fassung von Nigel Kneale und Rudolph Cartier. Und erst 1956 vergriff sich Anderson an dem Stoff und bereitete ihn à la Hollywood auf.

Geboren am 18.April 1922 in Barrow-in-Furness und aufgewachsen auf der Isle of Man, hatte Thomas "Tom" Nigel Kneale ursprünglich eine Karriere als Rechtsanwalt einschlagen wollen. Ob seine Herkunft zu seiner späteren Hinwendung zur Phantastik beigetragen hat – wer weiß? Er selbst sagte dazu einmal: "There's always been a traditional belief on the Isle of Man in things you can't quite see." Doch abgesehen von dem Namen "Quatermass" wüsste ich nicht, dass sich in seinem Werk irgendetwas finden ließe, was auf das keltische Erbe der Insel hindeuten würde. Wie dem auch sei, jedenfalls begann ihn die Beschäftigung mit dem Rechtswesen schon bald zu langweilen, und er wandte sich stattdessen der Schriftstellerei zu. Seine {lebenslange} Erkrankung an Photophobie verhinderte, dass er als Soldat in den 2. Weltkrieg ziehen konnte. Stattdessen siedelte er nach London über, wo er 1945 eine Schauspielausbildung an der Royal Academy of Dramatic Art begann, während zur selben Zeit einige seiner Kurzgeschichten im Radio der BBC vorgetragen und in Magazinen wie Argosy, Convoy und The Strand veröffentlicht wurden. 1949 erschien ein Sammelband unter dem Titel Tomato Cain and Other Stories mit einem Vorwort von Elizabeth Bowen, in dem sich die irische Schriftstellerin quasi als Prophetin erwies, wenn sie schrieb: "These tales ... show a return to the great mainstream of the English story tradition – with which one associates Kipling, Wells, Saki, Somerset Maugham". Tatsächlich gewann Kneale im nächsten Jahr den Somerset Maugham Award. Seine finanziellen Probleme waren damit freilich nicht gelöst, und seine Arbeit am Stratford Memorial Theatre befriedigte ihn nicht wirklich. So musste es ihm wie ein Geschenk des Himmels erscheinen, als sich ihm die Möglichkeit eröffnete, für das Fernsehen der BBC zu arbeiten.
1952 löste Michael Barry Val Gielgud an der Spitze der Schauspielabteilung der BBC ab. Der Bruder des großen Schauspielers John Gielgud hatte eine herausragende Rolle in der Entwicklung des Radiodramas gespielt, schien jedoch kein Gefühl dafür zu haben, was das neue Medium Fernsehen leisten könnte. Und auch in seiner angestammten Domäne machte sich allmählich sein künstlerischer Konservativismus bemerkbar. So zeigte er sich in den 50er Jahren u.a. blind für das Talent von Samuel Beckett und Harold Pinter und war verantwortlich dafür, dass Waiting for Godot sein englischsprachiges Debut nicht als Radiohörspiel erlebte. Barry seinerseits trat mit dem Ziel an, das Fernsehen von den Spinnweben altmodischer Kunstvorstellungen zu befreien und ihm neue, ihm angemessene Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen. Dazu holte er sich Leute wie Rudolph Cartier und Nigel Kneale an Bord.
Der als Rudolph Kacser 1904 in Wien zur Welt gekommene Max Reinhardt - Schüler Cartier hatte seine Filmkarriere bei der UFA begonnen. Nach der Machtergreifung Hitlers war er 1933 aus Deutschland geflohen, hatte auf Anraten seines Exkollegen und Mitemigranten Billy Wilder vergeblich versucht, in Hollywood Fuß zu fassen, um 1935 schließlich nach Großbritannien überzusiedeln. Michael Barry engagierte ihn 1952 als Produzenten und Regisseur für die BBC. Cartier teilte seine Einschätzung, dass das Fernsehdrama dringend einer Reform bedurfte: "When Michael Barry asked me my opinion of British television drama, I told him I thought it was terrible. I said that the BBC needed new scripts, a new approach – a whole new spirit, rather than endlessly televising classics like Dickens or familiar London stage plays." Sein erstes Projekt war das Schauspiel Arrow to the Heart, eine Bearbeitung der Erzählung Unruhige Nacht von Albrecht Goes, die auf dessen Erfahrungen als "Kriegspfarrer" der Wehrmacht an der Ostfront basierte. Einen solchen Stoff anzupacken, erforderte Anfang der 50er Jahre gehörigen Mut. Cartiers Dialoge wirkten auf Barry "zu deutsch", so dass er Nigel Kneale, den er soeben als fest angestellten Drehbuchschreiber in den Stab der BBC aufgenommen hatte, mit einer Überarbeitung beauftragte. Wie groß Kneales Beitrag zu Cartiers Stück tatsächlich war, ist unbekannt, auf jedenfall begann damit die äußerst fruchtbare Zusammenarbeit der beiden.
Obwohl Kneale bis dato keinerlei Erfahrung mit Fernsehproduktionen gehabt hatte, besaß er eine ähnlich klare Position zu ihnen wie Cartier: "I was determined to break away from all the drawing-room stage plays that TV did then". Gemeinsam machten sie sich daran, das britische Fernsehen der 50er Jahre zu revolutionieren, getreu Cartiers Credo: "One only discovers the possibilities of television by trying the impossible". Ihr erster richtig großer Coup war die im Sommer 1953 in sechs Teilen ausgestrahlte SciFi-Serie The Quatermass Experiment, auf die ich im zweiten Teil meiner Tour etwas näher eingehen werde. Dem folgte im Dezember 1953 eine Adaption von Emily Brontës Wuthering Heights. Mit diesen beiden Produktionen hatte Cartier gezeigt, dass er sowohl für Science Fiction als auch für Literaturadaptionen ein Händchen besaß, was der Grund dafür gewesen sein dürfte, dass ihn Michael Barry als nächstes mit der Verfilmung von Nineteen Eighty-Four betraute.

Die BBC hatte die Rechte für eine Fernsehadaption des Romans unmittelbar nach dessen Erscheinen 1949 erworben, und es geht das Gerücht, dass der exzentrische und radikale Theaterkritiker Kenneth Tynan eine Zeit lang mit dem Gedanken gespielt habe, eine entsprechende Bearbeitung anzufertigen. Tatsächlich jedoch war es der Autor Hugh Faulks, der 1953 ein erstes Drehbuch verfasste. Dieses fand jedoch offenbar nicht die Zustimmung Cartiers, der es stattdessen vorzog, erneut mit Nigel Kneale zusammenzuarbeiten.
Vor allem aus technischen Gründen war es in den 50er Jahren üblich, Fernsehspiele live zu übertragen und nicht aufzuzeichnen. Mit Ausnahme einiger bereits zuvor gefilmter Sequenzen {vor allem der Außenaufnahmen im "Prole"-Viertel}, galt dies auch für die am 12. Dezember 1954 ausgestrahlte Fassung von Nineteen Eighty-Four. (1) Der gewaltige Publikumserfolg führte jedoch dazu, dass vier Tage später eine zweite "Aufführung" produziert und gesendet wurde. Und von dieser wurde mit Hilfe von "Telerecording" eine Aufzeichnung für die Archive der BBC angefertigt, wofür wir den Göttern der Filmkunst auf ewig zu Dank verpflichtet sind, auch wenn Hauptdarsteller Peter Cushing später erklärte, die erste, nicht erhaltene Version sei die bessere gewesen.

Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde, Kneales & Cartiers Adaption zur besten Verfilmung von Nineteen Eighty-Four zu erklären. Auf jedenfall ist sie der Version von Michael Radford zumindest ebenbürtig. Auch trug sie ganz entscheidend dazu bei, Orwells Roman bei einem breiteren Publikum bekannt zu machen.
Kneales Script hält sich sehr eng an seine literarische Vorlage, und mit Cushing als Winston Smith, André Morell als O'Brien, Donald Pleasance als Syme und Campbell Gray als Parsons verfügt der Film über vier ausgezeichnete Darsteller in den männlichen Hauptrollen. Lediglich Yvonne Mitchell als Julia scheint mir ein Missgriff gewesen zu sein, doch darauf werde ich gleich noch etwas genauer eingehen. Eine Inhaltszusammenfassung scheint mir unnötig. Zumindest in groben Zügen dürfte jedem literarisch oder filmisch Interessierten der Plot bekannt sein.

Die ersten zehn Minuten freilich hinterließen bei meiner ersten Begegnung mit dem Film ein eher zwiespältiges Gefühl,  und wenigstens zum Teil hat sich dies auch jetzt noch nicht geändert.
So bin ich z.B. bis heute nicht recht glücklich damit, dass die Parteimitglieder große, weiße Kennnummern auf ihren Overalls tragen. Wird uns damit nicht etwas gar zu deutlich aufs Auge gedrückt, dass in Ozeanien Menschen zu bloßen Nummern degradiert worden sind? Irgendwie erinnert mich das an das Erscheinungsbild der Proletarier in Metropolis, mit dem entscheidenden Unterschied, dass Fritz Langs Werk als Ganzes einer expressionistischen, nicht realistischen Ästhetik gehorcht, was auf Nineteen Eighty-Four nicht zutrifft.
Sehr viel problematischer finde ich allerdings nach wie vor, dass der Film mit Bildern eines Atomkriegs beginnt, woraufhin uns das Panorama eines weitgehend in Trümmern liegenden London präsentiert wird und eine Stimme aus dem Off vom Untergang der Zivilisation und dem Aufstieg von Ingsoc erzählt. Nun war die Angst vor einem drohenden atomaren Holocaust 1954 sicher sehr groß. Die Einäscherung von Hiroshiama und Nagasaki lag noch kein Jahrzehnt zurück, und Großbritannien hatte gerade einmal zwei Jahre zuvor seine erste eigene Kernwaffe gezündet, derweil die USA und die Sowjetunion sich im Wettrüsten mit Wasserstoffbomben gegenseitig zu übertrumpfen versuchten. Mit Them! (Formicula) und Gojira/Godzilla gelangten 1954 zwei weitere Phantastik-Klassiker in die Kinos, die der weitverbreiteten Furcht vor den höllischen Vernichtungswaffen Ausdruck verliehen. Im Zusammenhang mit Quatermass II werden wir noch sehen, wie wichtig dieses Thema für Nigel Kneale war, doch im Falle von Nineteen Eighty-Four scheint mir die Verknüpfung mit ihm eher unklug. Die Geschichte erhält dadurch einen leicht postapokalyptischen Touch, was dazu führen könnte, dass wir in der Ingsoc-Despotie weniger das Produkt gesellschaftlicher Entwicklungen als vielmehr einer politischen Fehlentscheidung {des berühmten Drucks auf den roten Knopf} sehen.
Auch die Darstellung der "Two Minutes Hate" – der regelmäßigen Propagandaveranstaltung, bei der die Parteimitglieder auf wütenden Hass gegen die "äußeren und inneren Feinde" eingeschworen werden – scheint mir nicht wirklich geglückt. Sie finden in einen kleinem Raum vor einer Handvoll von Leuten statt und bestehen fast ausschließlich aus einer Rede des "Erzverräters" Emmanuel Goldstein, die auf einem Teleschirm zu sehen ist. Goldstein erscheint dabei als eine leicht zu identifizierende Karrikatur Leo Trotzkis. Nun besitzt er zwar auch in Orwells Schilderung karrikaturenhafte Züge – im Buch verwandelt er sich sogar in eine meckernde Ziege (2) –, doch bei einer filmischen Umsetzung wirkt das irgendwie falsch. Der sentimental-pathetische Gestus des "Erzverräters" lässt zusammen mit dem sehr kleinen Publikum die hysterischen Ausbrüche der Parteiarbeiter unrealistisch erscheinen. Hier zumindest zeigt sich Michael Radfords Version als eindeutig überlegen, wobei man natürlich nicht vergessen darf, dass diesem ein sehr viel größeres Budget zur Verfügung stand.
Schließlich muss ich zugeben, dass mir auch Peter Cushings Porträt von Winston Smith anfangs nicht so ganz gefallen hat. In den ersten paar Szenen spielt er ihn als eine übermäßig nervös wirkende Person, die so offensichtlich etwas zu verbergen hat, dass man sich fragen muss, warum die Gedankenpolizei ihn nicht schon längst abgeholt hat.

Doch dieser negative Eindruck verflüchtigt sich sehr schnell, und im Laufe des Films beweist Cushing dann einmal mehr sein gewaltiges schauspielerisches Talent. Sein Winston ist ein ständig von Zweifeln und Schuldgefühlen gequälter Mensch, der verzweifelt versucht, das richtige zu tun, und nicht einmal in der Umarmung seiner Geliebten für mehr als ein paar Minuten Frieden zu finden vermag. Alles in allem glaube ich, dass Jim Moon recht hat, wenn er seine Darstellung von Orwells "Held" als die defintive bezeichnet.
Und auch in anderer Hinsicht zeigt der Film von Kneale und Cartier schon sehr bald seine beeindruckenden Qualitäten. So liefert uns Donald Pleasance eine beunruhigende Interpretation Symes, des ebenso klugen wie zynischen Intellektuellen (3). Und das sowohl, wenn er in zugleich ruhiger und verzückter Weise die Tugenden von Newspeak anpreist, als auch, wenn wir ihm verwirrt und panisch kurz vor seiner Verhaftung im Chestnut Café begegnen. (4)
Vielleicht noch faszinierender ist Campbell Grays Parsons mit seiner ehrlichen Begeisterung für Ingsoc und seiner im Grunde sympathisch, aber irgendwie auch traurig und erschreckend wirkenden Kameraderie {so spricht er Winston grundsätzlich mit "old man" an}. Wirklich unheimlich wird es dann, sobald wir seine Familie kennenlernen. Wie quälend ist es, die Hilflosigkeit von Mrs. Parsons (Hilda Fenemore) mit ansehen zu müssen, die einfach nicht anders kann, als sich wie eine liebevolle Mutter zu verhalten, und dafür mit nichts anderem belohnt wird als Verletzungen und Demütigungen. Die Partei ist bemüht, alle natürlichen emotionalen Bindungen zwischen Kindern und ihren Eltern zu zerstören, und indoktriniert die junge Generation dementsprechend. Parsons Kinder sind in dieser Hinsicht ein voller Erfolg. Dass ihr Vater darauf auch noch stolz ist, macht die Situation nur noch unerträglicher. Vor allem die Art, in der die Parsons-Tochter(Pamela Grant) die eigene Mutter terrorisiert und demütigt, ja ihr kaum verhüllt mit der Gedankenpolizei droht, wirkt extrem verstörend. Der genießerische Tonfall, in dem das kleine Mädchen den Namen "Ministry of Love" ausspricht, reicht aus, um einem eisige Schauer über den Rücken zu jagen.

Die größte Schwäche des Films ist Julia. Nicht dass Yvonne Mitchell eine schlechte Schauspielerin wäre, doch für diese Rolle ist sie meiner Ansicht nach eine klare Fehlbesetzung gewesen. Das fängt schon damit an, dass sie mit 39 Jahren eindeutig zu alt für den Part ist. Julia ist ein Mitglied der "Anti-Sex League", der Jugendorganisation der Partei, vergleichbar dem sowjetischen Komsomol. Anders als Winston ist sie die Vertreterin einer Generation, die unter Ingsoc aufgewachsen ist und nicht einmal mehr verschwommene Erinnerungen an eine Zeit vor Big Brother besitzt. Dieser Altersunterschied akzentuiert auch die verschiedenen Formen, die die Rebellion gegen das System bei den beiden annimmt. Während Winston sich bemüht, die Entstehung und Funktionsweise des Regimes zu verstehen, und eine politische Aktivität in den Reihen von Goldsteins legendärer "Bruderschaft" anstrebt, begnügt sich Julia damit, im Geheimen die Regeln zu brechen und aus ihrem persönlichen Leben das Beste zu machen, was unter den gegebenen Umständen möglich ist. Kneales Drehbuch ignoriert diesen Unterschied nicht, hebt ihn vielleicht sogar noch deutlicher hervor. Doch Yvonne Mitchell ist dafür einfach die falsche Schauspielerin. Sie wirkt mehr wie eine typische 50er Jahre - Film - Heroine und weniger wie Orwells impulsive, sinnlich-hedonistische Rebellin. Ihre Verachtung für die Heuchelei der herrschenden Kaste klingt bei weitem nicht scharf genug, selbst wenn sie die Mitglieder der Inneren Partei als privilegierte "Schweine" beschimpft. Alles in allem hinterlässt sie einen eher sentimentalen Eindruck, was natürlich auch damit zu tun hat, dass die im Buch so wichtige sexuelle Dimension ihrer Beziehung zu Winston stark heruntergespielt wird.

Das zweite große Problem teilt der Film mit dem von Michael Radford. Und vermutlich würde auch jede neue Adaption von Nineteen Eighty-Four unter ihm leiden. Die Passagen aus Goldsteins Buch The Theory and Practice of Oligarchical Collectivism, die Winston liest, spielen eine zentrale Rolle in Orwells Roman. (5) In ihnen erfahren wir, wie und warum das Ingsoc-System entstanden ist und wie es funktioniert. Filmisch lässt sich das aus verständlichen Gründen nur sehr schwer umsetzen, so dass sich sowohl Nigel Kneale als auch Michael Radford darauf beschränkt haben, Smith einige markante Zitate vortragen zu lassen. Doch dadurch verliert die Geschichte nicht nur sehr viel an intellektuellem Gehalt {was möglicherweise einfach nicht zu verhindern ist}, es entsteht auch die Gefahr, dass das Publikum ganz andere Schlussfolgerungen aus dem Dargestellten zieht, als dies von Orwell beabsichtigt wurde. Es ist vermutlich kein Zufall, dass der folgende Auszug aus Goldsteins Buch, der die historischen Wurzeln von Ingsoc beschreibt, in keiner der Filmversionen vorkommt:
From the moment when the machine first made its appearance it was clear to all thinking people that the need for human drudgery, and therefore to a great extent for human inequality, had disappeared. If the machine were used deliberately for that end, hunger, overwork, dirt, illiteracy, and disease could be eleminated within a few generations. [...] But it was also clear that an all-round increase in wealth threatened the destruction – indeed, in some sense was the destruction – of a hierarchical society. [...] In the long run, a hierachical society was only possible on a basis of poverty and ignorance.
Die Diktatur der Partei ist nicht das Ergebnis eines fehlgeleiteten Versuchs, eine klassenlose Gesellschaft zu erschaffen. Sie ist vielmehr die Methode, mit der eine bürokratisierte Mittelklasse die historisch möglich und sogar notwendig gewordene Errichtung einer solchen Gesellschaft zu verhindern sucht. Macht man sich dies klar, so lässt sich Orwells Roman kaum mehr als das "antikommunistische Lehrstück" lesen, zu dem er vor allem während des Kalten Kriegs von vielen erklärt wurde.
Ohne Nigel Kneale damit irgendwelche bösen Absichten unterstellen zu wollen, macht seine Adaption den Missbrauch der Erzählung durch rechte Propagandisten doch sehr viel leichter als dies bei Orwells Original der Fall ist {vorausgesetzt man liest das Buch sorgfältig}. Und die anfängliche Verknüpfung mit dem Thema Atomkrieg verstärkt diesen Zug des Filmes eher noch. So gesehen wundert es mich auch nicht so sehr, dass Königin  Elizabeth und Prinz Philip damals öffentlich verkünden ließen, dass ihnen die Sendung gefallen habe.

Damit kommen wir zum letzten und vielleicht auch wichtigsten Stück des Filmes: Winstons "Umerziehung" im "Ministerium der Liebe". Hier wird vielleicht am deutlichsten, warum Nineteen Eighty-Four als ein Meilenstein der britischen TV-Geschichte, und Nigel Kneale und Rudolph Cartier als die Schöpfer des modernen Fernsehspiels auf der Insel gelten. Es waren vor allem diese Szenen, die 1954 eine politische Kontroverse und sogar offizielle Proteste seitens einiger Tory-Abgeordneter auslösten. (6) Dabei bekommt man von der eigentlichen Folterung Smiths nur sehr wenig zu sehen. Die Kamera konzentriert sich vielmehr fast vollständig auf O'Briens Gesicht, was das Geschehen in seiner zynischen Grausamkeit jedoch eher noch bedrückender macht. Freilich würde Cartiers kunstvolle Cinematographie ihre volle Wirkung nicht ohne das beeindruckende Spiel von André Morell entfalten können. Cartier hatte mit dem Schauspieler  bereits ein Jahr zuvor bei It Is Midnight, Dr Schweitzer zusammengearbeitet und ihn ursprünglich auch für die Rolle von Prof. Quatermass vorgesehen {die er 1958/59 in Quatermass and the Pit schließlich tatsächlich übernehmen sollte}. Freunden & Freundinnen des britischen Genrefilms dürfte Morell vor allem als Dr. Watson aus Hammers Version des Hound of the Baskervilles (1959) und einer Reihe von Horrorflicks wie She (1965), Plague of the Zombies (1966) und The Mummy's Shroud (1967) bekannt sein. Er hat aber auch einen Auftritt in Stanley Kubricks Barry Lyndon (1975). Seinem O'Brien verleiht er eine eisige Kälte und Intelligenz, die den Vertreter der Inneren Partei zu einer noch bedrohlicheren Figur machen, als dies dreißig Jahre später Richard Burton gelingen würde.

Dass Nigel Kneale den ebenso grausamen wie hoffnungslosen Schluss von Orwells Roman in keiner Weise abgeschwächt hat, spricht einmal mehr für seine künstlerische Integrität und seinen Mut, war man derartiges im jungen Fernsehen der BBC doch ganz sicher nicht gewöhnt.

Auf die naheliegenden Parallelen zwischen Nineteen Eighty-Four und aktuellen politischen Entwicklungen möchte ich an dieser Stelle gar nicht erst eingehen. Stattdessen beende ich die erste Etappe auf unserer Nigel Kneale - Tour lieber damit, meinen Leserinnen und Lesern noch einmal wärmstens ans Herz zu legen, sich diese frühe Adaption von Orwells Roman unbedingt einmal anzuschauen. Es lohnt sich wirklich! Der Film ist sowohl auf Youtube als auch im Internet Archive zu finden.




(1) Wer sich für die technischen Details der Produktion interessiert, kann genaueres dazu in  Episode 59 des British Invaders - Podcast erfahren.
(2) Wikipedia behauptet: "This image was used in a propaganda film during the Kino-eye period of Soviet film, which showed Trotsky transforming into a goat." Leider enthält der Artikel keine wirkliche Quellenangabe. Dass es eine solche Szene in einem der zahllosen stalinistischen Propagandastreifen tatsächlich gibt, halte ich für sehr gut möglich. Doch ärgerlicherweise vermittelt der Artikel den Eindruck, diese hätten irgendetwas mit Dsiga Wertows Prinzip des "Kino-Auges" zu tun gehabt. Eine (wenn auch vielleicht ungewollte) Verleumdung eines der ganz Großen der Filmkunst. Die Bezeichnung "Kino-Auge-Periode des sowjetischen Films" ist mir unbekannt. Wenn überhaupt, so könnte sie sich höchstens auf die frühe Phase (1923-27) beziehen, als Wertow seine Filme Kino-Auge, Kino-Prawda, Ein Sechstel der Erde sowie sein avantgardistisches Meisterwerk Der Mann mit der Kamera drehte. In dieser Zeit ist eine Trotzki-Ziegen-Montage jedoch völlig undenkbar.
(3) Man kann sich sehr gut den Typus des stalinistischen Intellektuellen vorstellen, der Orwell als Vorbild für diese Figur gedient haben mag: Zu klug, um die monströsen Lügen der Führung nicht zu durchschauen, doch stets bereit, Stalin und die Parteilinie rückhaltlos zu verteidigen. Stolz darauf, zur "revolutionären Avantgarde" zu gehören, und zugleich voller Verachtung für die "Massen".

(4) Ironischerweise wirkte Pleasance auch in Michael Andersons Version mit, in der die von ihm gespielte Figur offenbar ein {schwer vorstellbares} Amalgam aus Syme und Parsons darstellt.
(5) Orwell ahmte dabei den Stil Trotzkis nach, dessen Analyse des Stalinismus in Die verratene Revolution eines der Vorbilder für Goldsteins Buch gewesen sein dürfte.
(5) Vgl. Episode 60 der British Invaders.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen