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Freitag, 30. November 2012

Etwas vom Besten der 70er Jahre - und doch nicht genug

'Placet' war vor einigen Wochen so lieb, mich im Anschluss an meinen kurzen Post über The Moon Stallion auf die australische Kinderserie The Lost Islands hinzuweisen, die als eine Art Kontrastprogramm zur Technikfeindlichkeit der Geschichte von Diana und dem Weißen Pferd dienen könne. Und da diese offenbar vor allem in Israel Kultstatus genießt, finden sich bei Youtube tatsächlich alle 26 Folgen  mit hebräischen Untertiteln.


1976 unter der Leitung von Michael Laurence und Roger Mirams produziert, verkörpert die Serie einige der besten Züge dessen, was man den Geist der 70er nennen kann. Leider allerdings tut sie dies auf eine im Ganzen gesehen ziemlich uneinheitliche Weise.

Ein reicher Philanthrop hat zur Förderung der Völkerverständigung vierzig Kinder aus aller Herren Länder zu einer Weltumsegelung auf der "United World" eingeladen. Doch schon kurz nach ihrer Abfahrt gerät das Schiff in einen Hurrikan. Bei der Evakuierung werden versehentlich fünf Kinder zurückgelassen, die sich am nächsten Morgen an den Strand einer unbekannten Insel (im Indischen Ozean?) gespült finden. Das Korallenriff, welches die Insel umgibt, macht eine Flucht unmöglich, und so sind die drei Jungen und zwei Mädchen gezwungen, es sich hier vorerst einmal häuslich einzurichten. Wie sich schnell herausstellt, ist das Eiland keineswegs unbewohnt. In einer nur "das Tal" ("The Valley") genannten Siedlung leben vielmehr die Nachkommen englischer Kolonisten, die während ihrer Überfahrt  nach "New Holland" (Australien) im 18. Jahrhundert gleichfalls hier strandeten. Die Gemeinde der "Q-People" (sie nennen sich so, da alle Familiennamen mit Q beginnen) wird von einem mysteriösen Despoten beherrscht, der nur der "Q" genannt wird und angeblich das Geheimnis der Unsterblichkeit entdeckt hat. Der "Q" hat sämtlichen wissenschaftlichen und technischen Fortschritt verboten, da er glaubt, dass Wissen in der Hand des Volkes zum Chaos führen müsse. In den Neuankömmlingen sieht er (nicht ohne Grund) eine Bedrohung für seine Herrschaft und befiehlt darum deren baldigste Gefangennahme und Hinrichtung. In der Familie Quinn (vor allem Tochter Helen, Sohn Jason und dem kleinen Aaron) sowie dem alten Jeremiah Quizzle  dem Leibdiener des "Q" finden die Kinder aber auch Freunde und Verbündete, mit deren Hilfe sie den Handlangern des Diktators  allen voran Premierminister Rufus Quad und seinen Gehilfen Mr. Quell und Mr. Quig  immer wieder ein Schnippchen schlagen.

Was die Serie sympathisch macht, sind  – wie bereits gesagt – vor allem die ihr zugrundeliegenden Ideale, auch wenn diese mitunter etwas gar zu belehrend in den Vordergrund gerückt werden.
Durch die Vorgeschichte ja bereits angelegt wäre da zuerst einmal die Überwindung nationaler Vorurteile und Animositäten. Zur Zeit der ersten Ausstrahlung von The Lost Islands war die internationale Zusammensetzung der Heldengruppe – bestehend aus dem Australier Tony, dem Amerikaner David, dem Engländer Mark, der Deutschen Anna und der Chinesin Su Ying – sicher etwas ziemlich ungewohntes.
Dazu gesellt sich ein deutlich antiautoritäres Element, schließlich befinden sich die Kinder im ständigen Kampf mit den anerkannten Herrschern der Insel. Quad, Quell und Quig erscheinen mit ihren prächtigen Rauschebärten schon rein äußerlich als Repräsentanten eines patriarchalen Autoritarismus. Zugleich werden sie eins ums andere Mal der Lächerlicherlkeit preisgegeben und damit jeder wirklichen Autorität beraubt. Für den "Q" gilt beinahe dasselbe. Als mysteriöser Kapuzenträger entspricht er zwar dem Klischeebild des "Dark Lord", wirkt jedoch oft genug eher wie ein bloßer Popanz. So etwa wenn ihm die Kinder eine aus Schrott fantasievoll zusammengebastelte "Laserkanone" als ultimative Waffe andrehen.
Ihre Überlegenheit über den "Q" basiert auf ihrem technischen Wissen, diversen modernen Gerätschaften und ihrer aufgeklärten Weltsicht. Wie 'Placet' ja bereits angedeutet hatte, zeichnet sich The Lost Islands durch eine uneingeschränkt positive Einstellung zu Technik, Wissenschaft und Fortschritt aus. Aberglaube und Fortschrittsfeindlichkeit errscheinen als Mächte, die es zu überwinden gilt und die die natürlichen Verbündeten des Despotismus sind. Ich fürchte, in einer heute produzierten Kinderserie würde dieser Gegensatz kaum mehr in dieser Unbedingtheit aufgestellt werden.
Das bedeutet wiederum nicht, dass die moderne Welt der im 18. Jahrhundert steckengebliebenen Gemeinschaft der Q-People einfach als strahlendes Vorbild entgegengestellt würde. Mehr als einmal bekommen wir zu hören, dass auch jenseits der Insel vieles im Argen liegt.  Doch eine in Stagnation gefangene Gesellschaft kann nicht die Alternative sein. In einem Punkt allerdings erscheinen zumindest einige der Kinder tatsächlich in schlechterem Licht als die Q-People. An verschiedenen Stellen auf der Insel liegen Goldmünzen vergraben. Den Bewohnern des Tals dienen sie lediglich als hübsche Schmuckstücke, unter den Kindern hingegen wecken sie augenblicklich Schatzsucher-Fantasien. Als Tony in der Behausung des "Q" eine Karte entdeckt, auf der die Orte verzeichnet sind, an denen das Gold verborgen liegt, riskiert er nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seiner Begleiterin Anna, um eine Kopie anzufertigen. Jeremiah Quizzle, der gerade noch verhindern kann, dass Rufus Quad die beiden entdeckt, kann diese Obsession beim besten Willen nicht verstehen und fragt verwundert, ob diese Gier nach "Schätzen" bei den Bewohnern der "Außenwelt" allgemein verbreitet sei. Anna muss das bejahen, setzt aber hinzu, dass es hoffentlich nicht immer so bleiben werde. Jeremiah entgegnet: "Amazing! You want treasure? Look to the sky! The sun be treasure, the air you breathe be treasure, the birds ... the fish in the sea ... The world be cramped with treasure. And it be there for all to enjoy." Das ist sicher etwas simpel und klingt ein wenig nach "Hippie-Indianer-Weisheiten", aber schließlich haben wir es hier mit einer Kinderserie zu tun, und in diesem Rahmen reicht mir das als Hinweis auf die Wurzel der meisten Übel in der "Außenwelt".

Soviel zum positiven Erbe der 70er Jahre, das seinen Niederschlag in The Lost Islands gefunden hat. Einige Einschränkungen müssen allerdings gemacht werden. So ist es schon ziemlich auffällig, dass gerade der Amerikaner David sich als veritabler Alleskönner auszeichnet. Und dabei wird recht häufig seine nationale Herkunft ausdrücklich hervorgehoben. Manchmal wirkt das zwar eher ironisch (so z.B. wenn die anderen anfangen, "Stars and Stripes Forever" zu singen und dabei kaum je den richtigen Ton treffen), doch dann wieder kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass einige unter den Machern der Serie tatsächlich der Meinung waren, die USA seien "das tollste Land auf Erden". 
Ebenso muss man sich fragen, warum wir nicht einmal im Vorspann auch nur ein einziges schwarzes Gesicht unter den Kindern an Bord der "United World" entdecken können. Doch bevor man der Serie impliziten Rassismus unterstellt, sollte man sich vergegenwärtigen, dass der traditionelle australische Rassismus, der in der Geschichte dieses Staates nebenbei bemerkt seit der Gründung eine zentrale Rolle gespielt hat, immer sehr stark antiasiatische Züge getragen hat. Was der Figur der Su Ying eine besondere Bedeutung verleiht, die hier als eine Art "Vertreterin der Farbigen" auftritt.
Und da wir gerade bei Su Ying sind. Die Frauenemanzipation steckte bei australischen Fernsehmachern Mitte der 70er Jahre offenbar noch in den Kinderschuhen {was natürlich nicht wirklich erstaunlich ist}. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Su Ying weiß mit Pfeil & Bogen umzugehen; Helen bestreitet erfolgreich ein Pferderennen) herrscht in den meisten Episoden deutlich erkennbar die traditionelle Rollenverteilung vor. Die Jungs ziehen auf Abenteuer aus, die Mädchen bleiben im Versteck oder kümmern sich um Kranke und Verletzte.

Das größte Problem, das ich mit der Serie hatte, war jedoch nicht "ideologischer" Natur. Vorausschicken sollte ich dabei wohl, dass ich mich nicht für die bestgeeignete Person halte, um eine Kinderserie zu beurteilen. Es fällt mir eher schwer, mich in die Perspektive eines Zehnjährigen zurückzuversetzen. Gut möglich, dass mich in diesem Alter nichts von dem gestört hätte, was mich heute irritiert. Für sich genommen sind die meisten Episoden sicherlich abenteuerlich oder witzig genug, und der nicht unbeträchtliche internationale {interessanterweise weniger australische} Erfolg der Serie in den 70ern muss ja seine Gründe gehabt haben.
Woran ich mich vor allem gestoßen habe, ist die mangelnde Kontinuität. Figuren werden eingeführt und von Ereignissen wird berichtet, die nicht selten eine Woche später wieder vergessen zu sein scheinen, ganz gleich wie wichtig sie für den Moment auch waren. So etwa wenn Tony sich in das Mündel des "Q" verliebt oder die Kinder dem alten Dorfzauberer zu seiner Wiedereinsetzung verhelfen. Es gibt einige Minihandlungsbögen, die sich über mehrere Episoden erstrecken, doch auch sie verlaufen häufig im Nichts, so die Befreiung von Vater Quinn, der auf der Sträflingsinsel  Malo festgehalten wird, oder die sich entwickelnde Freundschaft zwischen Su Ying und einem der Wachen von Rufus Quad. Und was auf die Handlung zutrifft, gilt ebenso für die ihr zugrundeliegenden Ideen. Scheint eine Episode thematisieren zu wollen, dass Mädchen ebensogut wie Jungs auf Abenteuer ausziehen können, finden wir Anna und Su Ying in der nächsten bereits wieder wie selbstverständlich beim Nähen oder Essenkochen. Aus all dem ergibt sich vor allem, dass die Kinder keine wirklichen Entwicklungsprozesse durchmachen, was schade ist, da die Ansätze dazu in vielen Episoden vorhanden sind. Man hat das deutliche Gefühl, als habe es den Machern an einer Gesamtkonzeption für die Serie gemangelt. Selbst das anfänglich zentrale Mysterium um die angebliche Unsterblichkeit des "Q" verliert irgendwann jede Bedeutung, obwohl es nie wirklich aufgeklärt wird.
All dies kulminiert in einem völlig überhasteten und unbefriedigenden Finale. In der vorletzten Episode entdecken die Kinder im Sumpf ein altes Panzerfahrzeug aus dem 2. Weltkrieg und bringen es wieder zum Laufen. Mit Hilfe des furchteinflößenden Vehikels, das die Q-People zuerst für ein Monster halten, gelingt es ihnen dann in der Schlussfolge eine Revolution der Inselbewohner gegen den "Q" und den Premierminister auszulösen, deren Durchführung wie ein Kinderspiel anmutet. Und dann ist ganz einfach Schluss!
Dieses wie hingeschludert wirkende Finale hat in mir die Vermutung aufkommen lassen, dass die Serie ursprünglich sehr viel länger geplant war, dann aber plötzlich eingestellt wurde. Leider habe ich nichts finden können, was diesen Verdacht bestätigen würde. Die Indizien jedoch sind augenfällig. Der Entschluss, es zur Abwechselung einmal mit Revolution zu versuchen, kommt wie aus heiterem Himmel. Bisher hatten die Kinder eigentlich stets versucht, irgendwelchen Konfrontationen aus dem Weg zu gehen. Obwohl sich im Laufe der Serie immer wieder recht deutlich gezeigt hatte, dass unter den Q-People ein weitverbreiteter Unmut über die Herrschaft des "Q" existiert {die Mehrheit der Männer scheint bereits nach Malo deportiert worden zu sein}, hatten die Kinder vor dem Ende nie versucht, die Entwicklung einer Rebellion zu fördern. Möglichkeiten dazu hätte es einige gegeben.
So schön es darum auch ist, wenn man die Revolution einmal wieder als Motor des Fortschritts dargestellt sieht, so unbefriedigend bleibt es, dass die ganze vorangehende Handlung in keiner Weise auf dieses Finale hinarbeitet. Der letzte Akt verliert seinen dramatischen Wert, wenn er sich nicht folgerichtig aus den anderen Akten entwickelt. Ebenso enttäuschend ist es, dass kein einziges der Geheimnisse, die den "Q" umgeben, gelüftet wird. Weder erfahren wir etwas genaueres über seine wirkliche Identität noch über seine scheinbare Unsterblichkeit. Obwohl vieles für einen vorzeitigen Abbruch der Serie spricht, gibt es verwirrenderweise auch Anzeichen, aus denen man schließen könnte, die Macher hätten sich die Möglichkeit einer Fortsetzung offenhalten wollen. Der "Q" wird zwar geschlagen, aber nicht endgültig besiegt und demaskiert. Quad und seinen Spießgesellen gelingt es, den Aufständischen zu entkommen. Sollte der Versuch der Bösewichte, ihre verlorengegangene Macht wieder zurückzugewinnen, im Zentrum einer zweiten Staffel stehen? Ich hab keine Ahnung.

Und so erscheint The Lost Islands trotz aller sympathischen Züge letztendlich als eine Serie, die aufgrund eines eklatanten Mangels an vorausschauender Gestaltung einen Gutteil des Potentials verspielt, das in ihr gesteckt hätte. Wer keine nostalgischen Erinnerungen mit ihr verbindet oder sich speziell für das Kinderfernsehen vergangener Jahrzehnte interessiert, wird fürchte ich nicht viel lohnendes in ihr finden können.
      
      
à à And Now For Something Completely Different ß ß

Da diese ganze "70er Jahre - Kinder - TV" - Geschichte mit meinen Schreibereien über Children of the Stones begonnen hat, noch ein kleiner Nachschlag: Letzte Woche kaperten sich Odile Thomas von Sending a Wave und Hypnogorias Mr. Jim Moon den Highway to Mars - Podcast, um sich einmal in aller Ruhe knapp zwei Stunden lang über dieses Juwel des britischen phantastischen Fernsehens zu unterhalten. Reinhören!

Sonntag, 25. November 2012

Das Geheimnis der Pyramiden


Ich wusste ja schon immer, dass DIE KATZE Kern aller Mysterien ist!

Englands First Lady of Horror

In dieser Woche hatten wir sowohl die Gelegenheit, Ingrid Pitts fünfundsiebzigsten Geburtstag zu feiern als auch ihres zweiten Todestages zu gedenken. Grund genug, einen kurzen Blick auf Leben und Werk der Schauspielerin zu werfen, die vor allem durch ihre Verkörperung der lesbischen Vampirin Marcilla/Carmilla von Karnstein in Hammers Le Fanu - Adaption The Vampire Lovers (1970) zu einer der Ikonen des Brit-Horrors wurde.

Die Tochter eines Deutschrussen und einer polnischen Jüdin erblickte am 21.November 1937 in Warschau als Inguschka Petrow das Licht der Welt. Ihre frühe Kindheit lag ganz unter dem Schatten von Zweitem Weltkrieg und Holocaust. Wie sie selbst es später einmal formulierte: "I was born into the biggest horror show of the century, the brutalities of the Nazi regime." Ihr Vater – ein angesehener Ingenieur – weigerte sich, für die Deutschen zu arbeiten, und so kam es 1943 zur Deportation der Familie. Die Eltern wurden getrennt, Inguschka und ihre Mutter in das KZ Stutthof bei Danzig gebracht. Dort musste das kleine Mädchen u.a. miterleben, wie die beste Freundin ihrer Mutter gehängt, und ihre eigene beste Freundin erst vergewaltigt und dann zu Tode geprügelt wurde. Als die Nazis mit der Evakuierung des Lagers und der Organiastion der Todesmärsche begannen, gelang es Mutter und Tochter zu entkommen. In einer ihrer Kolumnen für Den of Geek erzählt Pitt darüber:
My mother and I had been separated from my father in 1943 and sent to different camps. Two years later, with the Red Army closing in, the Nazis had decided that they didn't want to be caught in flagrante delicto. The guards rounded up the survivors and set out with the intention of taking us back to Germany. This idea was soon abandoned when Allied aircraft started strafing the roads whenever they saw anything which assembled a column of troops. During one attack we managed to escape into the forest - in the deep snow and freezing cold. Fortunately we fell in with a gang of fellow desperadoes eager to keep out of the hands of the vindictive Germans.
Our camp was formed around an old charcoal burner's cottage. It wasn't the most hospitable place in the world but at least there wasn't the constant threat of disappearing up the chimney in a puff of smoke. Unfortunately I wasn't out of the woods; literally and metaphorically. I had always been a sickly child, skinny, a constantly running nose, scabs around my mouth and a tendency to alopecia. Not a pretty sight. By the time a bit of welcome warmth began to creep into the atmosphere I was in a bad way. And my mother had contracted Typhus.
Just when it looked as if, after all our tribulations, we weren't going to survive the war we were found by the American Red Cross. The war had been over for a couple of months and we didn't even know about it. They bunged us on the back of a truck along with others who weren't feeling too chirpy and took us to a field hospital. It was just a large tent but it was the most stable environment we had been in for nearly three years.

Was folgte war eine lange Odyssee durch die DP-Lager von Polen, immer auf der Suche nach dem Vater. Schließlich gelangten Mutter und Tochter nach Berlin, und dort kam es wider alles Erwarten tatsächlich zur Wiedervereinigung der Familie. Der Vater freilich war nach drei Jahren KZ ein körperlich gebrochener Mann und starb schon nach wenigen Jahren.
Pitt hat später gesagt, es sei die Hölle von Strutthof gewesen, die in ihr den Wunsch geweckt habe, Schauspielerin zu werden. Umgeben von Bestialität, Elend und Tod habe sie davon geträumt, ein anderer Mensch werden zu können. Nachdem sie eine medizinische Ausbildung abgebrochen hatte, gelang es ihr, beim Berliner Ensemble aufgenommen zu werden, das nach Bert Brechts Tod von dessen Witwe Helene Weigel geleitet wurde. Allerdings geriet sie schon bald in Konflikt mit dem stalinistischen Regime. In ihrer Autobiographie Life's a Scream schreibt sie darüber: "I always had a big mouth and used to go on about the political schooling interrupting my quest for thespian glory. I used to think like that. Not good in a police state." Als man ihr hinterbrachte, die Volkspolizei sei auf dem Weg, um sie zu verhaften, floh sie in den Westen – am selben Abend, an dem sie eigentlich ihr Debüt als Karin in Mutter Courage hätte geben sollen. Kurioserweise lernte sie in dieser Nacht auch ihren ersten Ehemann, den GI Roland Pitt, kennen, mit dem sie bald darauf nach Colorado ging.
Der Ehe war kein dauerndes Glück beschieden, und so übersiedelte Ingrid Pitt nach ihrer Scheidung gemeinsam mit ihrer neugeborenen Tochter Steffanie nach Spanien. Dort begann sie ihre Filmkarriere.
Meist wird José Antonio Nieves Condes obksurer Horror-Streifen El sonido de la muerte (1964) als ihr Kinodebüt bezeichnet. Tatsächlich war dies wohl nicht der Fall, bloß fand kein anderer ihrer spanischen Filme seinen Weg auf den internationalen Markt. Und was Sound of Horror – so der englischsprachige Titel des Flicks  – betrifft: Unglückliche Schatzsucher, versteinerte Eier, ein unsichtbarer Dino-Echsenmensch mit grauslicher Stimme, unglaubwürdige Dialoge  – das Bemerkenswerteste an diesem Film ist, dass Soledad Miranda die zweite weibliche Hauptfigur spielt. Zu Beginn der 70er Jahre würde diese nämlich unter der Regie von Jesus Franco nicht nur neben Christopher Lee in einem Dracula-Streifen auftreten, sondern auch als Condesa Oskudar in  Vampyros Lesbos ihren Beitrag zum Subgenre des sapphischen Vampirfilms leisten. Eine kuriose Parallele zu Pitts späterer Brit-Horror-Karriere.
Diese ergatterte sich als nächstes eine Nebenrolle in Orson Welles' großartiger Falstaff-Adaption Chimes at Midnight (1965). Wie klein ihr Part auch immer gewesen ist, ich kann mir nicht vorstellen, dass es folgenlos bleibt, wenn man die Gelegenheit hat, unter der Leitung eines der größten Genies der Filmkunst und an der Seite von so fantastischen Darstellerinnen & Darstellern wie Jeanne Moreau, Margaret Rutherford und John Gielgud zu spielen.
Es folgten kleine Rollen in David Leans kitschiger Pasternak-Verhunzung Doctor Zhivago (1965) und Richard Lesters netter Musical-Farce A Funny Thing Happened on the Way to the Forum  / Toll trieben es die alten Römer (1966).
Nachdem diese ersten Schritte getan waren, schien es Pitt an der Zeit, sich nach Hollywood aufzumachen. In Kalifornien angekommen ließ der erhoffte Durchbruch jedoch erst einmal auf sich warten. Die Schauspielerin verdiente sich ihr Geld als Kellnerin, fand Zugang zum Pasadena Playhouse und landete schließlich erneut in einem phantastischen B-Movie, diesmal in Willie Wilders* in den Philippinen gedrehten Omegans (1968), über den ich mangels Bekanntschaft mit dem Streifen weiter nichts sagen kann, auch wenn mich diese Besprechung auf IMDB auf perverse Weise neugierig gemacht hat.
Daneben fand sie ab und an ein Engagement beim Fernsehen, so etwa für einen Gastauftritt in der Serie Ironside. Auf diesem Umweg gelangte sie schließlich auch zu ihrem größten amerikanischen Erfolg: der Rolle der Agentin Heidi in Brian G. Huttons Zweitem Weltkriegs - Film Where Eagles Dare (1968) mit Richard Burton und Clint Eastwood.
I was in Hollywood appearing in the television show Ironside with Raymond Burr, when I was asked to a poker party at the house of the stuntman Yakima Canutt, who at the end of the evening said, 'There's a part in a film I'm just starting. Why don't you go for that? Go see Brian Hutton and mention my name.' Well, some people's names are magic – I got to see Hutton at MGM in three seconds, and he sent me to England to do a screen test for his film ...
Die meisten Innenaufnahmen für den Where Eagles Dare  wurden in Borehamwood, Hertforshire, gedreht; und spätestens nachdem Hutton sein ursprüngliches Angebot, sie auch für seinen nächsten Film zu engagieren, zurückgezogen hatte, beschloss Pitt, in England zu bleiben. Hier hatte sie endgültig eine neue Heimat gefunden. Wenig später lernte sie auf einer Londoner Party zufällig den Hammer-Produzenten James Carreras kennen, der sie Tags darauf für die Hauptrolle in The Vampire Lovers verpflichtete.


Da ich momentan nicht  in der rechten Stimmung bin, um meine Bekanntschaft mit diesem Flick aufzufrischen, verzichte ich auf einen Kommentar. Ich habe allerdings vor, dies in absehbarer Zukunft nachzuholen und zu diesem Anlass auch Le Fanus Carmilla wieder einmal hervorzukramen. Vielleicht werde ich dann etwas mehr oder weniger intelligentes über The Vampire Lovers zu sagen haben. Ehrlich gesagt spiele ich sogar mit dem Gedanken, mich einmal etwas allgemeiner dem Phänomen des lesbischen Vampirfilms zu widmen – auch wenn ich befürchte, dass sich die meisten Vertreter dieser Gattung als übler Exploitation-Schund herausstellen werden. Was auf The Vampire Lovers nicht zutrifft (auch gibt es da ja zumindest noch The Hunger!) Wir werden sehen {oder auch nicht} ... 
Für Ingrid Pitt jedenfalls war dies der Beginn ihrer kurzen, aber um so glanzvolleren Brit-Horror-Karriere. Zwar lehnte sie es ab, die Hauptrolle in Lust for a Vampire – dem zweiten Teil der sog. Karnstein-Trilogie – zu spielen, doch dafür parodierte sie auf höchst amüsante Weise ihr neugewonnenes Vampirlady-Image ein Jahr später in Amicus' Portmanteau-Streifen The House That Dripped Blood, und bewies damit, dass sie nicht nur talentiert und sexy, sondern auch intelligent und humorvoll war. Als nächstes folgte mit Countess Dracula ein weiterer Hammer-Film.


Nicht nur unter Filmsnobs, sondern auch unter Horror-Fans gibt es manche, die diesen Streifen für einen Fehlschlag halten. Ich sehe das anders. Zugegeben, der Film geizt mit übernatürlichen Schrecken und die Story entbehrt weitgehend der üblichen Spannung, da alles, was zu einem Geheimnis hätte aufgebaut werden können, schon nach der ersten Viertel Stunde offen zutage liegt. Dies mag im ersten Moment etwas irritierend wirken, aber die besondere Qualität von  Countess Dracula  liegt anderswo.
Zuerst einmal handelt es sich trotz des Titels nicht um einen Vampirfilm. In Anlehnung an die Legenden um die historische Gräfin Elisabeth Báthory erzählt Countess Dracula vielmehr die Geschichte der Gräfin Elisabeth Nádasdy, die durch regelmäßige Waschungen mit dem Blut ermordeter Jungfrauen auf unnatürliche Weise ihre Jugend wiederherstellt. In so verjüngter Gestalt, und die Identität ihrer eigenen Tochter annehmend, beginnt sie eine Beziehung mit dem jungen Offizier Imre Toth. Zugleich bedient sie sich ihres ehemaligen Geliebten Kapitän Dobi, der ihr nach wie vor ergeben ist, um immer neue Opfer in die Finger zu bekommen.
Ingrid Pitt hätte die Mordtaten der Gräfin gerne auf sehr viel drastischere Weise dargestellt gesehen: "In one scene, I wanted to cut a whore's throat and hang her up by the feet and have the blood rush over me. You can't do that in a Hammer film!" Ein bisschen mehr Blut und offene Brutalität hätte dem Film sicher nicht geschadet, dem eigentlichen Thema {so wie ich es verstehe} wäre damit jedoch nichts hinzugefügt worden. Im Zentrum des Films steht die Person der Gräfin, und Pitt versteht es wirklich meisterlich, das Hin und Her zwischen dem gedankenverlorenen Vergnügen an der wiedergewonnenen Jugend und der Verzweifelung über das stets zurückkehrende Alter zum Ausdruck zu bringen. Gräfin Elisabeth verhält sich exakt wie eine Drogenabhängige, und ihre Droge heißt Jugend und Schönheit. Um diese zu bekommen, ist ihr jedes Mittel recht, doch sobald der sinnliche Rausch verflogen, die grauen Haare und die Runzeln zurückgekehrt sind, bricht sie in sich zusammen, wird zu einer erbärmlichen Jammergestalt. Totz ihrer blutigen Taten wirkt sie deshalb bemitleidenswert, und die Schlussszene, in der wir sie in Erwartung ihrer Hinrichtung als alte Frau im Kerker sehen, hat mir gerade deshalb einen eisigen Schauer über den Rücken gejagt. Ihre Gier nach ewiger Jugend, so egoistisch sie natürlich auch ist, erscheint in gewisser Weise verständlich, da wir immer wieder demonstriert bekommen, wie Männer Frauen nach ihrem Äußeren und nach ihrem "Wert" als "Sexobjekt" beurteilen. Dies gilt auch für den "offiziellen" Helden der Geschichte,  Imre Toth, der als ein zwar im Grunde gutmütiger und nicht unsympathischer, aber auch schrecklich oberflächlicher Kerl erscheint. Das vielleicht unheimlichste an Countess Dracula aber ist die Beziehung zwischen Elisabeth und Dobi. Die Gräfin nutzt die Verliebtheit des alten Kapitäns rücksichtslos aus, um ihre künstliche Jugend zu erhalten und damit den jungen Imre gewinnen zu können. Ihre Grausamkeit ist dabei jedoch die Grausamkeit einer Süchtigen, die angesichts der ersehnten Droge keine Gedanken mehr daran verschwenden kann, welche Auswirkungen ihr Handeln auf andere Menschen hat. Dobi hingegen rächt sich dafür auf bewusst sadistische Weise, indem er sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit quält und demütigt.

Als Ingrid Pitt ihren Einstieg in den britischen Horrorfilm schaffte, befand sich dieser bereits seit einigen Jahren im Niedergang. Sowohl The Vampire Lovers als auch Countess Dracula sind Beispiele dafür, wie Hammer die sinkenden Zuschauerzahlen durch verstärkte Erotik und ein bisschen nackte Haut aufzufangen versuchte. Dass spricht nicht gegen die beiden Filme, aber es lässt einen verstehen, warum sich auf dieser Basis keine bleibende Karriere aufbauen ließ.
Bevor das Ende erreicht war, übernahm Pitt mit  der Rolle der Bibliothekarin allerdings noch einen – wenn schon nicht zentralen, so doch auch nicht unbedeutenden – Part in The Wicker Man (1973) – dem unbestrittenen Kronjuwel des Brit-Horrors. Einem Film, der meiner bescheidenen Ansicht nach einen festen Platz im ewigen Pantheon des phantastischen Kinos verdient hat, und mit dem ich mich auf jedenfall noch einmal ausführlicher werde beschäftigen müssen.
Danach jedoch war Schluss. Ingrid Pitt sollte nie wieder die Hauptrolle in einem Film spielen. Sie übernahm Parts in so grausigen Streifen wie Wild Geese II und hatte Gastauftritte u.a. in The Zoo Gang, der Le Carré - Adaption Smiley's People sowie Doctor Who. 1981 trat sie kurz als "Hitchcock Blonde" in Alastair Reids ebenso faszinierendem wie irritierendem Phantastik-Streifen Artemis 81 auf {einem Film, den ich mir wohl noch ein paar mal anschauen muss, bevor ich mir ein endgültiges Urteil über ihn erlauben werde}. Daneben betätigte sie sich als Schriftstellerin und war ein gerngesehener Gast auf zahlreichen Horror-Conventions. In ihrem unverkrampften und positiven Verhältnis zur Fangemeinde stellte sie noch einmal ihre liebenswertesten Eigenschaften unter Beweis: Humor, Intelligenz und Lebensfreude. Leider war es ihr nicht vergönnt, einhundert Jahre alt zu werden, wie sie in ihrem selbst verfassten {und nicht ganz ernstzunehmendem} Nachruf angenommen hatte. Vielmehr starb sie am 23. November 2010 im Alter von 73 Jahren. Ihre Tochter Steffanie erklärte, man möge sie in Erinnerung bewahren  "as the Countess Dracula with the wonderful teeth and the wonderful bosom." Das war sie, und  noch so viel mehr.

* Ja, Schlock-Regisseur Willie Wilder war tatsächlich der Bruder von Billy Wilder!

Donnerstag, 22. November 2012

Trio di Sabata

Ich habe ja ein eher gespaltenes Verhältnis zum Spaghetti-Western, aber eines steht außer Zweifel: Viele der dreckigen, zynischen Flicks konnten mit großartiger Musik aufwarten. Die berühmtesten Melodien stammten dabei natürlich aus der Feder des großen Ennio Morricone: Once Upon a Time in the West (Spiel mir das Lied vom Tod); A Fistful of Dollars; For a Few Dollars More; The Good, the Bad and the Ugly; My Name is Nobody; The Great Silence (Leichen pflastern seinen Weg) usw. Aber er war keineswegs der einzige, der sich in diesem Gebiet ausgezeichnet hat. Zur Zeit erfreue ich mich z.B. an unterschiedlichen Versionen von Marcello Giombinis Titelmelodie zu Gianfranco Parolinis Sabata mit Lee van Cleef:

Das Original:


Eine Flamenco-Version:


Geoff Loves Interpretation:


Thanksgiving

Ich habe keineswegs die Absicht, den US-Amerikanerinnen und -Amerikanern ihr Thanksgiving madig zu machen. Vielmehr wünsche ich ihnen allen ehrlichen Herzens, dass sie den heutigen Tag möglichst fröhlich im Kreis ihrer Familie, ihrer Freunde oder wie auch immer verbringen mögen. Ob mit oder ohne Truthahnbraten. Dennoch kann ich es mir nicht verkneifen, zu diesem Anlass den folgenden Ausschnitt aus Addams Family Values zu posten:


Keine Ahnung, wie ich Barry Sonnenfelds Film heute bewerten würde. Als ich ihn mir 1993 mit einem Freund im Kino angeschaut habe, hat er mich jedenfalls gut amüsiert. Und ich glaube, zumindest die junge Christina Ricci als Wednesday würde ich auch jetzt noch klasse finden.

Dienstag, 20. November 2012

The Lady of the Cold

Okay, die richtig frostige Zeit ist noch nicht angebrochen, aber ich dachte mir, ich sollte diesen kleinen Clip posten, bevor er mir zwischen den Fingern weg- und aus dem Gedächtnis entschlüpft. Mir war bisher überhaupt nicht bewusst gewesen, dass es eine polnische Verfilmung der Mumins gegeben hat. Allerdings waren Tove Janssons Trolle auch nicht wirklich Bestandteil meiner Kindheit. Dieses Filmchen jedenfalls ist nicht nur hübsch und poetisch, sondern besitzt auch eine {für eine Kindersendung} ziemlich unheimlich-phantastische Atmosphäre:  

Der coolste Brief aller Zeiten

Manchmal vermag Twitter wirklich glücklich zu machen. Auf welchem anderen Weg wohl hätte ich DIESEN Brief entdecken können?

Montag, 19. November 2012

Brauchen wir utopisches Denken? - Teil 1

Teil 2 - Teil 3

Vor einiger Zeit verwies 'dangerousbeans' vom Golem-Blog in einem Post mit dem Titel Im Schlamm der Gegenwart auf einen Text von Millay Hyatt (1) über das "produktive Scheitern von Utopien" und schrieb dazu, dieser sei nicht nur für sich genommen interessant, sondern könne auch als "guter Einstieg in die Thematik" dienen, da er "gut verständlich zentrale Konzepte des utopischen Denkens bei Ernst Bloch, Fredric Jameson und Thomas Morus" erkläre.
Nun bin ich in in dem, was unter den Namen von Jameson & Co heutzutage an den Universitäten als 'Marxismus' verkauft wird, nicht wirklich bewandert. Was ich davon kenne, hat mich nicht zu einer intensiveren Beschäftigung animieren können  im Gegenteil. Dass der Begriff der Utopie in diesen Kreisen in den letzten Jahren (Jahrzehnten?) eine Art Renaissance erlebt hat, ist mir allerdings nicht entgangen, und mir erscheint dies nicht besonders begrüßenswert. Ich sehe darin vielmehr ein Symptom für all das, was faul am sogenannten "Neomarxismus" ist. So gesehen war ich äußerst interessiert an Hyatts Essay, fragte ich mich doch, ob dieser meinen Verdacht bestätigen würde. Wobei mich sein "gut verständlicher" Stil gleichzeitig der Qual entheben würde, zu diesem Zweck eine ausgedehntere Expedition in Fredric Jamesons sprachliche Dschungellandschaften unternehmen zu müssen.

Leider hat Von der Insel aufs Festland meine Erwartungen in vollem Umfang erfüllt. Zwar lassen sich die Gedanken, die Hyatt hier entwickelt, sicher nicht eins zu eins auf Jameson übertragen, aber sie zeigen doch sehr deutlich, welche Politik sich hinter der neuen Begeisterung für den Utopismus verbirgt oder zumindest von dieser begünstigt wird. Und anders als 'dangerousbeans' wundere ich mich nicht, dass dieser Text als Grundlage für eine Sendung des Deutschlandradios diente. Ein gewisses Niveau besitzt man doch wohl auch dort, und politisch 'gefährlich' oder subversiv ist an Hyatts Ausführungen wirklich nichts. Vielmehr handelt es sich bei ihrem Essay um ein plattes antisozialistisches Pamphlet ohne eine einzige originelle Idee.

Hyatts Überlegungen gehen von einem Begriff des Utopischen aus, unter dem unterschiedslos sowohl literarische Entwürfe einer idealen Gesellschaft – wie Thomas Morus' namensgebende Utopia als auch alle praktischen Versuche, eine sozialistische Ordnung zu schaffen, zusammengefasst werden. Und da sie gleich zu Beginn ihres Essays klarstellt, dass Utopien per Definition scheitern müssen, ist damit zugleich gesagt, dass der Sozialismus niemals verwirklicht werden wird. Das richtet sich zum einen rückwirkend gegen die großen revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts, und vor allem natürlich gegen die Oktoberrevolution, zum anderen präventiv gegen jeden Versuch einer Neubelebung revolutionärer Politik. Im Grunde käut Hyatt damit nur die uralten Argumente des klassischen Antikommunismus wieder, denenzufolge der Sozialismus nichts weiter ist als ein realtitäsfremdes Wolkenkuckucksheim, die Russische Revolution aber der verblendete Versuch eines Häufleins Fanatiker war, die Welt nach ihren verqueren Traumvorstellungen umzumodeln. Mit der folgenden Formulierung legt sie es sogar nahe, dass man Kommunismus wie Faschismus in die selbe "utopische" Kategorie einordnen könne:
Utopien - also Umsetzungsversuche utopischer Ideen und Bilder - scheitern ständig und reißen ihre Anhänger mit ins Verderben. Neben den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts gibt es zahlreiche kleinere Beispiele [...]
So weit, so abgeschmackt. Im Folgenden beschäftigt sich Hyatt dann so gut wie ausschließlich mit utopischer Literatur, wobei sie einige, wenn vielleicht auch nicht falsche, so doch kaum besonders neue oder erhellende Punkte vorbringt. So sollte es eigentlich niemanden wundern, dass dem 16. Jahrhundert entstammende Gesellschaftsentwürfe wie Morus' Utopia oder Francis Bacons Nova Atlantis in vielen Punkten heute veraltet erscheinen. Ebensowenig ist es erstaunlich, dass William Morris in News from Nowhere ein aus heutiger Sicht konservatives Verständnis von Geschlechterrollen an den Tag legt. Verglichen etwa mit seinem guten Bekannten E. Belfort Bax – einem der giftigsten Antifeministen, die kennenzulernen ich bisher das "Vergnügen" hatte  vertrat Morris zwar auch in Fragen der Frauenemanzipation eher fortschrittliche Positionen, aber trotz allem war er halt ein Mann des 19. Jahrhunderts, und wer wollte ihm das ankreiden? Gleichfalls richtig, aber nicht neu ist, dass die meisten Utopien aufgrund ihres Reiseführer-Stils nicht eben die spannendste Lektüre darstellen.
Neben solchen Gemeinplätzen bringt Hyatt vor allem ein Argument zur Kritik der klassischen Utopien vor: Ihren Inselcharakter:
Utopien werden seit Morus gerne auf Inseln verortet, später, mit dem Science-Fiction-Genre, kommen dann auch entfernte Planeten hinzu - also möglichst entlegene Orte, die Sicherheit vor der schlechten Außenwelt bieten. Diese Abschottung soll dem zarten Pflänzchen des utopischen Experiments einen geschützten Raum bieten, in dem es unbehelligt wachsen kann. So wird die Utopie als steriles Labor angelegt, in dem etwas Neues nur geschaffen werden kann, wenn Einflüsse von Außen konsequent ferngehalten werden. [...]
[D]ie Abtrennung ist immer auch ein Ausschluss, eine Verdrängung des Negativen nach draußen vor die Tore der guten Stadt. In Morus' Werk wird das Unhaltbare dieses Verfahrens besonders deutlich: Zwar gibt es innerhalb Utopias keinen Handel mit Geld, wohl aber Außenhandel, Geld wird auch eingesetzt, um feindliche Staaten zu bestechen und um Söldner anzuheuern, damit die Utopier ihre eigenen Kriege nicht selbst führen müssen.
So schließt die Utopie nicht nur ein, sondern versucht auch ihre schmutzigen Geschäfte auszuschließen, was das gesamte utopische Projekt fragwürdig erscheinen lassen muss. Was kann eine Freiheit sein, die sich einmauern muss? Und was eine Gerechtigkeit, die ihr Unrecht bloß nach draußen vor die Stadttore verschiebt? An diesen Fragen scheiterte so manch eine Utopie, ob als Fiktion oder realer Umsetzungsversuch.
Dazu gibt es einiges zu sagen:
Was Morus' Werk betrifft, das Hyatt fast ausschließlich als Belegmaterial heranzieht, so erklärt sich der Inselcharakter seiner idealen Gesellschaft sehr leicht aus der historischen Situation. {Wenn man einmal davon absieht, dass wir bei der Schilderung Utopias natürlich an Morus' Heimat England zu denken haben}. Das Buch entstand zu einer Zeit, als sich der bürgerliche Nationalstaat gerade erst herauszubilden begann. Die nationale Form, die Morus seiner Utopie verlieh, entsprach also ganz einfach den fortschrittlichen Tendenzen seiner Zeit und sollte einen ebensowenig irritieren wie die Vorherrschaft der Landwirtschaft und die quasizünftige Organisation des Handwerks in Gerrard Winstanleys Law of Freedom. (2) Dass jede Utopie, wie visionär sie in einzelnen Partien auch sein mag, stets in der Zeit wurzelt, in der sie entstanden ist, sollte gerade Hyatt verstehen können.
Betrachtet man die Utopie in erster Linie als literarisches Genre, so ergibt sich der Inselcharakter gleichfalls beinahe automatisch. Schließlich geht es dann darum, einen Besucher aus der Gegenwart als Stellvertreter des Lesers oder der Leserin in die utopische Gesellschaft einzuführen. Wie anders sollte dies möglich sein, als wenn Utopia einen von der "bösen" Realität räumlich oder zeitlich abgegrenzten Bereich darstellt?
Doch in Wirklichkeit geht es Millay Hyatt gar nicht um solche historischen oder literarischen Fragen. Sie verfolgt politische Ziele. Sie will uns weismachen, der Inselcharakter der klassischen, literarischen Utopie fände seine notwendige Entsprechung in der nationalen Abkapselung der sog."sozialistischen" Staaten des 20. Jahrhunderts. Was sonst könnte sie mit den "realen Umsetzungsversuchen" meinen? Das erinnert mich an  einen alten Professor aus Mainz, der in einem Marx-Seminar einmal allen Ernstes versuchte, die Politik der DDR auf genau dieselbe Weise mit Morus' Utopia zu verknüpfen. Tatsächlich aber ist genau dieses Streben nach nationaler Autarkie, das in Stalins famoser Theorie vom "Sozialismus in einem Land" sein ideologisches Fundament besaß, der beste Beleg dafür, dass die entsprechenden Regime nichts mit Sozialismus oder Marxismus zu tun hatten. In Theorie wie Praxis war diese Politik vielmehr Ausdruck der Interessen einer bürokratischen Kaste, deren Ziel weder in der Verwirklichung irgendeiner Utopie noch im Aufbau des Sozialismus, sondern in der Verteidigung ihrer Privilegien bestand.

Doch halt! jetzt haben wir uns frecherweise in die Gefilde der realen Geschichte vorgewagt, wo reale, materielle Interessen den Ton angeben, und eben dahin vermeidet Millay Hyatt ihren Blick zu lenken. Sie beschäftigt sich ausschließlich mit Texten. Was weiter nicht so schlimm wäre, wenn sie einen bloß literaturkritischen Essay verfasst hätte. Aber sie glaubt, mit diesen Texten außerdem den Schlüssel zum Verständnis historischer Ereignisse von der Tragweite der Oktoberrevolution   ihrer Ursprünge, ihrer Entwicklung und ihrer Entartung zum Stalinismus   in Händen zu halten. Man könnte dies ganz einfach für die typische Illusion einer berufsmäßigen Intellektuellen halten, die die Bedeutung dessen, womit sie selbst sich beschäftigt, maßlos überschätzt. Ganz falsch würde man damit wohl auch nicht liegen. Doch leider haben wir es nicht nur mit einer idealistischen Geschichtsvorstellung zu tun, in der von ihrer materiellen Basis abgelöste Ideen den Lauf der Historie bestimmen, sondern vor allem mit einer ganz spezifischen politischen Perspektive.
Der Inselcharakter, den Hyatt an der Utopie bemängelt, äußert sich nämlich nicht nur in der Abschottung gegen außen. Er ist auch
die Voraussetzung dafür, dass sich die Utopie als radikales Gegenmodell positionieren kann. [...]  Die Insel - genauer: der Graben zwischen der utopischen Insel und der verdorbenen Realität auf dem Festland - versinnbildlicht den utopischen Wunsch, die Welt in zwei streng trennbare Bereiche zu teilen: gut und schlecht.
In Bezug auf literarische Utopien ist diese Beobachtung sicher richtig. Ebenso als Kritik an irgendwelchen kommunemäßigen Projekten.  Im Kontext von Hyatts Essay aber dient sie außerdem dazu, die Perspektive einer radikalen gesellschaftlichen Umwälzung an sich suspekt erscheinen zu lassen. Zur Verdeutlichung dessen zieht die Autorin Ernst Blochs Unterscheidung zwischen "konkreter" und "abstrakter" Utopie heran. Ich habe keine Ahnung, ob der dabei aufgestellte starre Gegensatz zwischen Reform und Revolution Blochs Gedankengängen gerecht wird, mit Marxismus hat er jedenfalls nichts zu tun. (3) Für Hyatt aber ist es sehr wichtig, dieses Bild eines simplen "Entweder - Oder" heraufzubeschwören, denn nur so kann sie ihre eigene Perspektive als eine neuartige Alternative zum verbohrten "Dogmatismus" der Vergangenheit darstellen.
Wie diese Perspektive aussieht? Sehr einfach:
Eine Bestandsaufnahme dessen, was gegenwärtig unter der Rubrik "Utopie" läuft, zeigt eine Bandbreite von Ideen und Modellen, die eines gemeinsam haben: Sie wollen keine neuen Welten schaffen, stattdessen bestimmte Verhältnisse in dieser verändern. Es sind lokale, lösungsorientierte Ansätze, die heute mit einem utopischen Glanz versehen werden. [...] Ökologisch, partizipativ, zeitlich und räumlich situiert werden im Hier und Jetzt Lösungen für aktuelle Problemlagen entworfen. Ein gemeinschaftlich betriebener Biobauernhof etwa, ein billiger Laptop für Kinder in Entwicklungsländern oder ein energieautarkes Hotel, wo die Gäste für ihren Beitrag zur Biogasproduktion bei jedem Toilettenbesuch bezahlt werden. Das sind die "utopischen Projekte" des frühen 21. Jahrhunderts - Experimente, die sich innerhalb eines bestimmten, von der Aktualität vorgegebenen Rahmen bewegen, dort Freiräume abstecken und neue Handlungsweisen entwickeln.

Hyatt stellt nicht in Abrede, dass es sich bei diesen Projekten in gewisser Weise nur um "Pflaster auf dem faulen, zerstörerischen Körper des Kapitalismus" handele. Aber dies sei kein ausreichender Grund, um sie zu verwerfen. Vielmehr stellten diese "bescheidenen Utopien"in einem entscheidenden Punkt einen großen Schritt vorwärts dar:  "[S]ie haben sich, im Großen und Ganzen, von einem alten utopischen Grundmuster verabschiedet: die Utopie als Insel, abgeschottet von der realen Welt." Die freiwillige Unterwerfung unter die Regeln der Marktwirtschaft wird von ihr als nachgerade revolutionärer Akt dargestellt. Der Ton wird schwärmerisch:
Bedingt auch durch ihre Lösungsorientierung mischen sie sich direkt in das widersprüchliche Durcheinander der Realität und werkeln dort, ohne sich zu sehr um Abgrenzungen und klare Definitionen zu sorgen. Guerillagärtner pflanzen in Großstadtbrachen Gemüse an, Open-Source-Programmierer tüfteln Software aus, um sie umsonst zur Verfügung zu stellen, argentinische Arbeiter besetzen Fabriken und verwalten sie erfolgreich selbst - diese "utopischen" Projekte finden nicht auf Inseln statt, sondern mitten im rasenden Herz der kapitalistischen Gesellschaft, der sie durch ihre Existenz trotzen - aber wovon sie sich auch nicht vollkommen abgrenzen.
Der utopische Kern dieser Versuche besteht aus dem Ergreifen des Augenblicks, um im Hier und Jetzt einen Spalt Freiheit und Solidarität zu öffnen, ungeachtet der vermeintlichen Geschlossenheit und Allgegenwärtigkeit eines Systems der Ausbeutung und Entsolidarisierung. [...]
Sie schaffen diffus abgegrenzte Räume der Freiheit, die vom Rest der Welt weder durch Gräben noch Sperranlagen geschieden sind.
Strukturell sind sie keiner strengen Dichotomie und keinem Identitätszwang verhaftet, und fürchten sich nicht davor, von der Realität kontaminiert zu werden. Stattdessen haben sie die Möglichkeit, wie eine gutartige Krankheit, alles um sich herum anzustecken. Das macht sie alltäglich, widersprüchlich, auch enttäuschend. Sie sind von der Insel aufs Festland gezogen.
(4)
Besonders bizarr an dieser Hymne auf die Tugenden der "bescheidenen Utopien" wirkt der Versuch, all das als etwas irgendwie neues hinzustellen. Dabei unterscheidet sich diese "Bricolage der vielen kleinen Experimente" nur in ihrem geringeren Ehrgeiz und ihrer Buntscheckigkeit von der Genossenschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts. Auch diese verstand ihre kollektiv betriebenen Unternehmen und Konsumvereine als "Inseln" einer solidarischen Ordnung inmitten einer Welt der Ausbeutung. Ihr Schicksal zeigt sehr gut, wie weltfremd Hyatts Glaube an die schleichende Unterhöhlung des Kapitalismus durch die "gutartige Krankheit" der "bescheidenen Utopien" ist.

Ganz vermag dieses "Frickeln" Millay Hyatt freilich nicht zu befriedigen. Da ihre "bescheidenen Utopien" nicht mit einer "völligen Kapitulation vor den aktuellen Rahmenbedingungen" verwechselt werden sollen, betont sie, dass auch weiterhin "verwegene Bilder" entworfen und "das unverschämte Verlangen nach einer radikal anderen Welt" gepflegt werden müssten. Und so endet ihr Essay ziemlich abrupt mit dem Versuch, sich eine Welt ohne Grenzen und ohne Kapital vorzustellen. Das ist zwar schön und gut, aber es bleibt völlig schleierhaft, worin die Verbindung zwischen dieser Vision und den Biobauern, Guerillagärtnern und Open-Source-Programmierern bestehen soll. Von dem einen führt kein erkennbarer Weg zum anderen. Dass Hyatt in dieser Diskrepanz kein Problem sieht, dürfte daran liegen, dass es ihr in Wirklichkeit gar nicht um die Realisierung einer Welt ohne "Slums", "Sweatshops" und "Millionärsvillen" geht. Sie möchte lediglich "mit gefährlichen Bildern spielen" und sich "das radikal andere ausmalen" dürfen.

Nun bin ich wirklich der Letzte, der irgendjemandem das Träumen untersagen wollte. Aber Hyatt hat nun einmal einen politischen Essay verfasst, und in der Politik sollten Träumereien meiner Ansicht nach keine zentrale Rolle spielen. Ich kann mir nicht helfen, aber der Schluss von Von der Insel aufs Festland wirkt auf mich wie der wenig geglückte Versuch der Autorin, ihre geliebten "bescheidenen Utopien" mit einem visionären Heiligenschein zu umgeben, um sich selbst und ihre Leserschaft über deren ziemlich prosaische {und machen wir uns nichts vor – völlig kapitalismuskonforme} Natur hinwegzutäuschen. Hyatt will glauben können, dass sie sich nicht "im schlammigen Strom der Gegenwart [...] treiben" und "wehrlos mit ins fremdbestimmte Scheitern" reißen lasse. Da sie jedoch nicht wirklich an die Möglichkeit einer Überwindung des Kapitalismus glaubt, begnügt sie sich damit, beim Biobauern einzukaufen, und gibt sich dabei irgendwelchen erbaulichen Gedankenspielen über Deleuz' "sanfte Nomaden" hin. Auf diese Weise kann sie für sich die Illusion aufrechterhalten, sie habe sich von den "Mauern, die unseren Geist umschließen" befreit, ohne das Wagnis eingehen zu müssen, gegen die sehr viel realeren Mauern der bürgerlichen Ordnung vorzugehen.

In Teil 2 werde ich versuchen, die historischen und sozialen Wurzeln offenzulegen, denen Hyatts Perspektive entwachsen ist. Außerdem werde ich auf die Verwandtschaft ihrer Position zu der von Fredric Jameson eingehen.

Fortsetzung folgt ...

(1) Ein rascher Click bei Google zeigt mir, dass die Autorin offenbar hauptsächlich für ihr Buch Ungestillte Sehnsucht - Wenn der Kinderwunsch uns umtreibt bekannt ist. Ihre Dissertation freilich hat sie über "das Utopische und Utopiekritische bei Hegel und Deleuze" geschrieben.
(2) Gerrard Winstanley (1609-1676) war der Führer und Vordenker der frühkommunistischen "Diggers" oder "True Levellers" in der Englischen Revolution.
(3) Vgl. etwa Rosa Luxemburgs klassische Polemik Sozialreform oder Revolution?
(4) Hyatt behauptet, das "Ergreifen des Augenblicks", das sich in diesen reformerischen Projekten verkörpere, sei ein urutopisches Motiv. Als Beleg dafür führt sie Samuel Butlers Erewhon an. Persönlich finde ich es allerdngs fraglich, ob man diese geistreiche Satire {der nebenbei bemerkt Butler's Jihad in Dune seinen Namen verdankt} tatsächlich als eine Utopie bezeichnen kann.

Donnerstag, 15. November 2012

Cthulhuoide Kunst

Ich hätte an dieser Stelle ja nur zu gerne ein paar Bilder gepostet, aber die deutschen Copyright-Bestimmungen sind mir einfach zu unheimlich. Darum nur einige Link-Tips:
  • Wer schon immer wissen wollte, wie Lovecraft selbst sich den Großen Cthulhu vorgestellt hat, findet hier eine nette kleine Skizze aus den Archiven der Lovecraft eZine.
  • Auf Hypnogorias Schwesterseite The Dreams of Mr Greenslade hat der Fluss der Träume kürzlich eine Illustration des großen Virgil Finlay zu The Colour Out of Space ans Ufer geschwemmt.
  • Finlays vielleicht bekanntestes Bild dürfte sein Porträt des Gentlemans von Providence sein, das diesen in der Aufmachung des 18. Jahrhunderts zeigt, seiner "wahren Heimat". Doch wie wäre es z.B. mit dieser Illustration zu HPLs Gedicht Hallowe'en in a Suburb?
  • Wer nicht genug von "Monstro Ligriv", wie Lovecraft ihn getauft hatte, bekommen kann, der schaue bei Monsterbrains rein, dort wird er oder sie einer wahren Flut von Finlays begegnen, wenn auch leider ohne Titel. Clark Ashton Smith, für dessen Geschichten er ebenfalls einige Illustrationen anfertigte, schrieb über sein Werk, es sei "original and finely imaginative and fantastic with a delicacy of technique that arouses my envy as well as my admiration". Und Lovecraft widmete ihm die folgenden Verse: "Yet here upon a page our frightened glance/ Finds monstrous forms no human eye should see;/ Hints of those blasphemies whose countenance/ Spreads death and madness through infinity."
  • Kurioserweise fertigte Finlay 1963 im Auftrag des Verlags Houghton Mifflin auch eine Probeillustration für die geplante Ausgabe von J.R.R. Tolkiens Hobbit an. Doch obwohl sich der 'Professor' wenn schon nicht begeistert, so doch positiv überrascht zeigte, entschied man sich gegen ihn als Illustrator. Was ich sehr bedauernswert finde. Es wäre interessant gewesen zu sehen, wie Finlays doch eigentlich so ganz anders geartete Muse mit den Abenteuern von Bilbo Baggins umgegangen wäre.
  • Natürlich finden sich auch unter Clark Ashton Smiths zahlreichen in Stein gearbeiteten Grotesken, von denen uns die nicht oft genug zu preisende Website The Eldritch Dark eine erkleckliche Auswahl präsentiert, einige explizit cthulhuoide Werke, so etwa Figurinen von Dagon, Shub-Niggurath und Azathoth.

Dienstag, 13. November 2012

Der Anfang vor dem Anfang

Wirft man einen Blick zurück auf die Zeit des klassischen Brit-Horrors, so ist es ein Name, der alle anderen zu überstrahlen scheint: Hammer Film Productions mit seinen Stars Christopher Lee, Peter Cushing, Ingrid Pitt etc. Doch für wenigstens zehn Jahre – von Mitte der 60er bis Mitte der 70er Jahre – hatte Hammer in Gestalt von Amicus Productions einen ernstzunehmenden Konkurrenten im Feld des phantastischen Films. Die Produktionsfirma von Milton Subotsky und Max Rosenberg erlangte ihre Berühmtheit vor allem durch eine Reihe sog. Portmanteau (d.h. Episoden) - Horror - Flicks, von denen ich Dr. Terror's House of Horrors (1964), The House That Dripped Blood (1970), Vault of Horror (1973) und From Beyond the Grave (1974) hier bereits vor einiger Zeit besprochen habe. Daneben zeichnete sie u.a. verantwortlich für die beiden Doctor Who - Kinofilme Dr. Who and the Daleks (1965) und Daleks – Invasion Earth 2150 A.D. (1966) und versuchte sich gegen Ende ihrer Existenz mit At the Earth's Core (1976) und The People That Time Forgot (1977) auch an Edgar Rice Burroughs. Außerdem – man höre und staune! – produzierte sie 1968 eine Filmversion von Harold Pinters Theaterstück The Birthday Party, wobei William Friedkin die Regie führte – der Mann, der mit The Exorcist 1973 das Ende der Ära des klassischen Horrofilms einleiten würde. Kurios ...
Der erste Film, den Amicus 1962 in die Kinos brachte, war Richard Lesters Musical It's Trad, Dad! (in den USA als Ring-A-Ding Rhythm bekannt). Ein etwas ungewöhnlicher Anfang für ein Unternehmen, das vor allem durch seine Rolle im phantastischen Film bekannt geworden ist, könnte man meinen. Tatsächlich aber hatten Subotsky & Rosenberg ihre Zusammenarbeit bereits zwei Jahre zuvor unter dem Firmenschild von Vulcan Productions mit einem Film begonnen, der einen würdigen und angemessenen Startpunkt für Amicus darstellt: John Llewellyn Moxeys The City of the Dead (aka Horror Hotel). 


Anders als einem die Lovecraft eZine in Aussicht stellt, hat der Streifen nichts mit dem Werk und der Welt des Gentlemans von Providence zu tun. Der Schauplatz Neuengland allein macht ja noch keinen cthulhuoiden Horror. Was aber keineswegs bedeutet, dass es sich bei ihm nicht um ein sehenswertes kleines Filmchen (Laufzeit: 76 min.) handeln würde, das vor allem durch Atmosphäre und das diabolische Spiel von Christopher Lee und Valentine Dyall* zu bestechen vermag.

Die Eröffnungsszene, in der wir die Hinrichtung der Hexe Elizabeth Selwyn (Patricia Jessel) im Massachusetts von 1692 miterleben, ist verschiedentlich mit der Startsequenz von Mario Bavas zwei Jahre zuvor in die Kinos gekommenem offiziellem Debütfilm La maschera del demonio (Black Sunday)** verglichen worden. Die Parallelen sind zweifellos vorhanden, aber da Ähnlichkeiten im weiteren Verlauf nur mit der Lupe zu entdecken sind, schiene es mir doch arg übertrieben, wollte man hier von einem Plagiat sprechen. In der US-amerikanischen Version dieser Szene fielen übrigens einige Anrufungen Luzifers dem Zensor zum Opfer. Fürchteten die Hüter der christlichen Moral tatsächlich, dass man durch einen Horrorflick zum Satanisten werden könnte? Zum Verständnis des Plots war dieser Eingriff jedenfalls nicht förderlich, wird hier doch das Thema des Filmes eingeführt: "I have made my pact with thee O Lucifer! Hear me, hear me! I will do thy bidding for all eternity. For all eternity shall I practice the ritual of Black Mass. For all eternity shall I sacrifice unto thee. I give thee my soul, take me into thy service."
Als nächstes erfahren wir, dass man als aufgeweckte Studentin Obacht walten lassen sollte, wenn man von einem Geschichtsprofessor, der aussieht wie Christopher Lee, in ein gottver-lassenes Nest in Neuengland geschickt wird, um dort Nachforschungen über die Historie des Hexenkultes zu betreiben. Die gute Nan Barlow (Venetia Stevenson) lernt diese Lektion leider etwas zu spät. Der Empfehlung ihres Dozenten Alan Driscoll (Lee) folgend, fährt sie nach Whitepool. Schon bevor sie den Ort erreicht hat, begegnet ihr Unheimliches in Gestalt eines mysteriösen Anhalters (Valentine Dyall), der sich in Luft aufzulösen scheint, als Nan schließlich vor dem Raven's Inn hält. Das Dorf selbst entpuppt sich als eine Art nebelverhangenes Brigadoon des Bösen, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, der blinde Pastor etwas wirr anmutende Warnungen vor den Mächten des Teufels von sich gibt und die Wirtin des Gasthauses eine frappierende Ähnlichkeit mit Elizabeth Selwyn aufweist. Einzig die freundliche und hilfsbereite Enkelin des Pastors Patricia (Betta St. John) will nicht so recht in diese Umgebung passen. Aber auch sie kann nicht verhindern, dass Nan an Candlemass Eve unter dem Opfermesser des Hexenzirkels endet.
Das war jetzt ein fetter Spoiler, doch ohne diesen wäre es nicht gut möglich, über City of the Dead zu schreiben. Denn gerade diese abrupte Wendung, die anfängliche Protagonistin mitten im Film sterben zu lassen und den Fokus auf andere Personen zu verlegen, war zur Zeit seines Entstehens vermutlich eine der außergewöhnlichsten Eigenschaften des Filmes. Den gleichen Kunstgriff wandte Alfred Hitchcock im selben Jahr bei Psycho an, weshalb ein Vergleich zwischen den beiden sich natürlich geradezu aufdrängt. Doch alle weitergehenden Parallelen, die manche dabei zu entdecken glauben, sind gänzlich oberflächlichen Charakters. Auch sollte man unumwunden erklären, dass City of the Dead durch einen Vergleich mit Psycho nur verlieren kann. Zwar würde ich letzteren nicht zu Hitchcocks echten Meisterwerken zählen, aber er enthält doch sehr viel mehr als bloß eine gruselige Mordgeschichte.
Worin sich die beiden Filme allerdings tatsächlich ähneln ist, dass sie beide nach dem überraschenden Tod ihrer ersten Protagonistin merklich abbauen. Verständlicherweise beunruhigt über Nans mysteriöses Verschwinden, machen sich ihr Bruder Richard (Dennis Lotis) und ihr Freund Bill (Tom Naylor) daran, dem Geheimnis von Whitepool auf den Grund zu gehen, um schließlich mit Patricias Unterstützung den Kampf gegen das Böse aufzunehmen. Auch wenn uns dieser zweite Teil von City of the Dead mit einigen längeren Christopher Lee - Szenen beglückt, leidet er doch stark unter einem etwas überhasteten Pacing. Die übliche Spielzeit von anderthalb Stunden hätte dem Film sicher gut getan. So fehlt die Zeit, um eine emotionale Beziehung zu Richard aufzubauen, wobei es auch nicht gerade hilfreich ist, dass die beiden männlichen Helden im Gegensatz zu der sympathisch selbstständigen Nan als ziemlich eingebildete, nicht eben liebenswerte Typen rüberkommen. Und dass zur Erfüllung der Konvention dann auch noch so etwas wie der Beginn einer Liebesbeziehung zwischen Patricia und Richard/Dick angedeutet werden muss, wirkt beinahe lächerlich, haben die beiden doch gerade mal ein paar Minuten miteinander verbracht. Aber Logik und Glaubwürdigkeit sind ohnehin nicht unbedingt die Stärken von City of the Dead. Schließlich sollen wir auch glauben, dass der Hexenzirkel seit bald zwei Jahrhunderten alljährlich zwei Mädchen geopfert hat, ohne dass dies bisher irgendjemandem aufgefallen wäre.
Das Finale auf dem Friedhof ist dann allerdings wieder wirklich fantastisch und zeigt noch einmal all das, womit dieser Film zu brillieren vermag: Wunderbar diabolische Bösewichter; Desmond Dickinsons tolle Cinematographie (man achte vor allem auf das Spiel mit Silhouetten); und die spukig-stimmungsvolle, nebeldurchwallte Atmosphäre.

Vergleicht man City of the Dead mit den Horrorflicks aus Amicus' "klassischer" Periode, so fällt vor allem auf, dass das Grauen hier noch sehr viel "gotischer" daherkommt. Anders als die meist in historischem Ambiente spielenden  Hammer- Produktionen, sind die meisten Filme aus der Werkstatt von Subotsky & Rosenberg nämlich im Hier und Heute angesiedelt, was nicht nur half, das Budget niedrigzuhalten, sondern auch ganz entscheidend zum individuellen Charakter des Brit-Horrors à la Amicus beitrug. Davon lässt sich in diesem inoffiziellen Erstwerk noch nicht viel entdecken. Die Geschichte mag zwar in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts spielen, aber Whitepool könnte ebensogut ein viktorianisches Dorf sein. Lediglich der Soundtrack erscheint im Rückblick wie eine subtile Andeutung der Richtung, in die Amicus den Horrorfilm einmal bewegen würde, besteht er doch aus einer eigenwilligen Mischung von zeitgenössischem Jazz und "gotischen" Schauerchören.


* Der drei Jahre später auch in Robert Wise' berühmtem Horrorfilm The Haunting mitwirken würde.
** In Deutschland unter dem absurden Titel Die Stunde, wenn Dracula kommt vermarktet. Ist eigentlich irgendwer schon mal auf die Idee gekommen, eine ausführlichere Studie über die unzähligen Verbrechen der deutschen Titelschöpfer und Synchronisations-Autoren zu verfassen? Da gäbe es wirklich reichhaltiges Material ...

Sonntag, 11. November 2012

König Alfred und die Großen Alten

Ich bin soeben in der letzten Ausgabe des Dark Fiction Magazine auf die stimmungsvoll düstere (und vorzüglich vorgetragene) Geschichte
von Lou Morgan gestoßen.

In nachklassischer Cthulhu-Mythos-Literatur kenne ich mich ja so gut wie gar nicht aus und habe deshalb keine Ahnung, ob es öfters vorkommt, dass der Schrecken der Großen Alten wie hier  in ein mittelalterliches Setting verlegt wird. Morgans in der Zeit der Kriege zwischen Alfred dem Großen von Wessex und den Dänen spielende Story zeigt jedenfalls, dass man damit sehr effektvolle Ergebnisse erzielen kann.

Ein Klassiker der etwas anderen Art

Es gibt Filme, bei denen man sich – sieht man sie das erste Mal – ununterbrochen fragt: Wie zum Teufel hat dieser Streifen je gedreht werden können? Und das nicht etwa aus Verzweifelung über den Niveauverfall des Kinos {wie etwa bei einem Michael Bay - Film}, sondern aus schierem Erstaunen über den wunderbaren Wahnsinn, der sich einem darbietet. Ein echter Klassiker dieser Sorte ist Killer Klowns from Outer Space aus dem Jahre 1988:


Filme wie dieser sind es, die einen die Magie des B-Movies spüren lassen. Der von den Chiodo-Brüdern Charles, Edward und Stephen in gerade mal 36 Tagen aufs Celluloid gebannte Streifen über mörderische Alien-Clowns, die in eine amerikanische Kleinstadt einfallen, steckt voll groteskem Humor und kreativem Übermut, einer tiefen Liebe zum Genre und einer völligen Missachtung für irgendwelche Regeln. Er gehört nicht zur Kategorie der "guten schlechten Filme" à la Troll 2, vielmehr enthält er reihenweise irrwitzige und fantastische Einfälle, die alle mit größter Konsequenz aus der völlig absurden Grundidee abgeleitet worden sind, wie z.B. das Schattenspiel, das Puppentheater, der Ballon-Hund oder das monströs mutierende Popcorn. Und einige Szenen sind sogar wirklich gruselig. Außerdem quillt der Film geradezu über von Anspielungen auf "echte" Genre-Klassiker wie Forbidden Planet, Invasion of the Body Snatchers, The Blob, Alien, Godzilla. Die Chiodos sind hauptberuflich Special Effects - Experten und als solche Vertreter einer Zeit, als Tricktechnik noch etwas mit Kunsthandwerk zu tun hatte. Auch das sieht man ihrem Streifen an. Perfektion schaut sicher anders aus, ist dafür aber auch oft steril und langweilig. Ein Hoch auf Slow Motion, Puppen und Prosthetics!

Es steckt etwas ungeuer Befreiendes und Aufmunterndes in Filmen wie Killer Klowns from Outer Space, und wer ihn noch nicht gesehen hat, dem kann ich nur dringend empfehlen, dies schnellstmöglich nachzuholen. Auf sie oder ihn wartet ein unvergessliches Erlebnis.

Und weil er so cool ist, hier noch rasch der Titelsong von den Dickies:


PS: Ein Interview mit den Chiodo-Brüdern findet sich hier. Über das für 2013 geplante Sequel The Return of the Killer Klowns from Outer Space 3D scheint bisher wenig konkretes bekannt zu sein. Auch wenn ich alter Schwarzseher kaum glaube, dass sich der Charme des Originals wiederbeleben lassen wird, schaue ich dem Ereignis doch mit verhaltenem Optimismus entgegen.

Donnerstag, 8. November 2012

Arthur Machens Meisterwerk

Matthew David Surridge hat letzte Woche einen äußerst lesenswerten Artikel über Arthur Machens The Great God Pan auf Black Gate veröffentlicht. Im Großen und Ganzen würde ich mich sowohl seiner Interpretation als auch seiner Bewertung des Romans anschließen. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, hatte ich nach der Lektüre allerdings den Eindruck, das Buch sei trotz vieler beeindruckender Passagen als Gesamtkomposition nicht hundertprozentig geglückt. Mein persönlicher Favorit unter den Werken des walisischen Autor ist und bleibt jedenfalls The White People, eine der auf subtile Weise verstörendsten Erzählungen, die ich je gelesen habe. H.P. Lovecraft nannte sie "a masterpiece of fantastic writing, with almost unlimited power in the intimation of potent hideousness and cosmic aberration". Clark Ashton Smith bezeichnete ihren Stil als "exquisite in its degree of perfection".*

Die Geschichte beginnt mit einer nächtlichen Unterhaltung zwischen dem einsiedlerischen Ambrose und seinem Gast Cotgrave über die wahre Natur der Sünde. Verbrechen wie Diebstahl oder Mord seien – so Ambrose – nicht wirklich 'Sünden', auch wenn man sie gemeinhin als solche bezeichne. Die wirkliche Sünde habe nichts mit dem gesellschaftlichen Miteinander der Menschen zu tun, sondern mit ihrer Beziehung zum Übernatürlichen. Sie bestehe in dem Versuch, Zugang zu Sphären des Seins zu erlangen, die dem Menschen für gewöhnlich verschlossen sind. Sie sei eine Art mystische Verzückung. Doch im Gegensatz zum Heiligen, der in seinem transzendenten Streben einen Zustand wiederzuerlangen hoffe, der dem Menschen vor dem Sündenfall natürlich gewesen sei, verlange der wahre Sünder nach etwas, was dem Menschen nicht zustehe. Der Sünde hafte deshalb etwas zutiefst widernatürliches an, so als würden Tiere zu sprechen oder Steine zu wachsen beginnen.
Um zu veranschaulichen, was er mit seinen Ausführungen gemeint habe, leiht Ambrose seinem Gast ein Buch, das die Aufzeichnungen eines namenlosen sechzehnjährigen Mädchens enthält. Diese bilden den Hauptteil von The White People. Der Bericht beginnt mit dem folgenden Absatz, der einen guten Eindruck von dem ebenso eigentümlichen wie faszinierenden Charakter der Erzählung vermittelt:
I found this book (the manuscript began) in a drawer in the old bureau that stands on the landing. It was a very rainy day and I could not go out, so in the afternoon I got a candle and rummaged in the bureau. Nearly all the drawers were full of old dresses, but one of the small ones looked empty, and I found this book hidden right at the back. I wanted a book like this, so I took it to write in. It is full of secrets. I have a great many other books of secrets I have written, hidden in a safe place, and I am going to write here many of the old secrets and some new ones; but there are some I shall not put down at all. I must not write down the real names of the days and months which I found out a year ago, nor the way to make the Aklo letters, or the Chian language, or the great beautiful Circles, nor the Mao Games, nor the chief songs. I may write something about all these things but not the way to do them, for peculiar reasons. And I must not say who the Nymphs are, or the Dôls, or Jeelo, or what voolas mean. All these are most secret secrets, and I am glad when I remember what they are, and how many wonderful languages I know, but there are some things that I call the secrets of the secrets of the secrets that I dare not think of unless I am quite alone, and then I shut my eyes, and put my hands over them and whisper the word, and the Alala comes. I only do this at night in my room or in certain woods that I know, but I must not describe them, as they are secret woods. Then there are the Ceremonies, which are all of them important, but some are more delightful than others – there are the White Ceremonies, and the Green Ceremonies, and the Scarlet Ceremonies. The Scarlet Ceremonies are the best, but there is only one place where they can be performed properly, though there is a very nice imitation which I have done in other places. Besides these, I have the dances, and the Comedy, and I have done the Comedy sometimes when the others were looking, and they didn't understand anything about it. I was very little when I first knew about these things.
Wir werden im Folgenden nie erfahren, worum es sich bei den erwähnten Zeremonien und anderen geheimnisvollen Dingen handelt. Überhaupt fällt es schwer zu sagen, was genau wir im Laufe der Erzählung erfahren. Das hängt völlig davon ab, wie wir den Text interpretieren.
Das Mädchen erzählt, dass sie schon von frühester Kindheit an Kontakt zu übernatürlichen Wesen gehabt habe. So glaubt sie, sich daran erinnern zu können, dass weiße Gesichter auf sie herabschauten, als sie in der Wiege lag, und in einer fremden Sprache zu ihr redeten. Später sei sie in der Nähe eines Teiches dem 'Weißen Volk' begegnet. Ihr Kindermädchen habe ihr von alten Ritualen erzählt, die vor langer Zeit von den Menschen in dieser Gegend zelebriert worden seien. Auch einige magische Handlungen habe sie von ihr gelernt. Vieles aber habe sie selbst herausgefunden.
Kernstück ihrer Aufzeichnungen ist der Bericht über den 'Weißen Tag'. Beim Umherstreifen durch den Wald gelangt sie in ihr bisher unbekannte Gegenden, die mehr und mehr phantastische Formen annehmen. Sie durchquert dunkle Wälder, in denen geheimnisvolle, schattige Bäche dahinplätschern, gelangt zu einem einem gewaltigen Kreis bizarr geformter Felsbrocken, wandert durch eine raue, zerklüftete Hügellandschaft und entdeckt schließlich in einem verborgenen Wäldchen etwas ungeheuer Wunderbares, dessen genaue Natur sie nicht beschreibt:
And there I saw the most wonderful sight I have ever seen, but it was only for a minute, as I ran away directly, and crept out of the wood by the passage I had come by, and ran and ran as fast as ever I could, because I was afraid, what I had seen was so wonderful and so strange and beautiful.
Das Unheimliche an all dem ist nicht, was dem Mädchen auf seiner Wanderung zustößt, sondern vielmehr die Art, in der sie ihre Umgebung wahrnimmt und beschreibt. Auf diese Weise wird die im Grunde ziemlich ereignislose Entdeckungsfahrt einer Vierzehnjährigen zu einer Reise in eine phantastische, fremdartige und irgendwie beunruhigende Welt. In diesen Passagen zeigt Machen seine ganze literarische Meisterschaft.

Es bleibt die Frage, wie wir das Ganze zu interpretieren haben. Machen gibt uns mit der Rahmenerzählung ein Muster dafür vor. Doch müssen wir uns an dieses Muster halten?
Vieles spricht dafür, dass die Ideen, die der Autor Ambrose in den Mund gelegt hat, seine eigenen waren. Wie sein Einsiedler war auch Machen ein Anhänger des Anglokatholizismus, wenn auch kaum ein orthodoxer Kirchgänger. Seine Faszination für alles Okkulte hatte ihn zeitweilig in die Reihen des berühmten Hermetic Order of the Golden Dawn geführt, dem u.a. auch William Butler Yeats, Algernon Blackwood und Aleister Crowley angehörten. Sein Verständnis von Literatur war ganz von diesem Mystizismus geprägt, wie seine ästhtetische Abhandlung Hieroglyphics zeigt. Wahre Literatur verfolgt seiner Ansicht nach das Ziel, den Leser in einen Zustand der Ekstase zu versetzen, den er als "rapture, beauty, adoration, wonder, awe, mystery, sense of the unknown, desire for the unknown" umschreibt. Dieses quasi mystische Erlebnis soll die Sehnsucht nach dem Jenseitigen, Göttlichen in uns wecken. Hervorgerufen werde es mit Hilfe von Symbolen, die nur dem Eingeweihten wirklich verständlich sind: "[T]o us, initiated, the Symbol will be offered, and we shall take the Sign and adore, beneath the outward and perhaps unlovely accidents, the very Presence and eternal indwelling of God."
Gut möglich, dass The White People tatsächlich als die Schilderung der unheiligen Verkehrung eben dieser Ekstase gedacht war, und dass wir in der Erzählerin wirklich eine werdende Hexe sehen sollen. Doch wenn wir die bewusste Intention des Autors einmal beiseite lassen, eröffnet uns der Text selbst noch eine ganz andere Möglichkeit der Interpretation.
Es fällt nicht schwer, in der Erzählerin ein fantasiebegabtes, sensibles und vor allem sehr sehr einsames Mädchen zu erkennen. Wir erfahren, dass ihre Mutter ein Jahr vor den Ereignissen des 'Weißen Tages' gestorben ist und dass ihr Vater keinerlei Interesse an ihr zeigt. Ihre einzige Bezugsperson scheint das Kindermädchen gewesen zu sein, das jedoch gleichfalls schon seit längerem aus ihrem Leben verschwunden ist. Zu Gleichaltrigen hat sie offenbar überhaupt keinen Kontakt. Unter diesen Umständen erscheint es gut nachvollziehbar, dass sie sich mehr und mehr in eine eigene Fantasiewelt zurückgezogen hat. Das allein würde aber nicht ausreichen, um das Beunruhigende der Geschichte zu erklären. Das Mädchen flieht nicht nur in eine Art Traumwelt. Sie ist dabei, etwas zu entdecken, etwas, was sie nicht versteht und was ihr zugleich Faszination und Angst einflößt. Worum handelt es sich dabei?
Arthur Machen verstand es meisterlich, in seinen Lesern das Gefühl zu wecken, hinter der Oberfläche der Dinge verberge sich etwas unheimliches und zutiefst verdorbenes. In The Great God Pan zumindest sind damit eindeutig eindeutig die Mächte des Triebhaften und vor allem des Sexuellen gemeint. Machen scheint Sexualität – und insbesondere weibliche Sexualität – als etwas Bedrohliches wahrgenommen zu haben, und es ist ironisch, dass der Roman zur Zeit seines Erscheinens als 'skandalös' und 'unmoralisch' galt, obwohl er doch wie kaum ein anderes literarisches Werk die Furcht der viktorianischen Gesellschaft vor dem Sex zum Ausdruck bringt. Ohne Machens ganzes Werk auf dieses eine Thema reduzieren zu wollen, scheint mir in ihm doch auch der Schlüssel zu The White People zu liegen.
Das Mädchen beschreibt die Umstände unter denen sie dem 'Weißen Volk' zum ersten Mal begegnet ist, wie folgt: Ihr Kindermädchen habe sie durch die Felder zu einem 'dunklen und schattigen' Teich getragen. Plötzlich sei da ein großer Mann gewesen, und die beiden seien weggegangen und hätten sie alleine zurückgelassen. Kurz darauf seien aus dem Teich zwei weiße Gestalten – offenbar Mann und Frau – aufgetaucht, hätten gespielt, getanzt und gesungen. Darüber sei sie eingeschlafen, und als ihr Kindermädchen sie später geweckt habe, sei ihr aufgefallen, dass sie der 'weißen Dame' ähnelte.
Ließe sich diese Szene nicht sehr gut so deuten: Das Kindermädchen hatte sich mit ihrem Liebhaber im Wald verabredet. Die beiden lassen das kleine Mädchen allein zurück und verschwinden in den Büschen. Sie schlafen miteinander. Das Kind beobachtet sie dabei, ist verwirrt, verängstigt und fasziniert.
Wenn man einmal beginnt, die Erzählung unter diesem Blickwinkel zu betrachten, fällt einem auf, welch große Rolle die Themen 'Paar' und 'Liebschaft' bei den Ereignissen des 'Weißen Tages' spielen. Immer wieder greift die Erzählerin auf die Geschichten zurück, die ihr von ihrem Kindermädchen erzählt wurden, um zu interpretieren, was ihr in der fremdartigen und phantastischen Landschaft,. in die sich verirrt hat, widerfährt. In fast allen spielen Paare eine zentrale Rolle, sei es, dass ein Mädchen offenbar zur Braut des Teufels wird, ein Jäger zur Geliebten einer Fee, oder eine Hexe sich einen unmenschlichen Liebhaber herbeizaubert, um dessentwillen sie ihre menschlichen Bewerber ermordet. Aber das Motiv findet sich nicht nur in den Märchen. Kurz bevor sie den 'geheimen Wald' erreicht, durchquert die Erzählerin eine Hügellandschaft, in dessen Oberfläche sie zwei riesenhafte Gestalten zu erkennen glaubt: einen Mann und eine Frau, die sie als Adam und Eva bezeichnet, "and only those who know the story understand what they mean".
Arno Schmidt hätte an dieser Stelle vermutlich Freuds Traumdeutung hervorgeholt und für jedes landschaftliche Detail im Bericht des Mädchens nach einer angemessenen sexuellen Aufschlüsselung gesucht. Zu solch akribischer Arbeit fehlt mir die nötige Muße. Auch stehe ich dem guten Sigmund im Allgemeinen sehr viel kritischer gegenüber als Meister Arno. Dennoch könnte ich mir gut vorstellen, dass ein derartiges Unternehmen zu recht interessanten Ergebnissen führen würde.  Ich begnüge mich mit einigen eher offensichtlichen Indizien.
Der erste wichtige Ort, an den das Mädchen auf ihrer Wanderung gelangt, ist der Steinkreis. Hier erlebt sie eine Art mystische Verzückung und die Landschaft nimmt für sie zum ersten Mal eindeutig 'verwandelte' und 'belebte' Formen an. Im Zentrum dieses Kreises aber erhebt sich ein einzelner Stehender Stein. Ließe sich ein eindeutigeres Phallussymbol finden? Das brunnenartige Loch, in das das Mädchen später hineinkriecht und das sie an ein Märchen erinnert, in dem eine junge Frau in eben einem solchen Schacht zur Buhlin des Teufels wird, wäre dann das entsprechende Vaginasymbol. Über die auffällig zahlreichen schattigen Bäche hätte der gute Doktor Freud vielleicht auch etwas zu sagen gehabt, mir erscheint in diesem Zusammenhang vor allem eine Szene bedeutungsvoll. Von einer heftigen Gier nach dem Wasser gepackt, beginnt die Erzählerin plötzlich 'wie ein Tier' – ohne Zuhilfenahme ihrer Hände also – aus einem der Bäche zu trinken und hat dabei das Gefühl, dass sie von einer in den Wassern verborgenen Nymphe geküsst werde. Triebhaftigkeit, 'Animalität', sinnlicher Genuss, Erotik – all dies verbindet sich in dieser kleinen Szene.
Was also ist das 'Wunderbare' und 'Fremdartige', das das Mädchen in dem 'geheimen Wald' entdeckt, und was sie so tief erschüttert? Ist es gar zu weit hergeholt, darin ein Symbol für die Sexualität, ihre Sexualität zu sehen? Ambrose berichtet am Ende, es habe sich um eine weiße Marmorstatue aus römischer Zeit gehandelt. Wen sie dargestellt habe, sagt er nicht, aber in The Great God Pan steht die heidnische Antike für Sinnlichkeit, Sexualität und Verdorbenheit. Wir dürfen wohl annehmen, dass es sich hier ähnlich verhält.**

Kurz und gut – ich denke, dass man The White People als die Geschichte einer einsamen und vernachlässigten Heranwachsenden interpretieren kann, die dabei ist, ihre eigene Sexualität zu entdecken und dies als zugleich verwirrend, furchteinflößend und schön empfindet. Dazu würde auch passen, dass die Erzählerin sich ganz am Ende mit der 'weißen Lady' zu identifizieren scheint:
I went a second time to the secret place. It was at the deep brimming well, and when I was standing on the moss I bent over and looked in, and then I knew who the white lady was that I had seen come out of the water in the wood long ago when I was quite little. And I trembled all over, because that told me other things. Then I remembered how sometime after I had seen the white people in the wood, nurse asked me more about them, and I told her all over again, and she listened, and said nothing for a long, long time, and at last she said, "You will see her again." So I understood what had happened and what was to happen. And I understood about the nymphs; how I might meet them in all kinds of places, and they would always help me, and I must always look for them, and find them in all sorts of strange shapes and appearances. And without the nymphs I could never have found the secret, and without them none of the other things could happen. Nurse had told me all about them long ago, but she called them by another name, and I did not know what she meant, or what her tales of them were about, only that they were very queer. And there were two kinds, the bright and the dark, and both were very lovely and very wonderful, and some people saw only one kind, and some only the other, but some saw them both. But usually the dark appeared first, and the bright ones came afterwards, and there were extraordinary tales about them. It was a day or two after I had come home from the secret place that I first really knew the nymphs. Nurse had shown me how to call them, and I had tried, but I did not know what she meant, and so I thought it was all nonsense. But I made up my mind I would try again, so I went to the wood where the pool was, where I saw the white people, and I tried again. The dark nymph, Alanna, came, and she turned the pool of water into a pool of fire. . . .
Mancher findet das vielleicht an den Haaren herbeigezogen, aber ich sehe in dieser Schlusspassage des Berichtes die symbolische Schilderung eines sexuellen Erwachens.

Wohl gemerkt will ich nicht behaupten, Arthur Machen habe seine Erzählung bewusst konzipiert als Geschichte über ein pubertierendes Mädchen, das seine eigene Sexualität entdeckt. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass dies ganz und gar nicht sein Anliegen war. Aber manchmal führt halt das Unterbewusstsein des Autors die Feder. Und wie The White People zeigt, können dabei wahre Meisterwerke entstehen.


* Brief an H.P. Lovecraft (~ 27. Januar 1931). In: David E. Schultz & Scott Connors (Hg.): Selected Letters of Clark Ashton Smith. S. 145.
** Nebenbei bemerkt lässt sich eine von Clark Ashton Smiths Averoigne-Stories – The Disinterment of Venus   in diesem Zusammenhang sehr gut als eine humorvolle Absage an Arthur Machens neurotische, religiös verbrämte Sexfeindlichkeit lesen.