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Dienstag, 27. August 2024

Valerie und ihre Woche der Wunder (1)

Wann genau ich zum ersten Mal Jaromil Jireš's Film Valerie a týden divů (Valerie and Her Week of Wonders) gesehen habe, weiß ich nicht mehr, aber es liegt sicher deutlich mehr als fünf Jahre zurück. Jedenfalls schlug mich der surrealistisch anmutende tschechoslowakische "Märchenfilm" aus dem Jahr 1970 umgehend in seinen Bann und er erhielt sofort einen besonderen Platz in meinem Pantheon der "anderen" Fantasyfilme. Auch fühlte ich mich bei der Sichtung an Company of Wolves (1984) von Neil Jordan & Angela Carter sowie an Lemora: A Child's Tale of the Supernatural (1972) von Richard Blackburn erinnert, benutzen doch alle drei die Stilmittel des Unheimlichen und Phantastischen, um das sexuelle Erwachen eines jungen Mädchens darzustellen. 
 
 
Schon damals hatte ich begonnen, einen Blogbeitrag über Valerie zu schreiben, doch wie manch andere auch blieb er schließlich unvollendet liegen, ohne dass es dafür irgendwelche speziellen Gründe gegeben hätte. Als ich mich vor ein paar Monaten daranmachte, dieses Projekt endlich erneut anzugehen, zeigte sich sehr schnell, dass das Ganze weit über eine bloße Filmbesprechung hinauswuchern würde. Weshalb ich mich letztenendes auch dazu entschlossen habe, den Beitrag in (voraussichtlich) vier Teile aufzusplitten. Auch wenn dabei immer die Gefahr besteht, dass die Fertigstellung und Veröffentlichung des Ganzen sich über Monate hinziehen kann. 
 
Das Drehbuch von Ester Krumbachová und Jaromil Jireš basiert auf dem gleichnamigen, 1935 geschriebenen (aber erst 1945 veröffentlichten) Roman von Vítězslav Nezval. Nezval war einer der führenden Vertreter der tschechoslowakischen Avantgarde der 20er und 30er Jahre. Als er Valerie schrieb, war er Mitglied der Surrealistischen Gruppe, doch war dies nur eine Etappe auf einem langen Entwicklungsweg. Zusammen mit Karel Teige war er in den 20ern vor allem einer der führenden Köpfe der Künstlergruppe Devětsil ("Pestwurz") und der mit ihr verbundenen Strömung des Poetismus gewesen.
 
Schon lange bevor ich mir schließlich eine englische Übersetzung von Valerie a týden divů besorgte (eine deutschsprachige scheint es nicht zu geben.*), war klar, dass ich da in ein sehr tiefes Kaninchenloch gestolpert war. 
Ich hatte immer schon ein Faible für die Avantgarde-Strömungen der Zwischenkriegszeit. In all ihrer Komplexität, Vielgestaltigkeit, teilweise auch Widersprüchlichkeit waren sie Produkt einer Ära heftigster gesellschaftlicher Kämpfe und Umbrüche, als Revolution keine ferne Zukunftsperspektive, sondern eine aktuelle Realität war, und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft kein utopischer Traum, sondern eine unmittelbar bevorstehende Aufgabe zu sein schien. Jede erneute Beschäftigung mit ihnen weckt zugleich Faszination und Frustration in mir. Da ist einerseits die beeindruckende und inspirierende Weite und Leidenschaftlichkeit der Vision. Doch andererseits muss man jedesmal miterleben, wie diese schließlich an der zwiefachen Gewalt von Faschismus und Stalinismus zerbricht. 
Diese historische Tragik fand ihren Ausdruck auch in den persönlichen Biographien von Nezval und Teige. Während ersterer sein Leben als stalinistischer Kulturappartschik beendete, wurde letzterer, als "degenerierter Trotzkist" gebrandmarkt, zum Opfer einer wüsten Hetzkampagne und erlag schließlich -- isoliert, aber ungebrochen -- 1951 einem Herzinfarkt. 
 
Allerdings hatte ich mich bislang noch nie so richtig mit der tschechoslowakischen Kulturwelt der 20er und 30er Jahre beschäftigt. Wenn man von der Lektüre des Braven Soldaten Schwejk von Jaroslav Hašek und einiger Werke von Karel Čapek wie R.U.R. (Rossumovi Univerzální Roboti) und Der Krieg mit den Molchen einmal absieht. (1) Und auch wenn Gruppen wie Devětsil in ihrem Selbstverständnis und zum Teil auch in ihrer Formensprache und Ideologie internationalistisch ausgerichtet waren, mit zahlreichen Verbindungen und Parallelen zu Strömungen wie dem Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus, besaßen sie doch ihre eigene individuelle Prägung. Was zwar einerseits bedeutet, dass ich während meiner Recherche viele spannende Neuentdeckungen machen konnte, andererseits aber auch, dass mein Verständnis notwendigerweise sehr bruchstückhaft geblieben ist. Das möge man bei der Lektüre dieses Essays bitte immer im Hinterkopf behalten.
 
(1)
 
Um eine künstlerische Strömung zu verstehen und richtig einzuordnen, ist es stets nötig, ihre Entstehung und Entwicklung im gesellschaftlichen Kontext ihrer Zeit zu betrachten. Denn ganz gleich wie bewusst das den Beteiligten sein mag, sie ist doch immer eine Reaktion auf die soziale Wirklichkeit. Bevor wir uns Devětsil und den Poetismus etwas genauer anschauen, wollen wir deshalb zuerst einmal versuchen, uns ein Bild vom Charakter der Tschechoslowakei der 20er und 30er Jahre zu machen.   
 
Die Ära der ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-38) unter Tomáš Masaryk und Edvard Beneš wird oft als eine Blütezeit liberaler Demokratie verherrlicht. Dieses verklärte Bild entstand nicht erst im Rückblick und in Reaktion auf das stalinistische Regime, das mit dem Staatsstreich von 1948 etabliert wurde und 1989/90 fiel,  sondern war auch unter Zeitgenossen durchaus verbreitet. Als Beispiel mag der leicht hagiographisch anmutende Ton dienen, den Klaus Mann 1937 im Zusammenhang mit einem privaten Präsidentenempfang auf dem Hradschin anschlug. In seinem Artikel Eine Stunde mit Beneš verklärt er dessen Vorgänger und Mentor Masaryk zum "Staatsmann-Philosophen" und schreibt:
Glücklich die wenigen, die bevorzugten Länder, wo die Verantwortung über das Schicksal der Gesellschaft in die Hände eines  geistigen Menschen gelegt ist:  wo Macht und Geist -- in Deutschland seit eh und je so unheilvoll voneinander getrennt -- miteinander identisch werden; zum Segen der Nation, deren politischer Instinkt den Intellektuellen, den Geistesmenschen an die Spitze rief. (2) 
Natürlich darf man dabei den historischen Kontext nicht außer Acht lassen. Umgeben von Hitler-Deutschland und dem austrofaschistischen Ständestaat (Dollfuß, Schuschnigg) im Westen, Horthy-Ungarn im Süden und dem autoritären polnischen Regime im Osten musste die Tschechoslowakei der Mitt-30er in der Tat wie eine Oase der Freiheit wirken. Und war als solche ein wichtiger Zufluchtsort und Stützpunkt für die deutsche antifaschistische Emigration und den Widerstand. Hier erschienen von 1933-38 u.a. Die neue Weltbühne und die A.I.Z. (mit Heartfields berühmten Fotomontagen). Prag war der Sitz der Exil-Führung der SPD (SoPaDe). Von hier aus wurden vor allem in den ersten Jahren der Nazidiktatur über sechs sog. "Grenzsekretariate" sozialistische Propagandamaterialien ins Reich geschmuggelt, Netzwerke des Widerstands organisiert und der Kontakt zu den Genoss*innen im Untergrund aufrechterhalten.
 
Auch war 1936 sowohl Thomas als auch Heinrich Mann die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verliehen worden, obwohl sie nicht dort lebten.
 
Zudem scheinen Masaryk und Beneš Vertreter eines Typs bürgerlicher Politiker gewesen zu sein, der schon zu ihrer Zeit eine Seltenheit geworden war: Gebildet, kultiviert und den Idealen der Aufklärung verbunden. (3) Man kann Klaus Mann gut verstehen, wenn er über Karel Čapeks Masaryk erzählt sein Leben schreibt, die Erinnerungen des Präsidenten stimmten ihn "wehmütig, weil sie mich an den 'grand old man' des Deutschen Reiches, an den General von Hindenburg denken lassen". (4) Manns Verklärung des "Geistesmenschen" als nationalen Führers mag etwas fragwürdig erscheinen, aber wenn die Alternative aus einem halbsenilen, blutbesudelten Weltkriegsgeneral bestand, ist seine etwas naive Begeisterung nachvollziehbar. (5) 

Dennoch ist dieses verklärte Bild der tschechoslowaischen Demokratie zumindest sehr einseitig. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Entstehung der Republik, um so ein besseres Verständnis ihres sozialen Inhalts zu erlangen.
 
Otto Bauer, einer der führenden Vertreter des Austromarxismus, schrieb in seinem 1923 erschienenen Buch Die Österreichische Revolution über die "nationalen Revolutionen", die das Ende des Habsburgerreiches besiegelt hatten:
In der Tschechoslowakei, in Jugoslawien, in Polen hatten Bourgeoisie und Proletariat gemeinsam um die nationale Befreiung gekämpft. Der gemeinsam errungene Sieg ordnete das Proletariat vorerst vollständig der nationalen Idee der nationalen Bourgeoisie unter. Im Triumph des errungenen nationalen Sieges fand das Proletariat in. den Revolutionsmonaten volle Befriedigung in der Aufrichtung, im Ausbau, in der Befestigung des nationalen Gemeinwesens. Es drängte über die Schranken einer bürgerlichen, nationalen Revolution nicht hinaus.
Richtig ist, dass das von  Karel Kramář angeführte bürgerliche Nationalkomitee und der von den Sozialdemokraten gebildete Sozialistische Rat in den Wochen vor der Unabhängigkeit häufig zusammenarbeiteten. Doch die Arbeiterklasse spielte eine nicht unwichtige selbstständige Rolle im Kampf gegen die K.u.K. - Monarchie.  Zu den ersten Massendemonstrationen unter republikanischer Parole war es im Zuge des Generalstreiks vom 14. Oktober 1918 gekommen. Mancherorts hatte man dabei bereits monarchistische Embleme von öffentlichen Gebäuden gerissen und die Republik proklamiert. Doch das Nationalkomitee hielt sich zurück und Militär und Polizei vermochten die Bewegung noch einmal zu bändigen. Zwei Wochen später führte dann der Prager Umsturz zur Unabhängigkeitserklärung und zur Machtübernahme durch eine bürgerliche Regierung unter Kramář, in enger Absprache mit der Auslandsführung um Masaryk und den Entente-Mächten.
 
Masaryk hatte in seinem 1918 erschienenen Buch Das neue Europa das utopische Bild einer quasi "klassenlosen" Demokratie entworfen:
Die Demokratie ist die Organisation der Gesellschaft, welche auf Arbeit beruht; in ihr gibt es keine Individuen und Klassen, welche die Arbeit der anderen ausbeuten; der demokratische Staat ist ohne Militarismus, ohne geheime Diplomatie; die Außen- und Innenpolitik unterliegt der Kritik und der Verwaltung des Parlamentes. (6)
Die Realität des aus dem Umsturz hervorgegangenen bürgerlichen Staates sah selbstverständlich ganz anders aus. Und auch wenn der patriotische Überschwang der "nationalen Befreiung" die Klassengegensätze für den Augenblick vielleicht zu übertünchen vermochte -- aufgehoben waren sie dadurch natürlich nicht.
 
Ohne Zweifel herrschte unter den breiten Massen der Bevölkerung die Erwartung, dass es mit dem Ende der nationalen Unterdrückung auch zu einer Wende hin zu größerer sozialer Gerechtigkeit kommen werde. Zumal in den Reihen der tschechischen Arbeiterklasse starke sozialistische und syndikalistische Traditionen existierten. Die bürgerliche Regierung sah sich deshalb alsbald zu einer Reihe von Zugeständnissen wie der Einführung des Achtstunden-Tages gezwungen. Zugleich versuchte sie, der neuen Ordnung mit der im Frühling 1919 initiierten Landreform ein breiteres soziales Fundament zu verschaffen. Auch wenn es sich bei dieser wohl nicht um jene "demokratische" Umwälzung im Interesse der ärmsten Teile der ländlichen Bevölkerung handelte, zu der sie in der Geschichtsschreibung manchmal verklärt worden ist. (7) 

Keine dieser Maßnahmen trug die erwünschten Früchte. Vielmehr machten die Parlamentswahlen von 1920 die Sozialdemokraten zur stärksten Kraft, während sie Kramářs Nationaldemokraten zur politischen Bedeutungslosigkeit verdammten. Derweil tobte in der Sozialdemokratischen Partei selbst ein heftiger Konflikt, wie wir ihn zur selben Zeit ähnlich u.a. in der französischen Sozialistischen Partei und der deutschen USPD beobachten können. Während die Mehrheit der alten Führung an einer "nationalen" Koalition mit bürgerlichen Kräften festhielt, wurde der Druck von unten immer stärker, mit dieser Politik zu brechen und der Partei eine revolutionäre Ausrichtung zu verleihen. Dabei spielte das Vorbild der russischen Oktoberrevolution eine entscheidende Rolle. Wie die Aktivistin Marie Švermová in ihren Memoiren erzählt:
To us, the youth, the proletarian revolution meant a solution to all the problems. We saw in it the fullest sense of our lives. We heard how the workers and peasants took power in Russia. It is no exaggeration to say that we were determined to sacrifice everything (8)
Entsprechend bemühten sich die jungen Radikalen u.a. darum, einen Boykott der Lieferung von Kriegsmaterial an das polnische Pilsudski-Regime zu organisieren, das sich seit 1919 im offenen Kampf mit der jungen Sowjetrepublik befand.
  
Allerdings wird man an dieser Stelle festhalten müssen, dass im Unterschied zu anderen Teilen des ehemaligen Habsburgerreiches wie Wien oder Ungarn Arbeiter- und Soldaten-Räte selbst während der Umbruchsmonate in der Tschechoslowakei anscheinend keine weite Verbreitung gefunden hatten. Als sich im Frühjahr 1920 der "Bund Kommunistischer Gruppen" von der revolutionär-syndikalistischen Bergarbeitergewerkschaft SČH (Sdružení československých horníků) abspalterte, sah die Organisation eines ihrer vorrangigen Ziele darin "to explain and spread the institution of workers', rural and military soviets, get the proletariat acquainted with the constitution of the soviet republic". (9) Was wohl dafür spricht, dass diese revolutionäre Organisationsform auf tschechischem Gebiet nicht (oder nur selten) spontan entstanden war. Die extrem kurzlebige Slowakische Räterepublik (16. Juni - 7. Juli 1919) verdankte ihre Existenz ganz dem zeitweiligen Vorstoß der ungarischen Roten Armee und war Episode geblieben.
 
Wenn sich die bürgerliche Ordnung mit Ausgang des Weltkrieges in der Tschechoslowakei also weniger stark erschüttert zeigte als anderswo, dann war dafür neben dem patriotischen Taumel die wirtschaftliche Lage verantwortlich. Zwar hatte der junge Staat in den ersten Monaten seines Bestehens mit rasch anwachsender Inflation zu kämpfen, doch alles in allem sah die Situation weit weniger desolat aus als in anderen Teilen der ehemaligen K.u.K.-Monarchie. Als der französische revolutionäre Syndikalist und spätere Anhänger der Internationalen Linken Opposition Alfred Rosmer im Mai (?) 1920 auf dem Weg zum zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale von Wien kommend in Prag Zwischenstation machte, bot sich ihm folgendes Bild:
Nach Wien bot Prag einen schroffen Gegensatz: Überfluss anstelle des Elends, Heiterkeit nach der resignierenden Traurigkeit. Die Läden waren mit Waren überfüllt: der neue Staat war unter den günstigsten Bedingungen entstanden, soweit man das nach den Eindrücken eines Tages beurteilen konnte (...) Obwohl mich die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit nie angezogen hatte, so hatte doch die freudige Lebenskraft, die von dieser jungen begünstigten Nation ausging, eine sympathische Seite. (10)
Dennoch wäre es falsch zu glauben, die Tschechoslowakei sei ein Hort der Ruhe und Stabilität inmitten des von revolutionären Unruhen und heftigen Klassenkämpfen erschütterten Europas der unmittelbaren Nachkriegszeit gewesen. Seinen wohl schärfsten Ausdruck fand dies im semi-insurrektionären Generalstreik, der ein halbes Jahr nach Rosmers Stippvisite am 11. Dezember 1920 ausbrach und in dessen Verlauf linkssozialistische und anarchistische Militante in Kladno die Räterepublik ausriefen. Die demokratische Regierung reagierte darauf mit denselben Methoden, mit denen der österreichische Absolutismus dem Streik vom 14. Oktober 1918 begegnet war. (11) Dreizehn Arbeiter wurden erschossen, 5.000 verhaftet, 500 für längere Zeit ins Gefängnis geworfen. Die bürgerliche Öffentlichkeit feierte die Niederschlagung des Generalstreiks als das Brechen der "roten Flut des Bolschewismus". Selbst im fernen Amerika jubelte die New York Times: "There was another setback for the great Red Crusade recently and at a point of considerable strategic importance. ... A Bolshevist revolution here (in Czechoslovakia) would have unsettled all Central Europe and had serious repercussions everywhere east of the Rhine".
 
Die junge Republik als eine Art Bollwerk gegen den Kommunismus zu betrachten, entsprach übrigens ganz den Vorstellungen Masaryks. Dieser hatte während seine Exils im Ersten Weltkrieg enge Beziehungen zu führenden Vertretern der westlichen Großmächte geknüpft. Deren Sympathie für die "tschechoslowakische Sache" erhielt einen mächtigen Anstoß, als sich im Mai 1918 die in Russland "gestrandete" Tschechoslowakische Legion auf die Seite der weißgardistischen Konterrevolution schlug. Ohne die Rückendeckung der Entente wäre es sicher nicht zu der raschen und weitgehend widerstandslosen Etablierung der Unabhängigkeit gekommen. Insbesondere Frankreich war so etwas wie die Schutzmacht des neuen Regimes und spielte z.B. eine zentrale Rolle beim Aufbau einer nationalen Armee. Bis 1925 war der Chef des Generalstabs der französische General Eugène Mittelhauser. Und um noch einmal Rosmer zu zitieren:
Von allen Nationen hatte sich das Frankreich Clemenceaus und Poincarés am wütendsten gegenüber der Sowjet-Republik gezeigt. Clemenceau hatte sich dessen gerühmt, dass er sie von der übrigen Welt abschneiden würde; er behandelte sie wie einen Pestkranken, der von einem "Sperrgürtel" eingeschlossen sein müsste, um ihn zu ersticken und gleichzeitig die Völker vor der Ansteckung zu bewahren. (12) 
Die Tschechoslowakei bildete einen zentralen Bestandteil dieses "Cordon Sanitaire", wie auch später der sogenannten Kleinen Entente. (13)
 
Innenpolitisch wurde dies begleitet von einer Reihe repressiver Maßnahmen unterschiedlicher Intensität, die sich in erster Linie gegen die Kommunistische Partei richteten, die im Mai 1921 aus der Verschmelzung des linken Flügels der Sozialdemokraten mit Teilen kleinerer radikaler Gruppen entstand. Doch natürlich hatten auch Anarchisten und andere revolutionäre Linke unter ihnen zu leiden. 
Dennoch gelang es der KP im weiteren Verlauf zu einer der stärksten Parteien des Landes anzuwachsen. In den Parlamentswahlen von 1925 wurde sie mit 13,14% der Stimmen und 41 Sitzen zur zweitstärksten Fraktion, und gegen Ende der 20er Jahre besaß sie halboffiziellen Angaben zufolge 138.000 Mitglieder und war damit die größte KP außerhalb der Sowjetunion. 
 
Dieser beachtliche Erfolg der Kommunisten ist ein deutliches Anzeichen dafür,  dass die bürgerliche Demokratie über kein sonderlich solides soziales Fundament verfügte. 
Auf andere Art zeigte sich das auch in der Entstehung faschistischer Bewegungen wie der tschechischen NOF (Národní obec fašistická), der sudetendeutschen Nazis und Andrej Hlinkas slowakischer SLS (Slovenská ľudová strana), die ab 1939 dann auch das Personal für das slowakische Marionettenregime von Hitlers Gnaden stellen würde.
Aber auch das republikanische Regime selbst besaß eine Reihe von Zügen, die auf seine soziale Instabilität hindeuteten. So wurde die Politik der Ersten Tschechoslowakischen Republik stark von der in keiner Weise parlamentarisch legitimierten Gruppe der "Fünf" ("Pětka") dominiert. Masaryk erklärte 1925 ganz offen, dass eine solche "Regierung von Experten" eine (wenn auch unerwünschte) Notwendigkeit darstelle, solange die Bevölkerung noch nicht "reif" genug für eine reine Demokratie sei: 
Our difficulties arise from the high demands of democracy, which requires a body of citizens who are truly educated in the political sense, and an intelligent electorate, both men and women. Hence I am not in favour of government by experts or officials. [...] Problems, however, are solved by people who think and possess knowledge, and are not merely elected.
Daneben bemühte Masayrk sich, mit Bildung der informellen Gruppe des "Hrad" (der "Burg") entgegen dem Text der Verfassung möglichst viel Macht auf das Präsidentenamt (also sich selbst) zu konzentrieren. Zentraler Bestandteil dieser "Hausmacht" war bezeichnenderweise der Veteranenverband der Tschechoslowakischen Legion (Československá obec legionářská) und die mit ihm verbundene Legiobanka
Das liberale Regime trug also von Beginn an leicht bonapartistische Züge, die sich unter Beneš dann noch weiter verschärften.    
 
Ein weiterer Aspekt, der einen zu Korrekturen am Bild der "Musterdemokratie" zwingt, ist ironischerweise ausgerechnet die "nationale Frage". Die Tschechoslowakische Republik war unter dem Banner der "nationalen Befreiung" gegründet worden. Doch ihr Staatsgebiet, dessen Grenzen von den Entente-Mächten im Vertrag von Trianon (1920) endgültig festgeschrieben wurden und die von der neuen bürgerlichen Elite z.T. mit Waffengewalt "gesichert" worden waren, umfassten nicht wenige nationale Minderheiten. Ganz wie das alte Habsburgerreich war auch die junge Republik ein Vielvölkerstaat. Zwar wandte sich Masayrk sehr deutlich gegen den krassen tschechischen Chauvinismus von Karel Kramář, aber von einer wirklichen Gleichstellung der Völkerschaften konnte auch unter ihm nicht die Rede sein. Schon in seiner ersten Rede als Präsident hatte er der Idee der jungen Republik als eines "Nationalitätenstaates" eine klare Absage erteilt. Nutznießer der neuen Ordnung waren beinah ausschließlich Vertreter des tschechischen Bürger- und Kleinbürgertums. Trotz der offiziellen Doktrin des "Tschechoslowakismus" blieben die Slowaken extrem marginalisiert. Die in der Verfassung von 1920 festgeschriebenen Regelungen über die "Autonomie" der nationalen Minderheiten wurden wenn überhaupt nur sehr zögerlich umgesetzt, die nationalen Rechte von Sudetendeutschen, Magyaren, Polen und Russinen (Ruthenen) immer wieder grob verletzt. In einigen Regionen war die Geburt der Republik von antijüdischen Ausschreitungen begleitet worden, deren wohl bekannteste der Pogrom von  Holešov im Dezember 1918 gewesen war. Und auch unter dem Deckmantel der liberalen Ordnung wucherte der Antisemitismus munter weiter (14). Im November 1920 beschrieb Franz Kafka in einem seiner Briefe an Milena Jesenská die Lage in Prag mit folgenden Worten: "Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhass. ‘Prasivé plenemo’ [„Räudige Rasse“] habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören." (15) Anlass waren auch hier pogromartige Ausschreitungen. Und nicht zuletzt erließ die Regierung ab 1926 eine Reihe diskriminierender Gesetze gegen die "vagabundierenden" Roma.
 
Selbstverständlich hätte auch eine siegreiche sozialistische Revolution die gerade in Mittel- und Osteuropa so vielgestaltige "nationale Frage" nicht auf einen Schlag und zur vollsten Zufriedenheit aller Beteiligten lösen können. Nationale Borniertheit und nationaler Chauvinismus sind zählebige Ungeheuer. Aber sie hätte zumindest die Rahmenbedingungen schaffen können, unter denen es möglich gewesen wäre, sie auf demokratische und erfolgversprechende Weise anzugehen. Der Fortbestand des Kapitalismus hingegen machte dies von vornherein unmöglich. In all den neuentstandenen Staaten brauchte die bürgerliche Elite das Gift des Nationalismus. Zum einen, um ihre gerade erst gewonnene Herrschaft gegenüber der eigenen Bevölkerung zu legitimieren. Zum anderen, um ihren Macht- und Wirtschaftsinteressen ein patriotisches Deckmäntelchen zu verpassen, wenn es darum ging, im Konkurrenzkampf mit den Nachbarn möglichst große Brocken aus den Kadavern der Reiche von Kaiser, Zar und Sultan zu reißen. (16) Lenin hatte sicher recht, wenn er betonte, man müsse "zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden Nation und dem Nationalismus einer unterdrückten Nation, zwischen dem Nationalismus einer großen Nation und dem Nationalismus einer kleinen Nation" (17) unterscheiden. Aber eine der bitteren historischen Lektionen des 20. Jahrhunderts ist es, erkennen zu müssen, wie schnell der Unterdrückte zum Unterdrücker werden kann.  
 
Anders als der altväterliche, panslawistisch angehauchte Nationalismus, wie ihn Kramář noch vertreten hatte (18), sah die "moderne" Variante, wie sie Masaryk und Beneš verkörperten, die tschechische Nation als eine Fackelträgerin "westlich-freiheitlich-europäischer Werte". Das mag erst einmal progressiver klingen, aber die Abwendung vom Panslawismus ging sehr oft mit der Übernahme eines quasi-kolonialistischen "westlichen" Überlegenheitsdünkels einher. Vor allem gegenüber den "primitven" Slowaken und Russinen (Ruthenen), die den östlichen, fast ganz agrarisch geprägten Teil der Republik bewohnten. Die Bemerkungen eines tschechischen Geographen, der 1924 in dieser Region arbeitete, lassen diese Haltung sehr schön erkennen: "We bring order, discipline, Western European democracy, and culture to this land of former oriental chaos and disorder" (19). Eine exotistisch-romantisierende Sicht der Slowakei als "bäuerliches Idyll" wie in Karel/Karol Plickas Film Die Erde singt (Zem spieva, 1933) kann bei aller Ambivalenz als ein "freundlicher" Ausdruck dieser Haltung interpretiert werden. Aber natürlich gab es auch sehr viel weniger "nette" Varianten. Und wenn gar die Tschechoslowakei zum Bollwerk der "europäischen Zivilisation" gegen die "barbarisch-asiatischen" Horden des Bolschewismus erklärt wurde, gingen Nationalismus, Rassismus und Antikommunismus eine besonders gifitige Verbindung ein.   


Im nächsten Teil werden wir uns dann etwas eingehender mit Devětsil, dem Poetismus und der tschechoslowakischen Avantgarde beschäftigen.

 

 

EDIT: Offenbar ist 2018 eine Übersetzung von Ondřej Cikán unter dem Titel Valerie und die Woche der Wunder – Poetistischer Schauerroman erschienen

(1) Franz Kafka lasse ich hier mal außen vor. Weniger aufgrund der Deutschsprachigkeit seines Werkes, als vielmehr weil dessen Hauptteil einer etwas früheren Ära angehört.

(2) Klaus Mann: Eine Stunde mit Beneš. In: Ders.: Das Wunder von Madrid. Aufsätze, Reden, Kritiken 1936-1938. S. 183.

(3) Mit dieser Charakterisierung beziehe ich mich ausschließlich auf die 20er/30er Jahre. Schließlich sollte Beneš später zu einem engen Verbündeten Stalins werden, der wohl auch persönlich einen freundschaftlichen Umgang mit dem Diktator pflegte, was ihn in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt. 
Die Präsidentschaft von Václav Havel (1989-2003) wurde oft als eine Art Wiedergeburt dieser Tradition dargestellt, doch ließe sie sich eher als eine Karrikatur derselben charakterisieren. Während Masaryk den Eindruck eines zu spät gekommenen Vertreters der bürgerlich-revolutionären Ideale von Freiheit, Fortschritt und Humanität macht, war Havel als Intellektueller Proponent eines antiaufklärerischen, zivilisationspessimistischen und letztlich obskurantistischen Weltbildes.     

(4) Klaus Mann: Krankheit und Gesundheit. In: Ders.: Das Wunder von Madrid. S. 189.

(5) Ein weiteres anschauliches Beispiel für diese Idealisierung Masaryks ist Oskar Kokoschkas 1935/36 enstandene Porträt des Präsidenten, in dem der Maler, der 1934 nach Prag emigriert war, diesen als den Erben der Traditionen des Reformators Jan Hus und des Humanisten Jan Amos Komenský darstellt. Vgl.: Christian Drobe: Charles Bridge in Prague by Oskar Kokoschka (1934).

(6) Zit. nach: Peter Ludewigs Nachwort zu: Vítězslav Nezval / Karel Teige: Depesche auf Rädern. Theatertexte 1922-1927. S. 92. 

(7) Vgl.: Antonie Doležalová: A stolen revolution. The political economy of the land reform in interwar Czechoslovakia.

(8) Zit. nach: Bohumil Melichar: Karlín and Kings Road: Two Different Worlds. A Comparison of the Political Success of Communist Party of Czechoslovakia and Communist Party of Great Britain between the World Wars. S. 98.

(9) Zit. nach: Ladislav Cabada & Zdenek Benedikt: Intellectuals and the Communist Idea: The Search for a New Way in Czech Lands from 1890 to 1938. S. 44.

(10) Alfred Rosmer: Moskau zu Lenins Zeiten. S. 40.

(11) Der Generalstreik war nebenbei bemerkt auch der Anlass für die Rückkehr von Jaroslav Hašek, des späteren Verfassers des Braven Soldaten Schwejk, aus Sowjetrussland in die Heimat, wo er im Auftrag der Bolschewiki bei der Organisation eines revolutionären Aufstands helfen sollte. Als er in der Tschechoslowakei eintraf, hatten sich die entsprechenden Hoffnungen allerdings bereits zerschlagen. 

(12) Ebd. S. 29.

(13) Was sie freilich nicht davor bewahren sollte, von ihren "Schutzherren" 1938 im Münchner Abkommen Hitler als Schlachtopfer dargebracht zu werden. Treue und Dankbarkeit gehörten noch nie zu den Tugenden des Imperialismus.

(14) Der Antisemitismus hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in Reaktion auf das Erstarken der sozialistischen Arbeiterbewegung Eingang in den "tschechischen politischen Diskurs" gefunden. Wie der Historiker Michal Frankl erklärt, gelangten durch die Reichsratswahlen von 1897, bei denen zum ersten Mal "ein Teil der Abgeordneten durch allgemeine Wahlen bestimmt" wurde, "auch einige sozialdemokratische Abgeordnete nach Wien. Das hatte wiederum zur Folge, dass sowohl die katholischen Politiker als auch die tschechischen Nationalisten gegen die Sozialdemokratie mobilisierten, und zwar mit Hilfe des Antisemitismus. Das bedeutet: Die Juden wurden als die Verschwörer, die Wortführer hinter den Kulissen der Sozialdemokratie dargestellt. Sie sollen versucht haben, durch den Sozialismus die Integrität der tschechischen nationalen Bewegung zu unterminieren und zu zerstören, um die Welt besser beherrschen zu können. So etablierte sich der Antisemitismus wirklich im Zentrum des politischen Diskurses." In diesem Kontext muss auch der "Ritualmord"-Prozess gegen Leopold Hilsner gesehen werden, der 1899 zur Aufstachelung des Judenhasses organisiert wurde. Masaryk, zu dieser Zeit Professor an der Karlsuniversität, zeigte sich dabei von seiner besten Seite und bezog sehr deutlich Position für den Angeklagten.

(15) Franz Kafka: Briefe an Milena. S. 184.

(16) Ähnliches konnte man aus vergleichbaren Gründen nach dem Zusammenbruch des Stalinismus beobachten, als sich die zu einem Großteil aus der alten Kaste der Apparatschiks hervorgegangenen neuen kapitalistischen Eliten der Oligarchen und Kleptokraten um die Beute balgten.

(17) Wladimir I. Lenin: Zur Frage der Nationalitäten oder der „Autonomisierung“.

(18) Zu Beginn des Weltkrieges hatte dieser noch von der Wiedererrichtung eines böhmischen Königreiches unter der Schutzherrschaft des Zaren geträumt.

(19) Zit. nach: Marta Filipová: The creation of Czechoslovakia and its identity politics.

Mittwoch, 14. August 2024

Let Me Tell You Of The Days Of High Adventure

Far Away & Never von Ramsey Campbell

Vor einigen Wochen beglückte mich der Besuch des Weinheimer Öffentlichen Bücherschrankes mit dem Fund des alten Goldmann - Fantasy - Bändchens Atlantis ist überall. 1981 veröffentlicht enthält dasselbe eine Auswahl von Geschichten, die ursprünglich 1977/78 in Andrew Offutts berühmter Sword & Sorcery - Anthologien - Reihe Swords Against Darkness erschienen waren. Neben nostalgischen Gefühlen* war es vor allem ein Grund, der mich nicht zögern ließ, zuzugreifen: Mit Die Schwingen des Grauens (The Pit of Wings) enthält der Band die meines Wissens einzige S&S - Story aus der Feder von Ramsey Campbell, die je ins Deutsche übertragen wurde.

Schon seit längerem hatte ich mich mit dem Gedanken getragen, einmal jene relativ kurze Periode in Campbells Karriere in Augenschein zu nehmen, als sich der britische Schriftsteller, der ja hauptsächlich als Horrorautor bekannt ist, nebenbei auch der Heroic Fantasy gewidmet hatte. 
 
DMR Books ist ein Verlag, der mit seinen "Classic Reprints" ganz allgemein viel Löbliches für Freund*innen von Pulp-Phantastik und Sword & Sorcery leistet. 2021 ist dort auch eine Neuauflage des erstmals 1996 bei Necronomicon Press erschienen Sammelbandes Far Away & Never veröffentlicht worden, der alle entsprechenden Stories von Campbell enthält -- zusätzlich erweitert um die Kurzgeschichte A Madness from the Vaults. Nachdem die Lektüre von Die Schwingen des Grauens mein Interesse erneut angefacht hatte, dauerte es nicht lang und ich schickte eine entsprechende Bestellung raus.
 
 
Bevor wir uns dem Inhalt zuwenden, möchte ich aber vorausschicken, dass ich aus eigener Leseerfahrung neben einigen Kurzgeschichten bloß drei von Campbells Romanen der 80er (Besessen/Obsession, Der hungrige Mond/The Hungry Moon und Unter Einfluss/The Influence) kenne. Und auch deren Lektüre liegt bereits etliche Jährchen zurück. Ich befinde mich also in keiner Position, um bestimmen zu können, wie seine Sword & Sorcery in sprachlich-stilistischer oder motivisch-inhaltlicher Hinsicht in sein Gesamtwerk einzuordnen ist. 
 
Ramsey Campbells Karriere als professioneller Schriftsteller begann 1962 mit der Veröffentlichung seiner Kurzgeschichte The Church in High Street in der Arkham House - Anthologie Dark Mind, Dark Heart. August Derleths Rolle in der Geschichte der Cthulhu Mythos - Literatur ist sicher aus einer Reihe von guten Gründen umstritten**, doch für den gerade einmal 15-16 Jahre alten Campbell erwies sich der Kontakt mit ihm als ausgesprochen positiv. Derleth ermunterte ihn, weiter an seinen Geschichten zu arbeiten, riet ihm u.a. zu einer erneuten Lektüre von M.R. James. um der Tendenz zu einem ausufernden Stil entgegenzuwirken, und drängte ihn außerdem dazu, seine cthulhuiden Erzählungen nicht länger im neuenglischen Lovecraft Country anzusiedeln, sondern stattdessen ein britisches Setting in einer ihm persönlich vertrauteteren Landschaft für sie zu kreieren, was zur Entstehung des Severn Valley um Brichester führte -- Campbells eigener "Mythos-Provinz". 1964 erschien bei Arkham House mit The Inhabitant of the Lake and Less Welcome Tenants dann der erste Sammelband mit Geschichten aus seiner Feder. Allesamt Lovecraft-Pastiches, doch enthält die titelgebende Erzählung kurioserweise auch den Kern, aus dem Campbells spätere Sword & Sorcery erwachsen sollte. Dort führt er nämlich u.a. sein eigenes Grimoire, die Revelations of Gaaki, ein und erwähnt dabei auch eine fremde Welt namens Tond. Das entsprechende "Zitat" aus der verbotenen Schrift lautet wie folgt:
Many are the horrors of Tond, the sphere which revolves about the green sun of Yifne and the dead star of Baalblo. Few come near to humanity, for even the ruling race of yarkdao have retractable ears in humanoid bodies. Their gods are many, and none dares interrupt the priests of Chig in their ritual, which lasts, three years and a quarter, or one puslt. Great cities of blue metal and black stone are built on Tond, and some yarkdao speak of a city of crystal in which things walk unlike anything living. Few men of our planet can see Tond, but those who know the secret of the crystallisers of Dreams may walk its surface unharmed, if the crystalliser's hungry guardian does not scent them.

Im Grunde war das natürlich bloß eine Variation auf Lovecrafts Yuggoth und andere Planeten des Mythos, und wie der Autor selbst sagt: "Neither the idea nor the paragraph was too inspired". Doch als Pat Kearney, der 1961 Campbells allererste Story The Tower From Yuggoth in seinem Fanzine Goudy veröffentlicht hatte, die Idee aufbrachte, dieser könne doch einen kurzen Abriss der Geschichte von Tond für das Magazin schreiben, stieß er damit eine folgenreiche Entwicklung an. Campbell hatte inwischen das Werk von Clark Ashton Smith für sich entdeckt und dabei eine besondere Liebe für The Abominations of Yondo entwickelt. Statt eine historische Skizze zu verfassen, beschloss er deshalb, Tond zum Schauplatz einer davon inspirierten Erzählung zu machen.
 
Die ursprüngliche Fassung von A Madness from the Vaults erschien im Oktober 1964 in der ersten und einzigen Ausgabe von Graham Halls Fanzine Doubt. Bei dem in Far Away & Never abgedruckten Text handelt es sich allerdings um eine überarbeitete Fassung, die Campbell 1972 für Meade & Penny Friersons HPL - A tribute to Howard Phillips Lovecraft  anfertigte. Und dort heißt es: "it has but 40 words left of the original and an entirely new direction and concept".*** 
 
Als Sword & Sorcery lässt sich die Story schwerlich bezeichnen, aber sie führt einige Ideen und Motive ein, auf die der Autor später zurückgreifen würde. Nun ist The Abominations of Yondo mehr Prosagedicht als Kurzgeschichte und lebt völlig von Clark Ashton Smiths barock-überbordendem, dekadentem Stil und der musikalischen Qualität seiner Sprache. Wie stark Campbell dies ursprünglich zu imitieren versucht hat, kann ich natürlich nicht sagen, doch in der vorliegenden Version hält er sich damit erfreulicherweise etwas zurück. Denn es ist nicht leicht, einen ähnlichen Effekt zu erzielen, und ein missglückter Versuch kann schnell zu einem schier unlesbaren Text führen. Und so präsentiert sich A Madness from the Vaults als eine in formaler Hinsicht deutlich konventionellere Erzählung, deren "Smith'scher" Charakter hauptsächlich in der Fremdartigkeit und Bizzarerie der geschilderten Welt sowie in der Figur des dekadenten Despoten Opojollac besteht. Als in dessen Hauptstadt Derd immer häufiger ein mysteriöses Monstrum den Untiefen eines uralten Labyrinths entsteigt, um in den Straßen sein mörderisches Unwesen zu treiben, und dabei dem Palastviertel von Mal zu Mal näher kommt, sieht sich der Tyrann schließlich zähneknirschend gezwungen, auf eine Queste zu gehen, um die "Globes of Hakkthu" um Rat zu fragen. Die nur angedeutete Beschreibung dieser gottgleichen Hüter und Beschützer von Tond ist dank deren grotesk-maschinenhafter Erscheinung der vielleicht eindrucksvollste Teil der Erzählung.
Within the restless cloud of sand, which loomed more mightily than his palace, he thought that he perceived the rolling of great rusted surfaces and heard a low unceasing rumble, like the musing of a metal colossus [...] Minutes of silence passed, so that Opojollac dared glance towards Hakkthu. Then he threw himself supine again, for he had glimpsed a gigantic rusted mouth yawning above him through the dust. For a moment only the dust whispered, and then a voice like the grinding of ponderous gears boomed out above Opojollac.
Hakkthu (manchmal auch die "Globes of Hakkthu") tauchen als Anrufung in späteren Geschichten immer wieder auf. Erfüllen dort aber eher die Funktion von Crom im Conans wohlbekanntem "By Crom!". Auf ihr eigentliches Wesen wird nie wieder eingegangen. Ebensowenig auf die ausdrückliche Verknüpfung mit dem Cthulhu-Mythos. die in A Madness from the Vaults durch die Figur des Azathoth gegeben ist.
Weit wichtiger ist allerdings ist, dass hier zum ersten Mal von der Macht die Rede ist, die Namen und Worte auf Tond besitzen. Denn dies ist sicher eines der originellsten Motive von Campbells Sword & Sorcery.                                            
In Derd the names of the newborn were no longer the outcome of a day-long christening ritual but were subject to the whim of Opojollac, who thus ensured that none could boast a name so sonorous as his and by that token hold sway over his city. Certain words, phrases, and syntactical modes were the property of Pojollac alone, for on Tond language is power.
Als Ramsey Campbell mit der in der Novembernummer 1974 von Whispers veröffentlichten Geschichte The Stages of the God nach Tond zurückkehrte, entschied er sich dazu, seine Figuren nicht länger als Vertreter des nichtmenschlichen Volkes der yarkdao auftreten zu lassen: "The excuse for this transformation, I fear, is sloth. I couldn't imagine my way inside my characters unless I regarded them as human."
Nichtsdestotrotz erinnert mich auch diese Erzählung immer noch stark an die Phantastik eines Clark Ashton Smith oder eines Jack Vance. Der Protagonist ist erneut ein König, wenn auch nicht länger vom Typus des grotesk gezeichneten Despoten. Als Topops von dem intriganten Aufsteiger Lamboan und seinen Verbündeten gestürzt wird, muss er ins Exil gehen. Doch der Thronräuber denkt gar nicht daran, sich an die zwischen den beiden getroffene Übereinkunft zu halten. Statt ihm freies Geleit zu gewähren, setzt er umgehend einen Trupp von Söldnern und Meuchelmördern auf seine Fährte.
Zumindest andeutungsweise erscheint der Machtkampf zwischen Usurpator und Monarch auch als ein Kampf zwischen unterschiedlichen Formen von Sprache. So sagt Topops über seinen Widersacher und dessen Verbündete: "Had they not learned new words in secret with which to bind their tracts, their supporters could never have outnumbered those still loyal to me." Selbst glaubt er sich nachwievor im Besitz der Macht. die die "words of a king" in sich tragen.
Wie genau wir uns die Wirkung dieser "Worte" vorzustellen haben, bleibt unklar. Auf jedenfall schützen sie Topops nicht vor der Heimtücke seiner Gegner. Wenn es ihm dennoch gelingt, sich einiger seiner Verfolger zu entledigen. dann mittels blankem Stahl. Schließlich erreicht er einen verlassenen Schrein auf einer menschenleeren Ebene und beschließt, sich hier zum Endkampf zu stellen: "It is fitting that a king should defend a shrine." Im Inneren findet er einen Thron. Als er sich auf diesem niederlässt überkommt ihn eine wilde Vision und die Erzählung nimmt endgültig psychedelische Züge an. Topops schaut eine bizarre Landschaft, bevölkert von ebenso grotesken Kreaturen, und ist überzeugt davon, diese in gottgleicher Manier durch reine Willenskraft in ein blühendes Königreich verwandeln zu können. Nachdem er auch die letzten Häscher erledigt hat, schließt er sich für immer in diesen Schrein ein.
Ich muss gestehen, dass mich die Geschichte etwas verwirrt zurückgelassen hat. Wenn Topops am Ende tatsächlich zu einem Gott geworden sein sollte, dann zum narzissistischen Gott seiner eigenen kleinen Welt. So jedenfalls mein Eindruck. Doch ich bin mir unsicher, ob diese Interpretation Campbells Zielsetzung entspricht.
 
Nachdem mit zwei Jahren Verzögerung 1973 sein zweiter Sammelband Demons by Daylight bei Arkham House erschienen war, beschloss Ramsey Campbell, seinen Job als Bibliothekar an der Öffentlichen Bücherei von Liverpool an den Nagel zu hängen und sich ganz auf die Schriftstellerei zu konzentrieren. Eine vielleicht etwas voreilige Entscheidung, wie er später einmal erklärt hat: "retrospect demonstrates how untimely my decision was. Kirby McCauley, now my agent, had to tell me that the market for short horror stories was very limited ... My solution was to lurch into science fiction as best I could. Little of it sold...". Möglicherweise war auch das ein Grund, warum sich Campbell in den 70er Jahren zusätzlich ein bisschen auf dem Sword & Sorcery - Markt tummelte. Immerhin hatte er mit Kirby McCauley, der selbst Mitglied des "Weird Fiction" - Kreises von Minneapolis gewesen war (dem u.a. auch Richard L. Tierney angehörte), einen Agenten mit vorzüglichen Connections in der Szene.
 
Doch bevor er seine erste völlig eigenständige S&S-Geschichte zu Papier brachte, erreichte ihn 1975 erst einmal eine Anfrage von Glenn Lord, ob er die Aufgabe übernehmen wolle, drei der Fragment gebliebenen Solomon Kane - Stories von Robert E. Howard fertigzuschreiben. Solche "posthumen Kollaborationen" waren in der Ära des großen S&S- und Howard-Booms gang und gäbe. The Castle of the Devil, Hawk of Basti und The Children of Asshur erschienen 1978/79 in den Bantam Books - Bänden Skulls in the Stars und Hills of the Dead.
Da ich mich bei der Lektüre von Die Schwingen des Grauens (The Pit of Wings) sofort an Wings in the Night, eine meiner Lieblingsgeschichten um den grimmigen Puritaner, erinnert fühlte (und das nicht nur wegen der geflügelten Monster, sondern auch wegen der bedrückenden Atmosphäre), hätte ich diese Stories sehr gerne zum Vergleich mit Campbells späterer Sword & Sorcery herangezogen. Tatsächlich sind sie sogar einmal ins Deutsche übersetzt und in dem Terra Fantasy - Band Die Krieger von Assur (1982) veröffentlicht worden. Doch leider scheint man den im Moment nur für reichlich übertriebene Preise erwerben zu können. Im englischen Original erschienen sie allesamt wohl zum letzten Mal 1995 in einem Baen Books - Sammelband, aber der ist inwischen sogar noch teurer. Also musste ich auf einen unmittelbaren Vergleich verzichten. Dennoch scheint es mir potenziell hilfreich, Campbells Solomon Kane - Verbindung im Hinterkopf zu behalten.****
 
Wenn ich die Chronologie korrekt rekonstruiert habe, war es 1976, als sich Michel Parry um einen Beitrag für seinen Sammelband Savage Heroes an Campell wandte, den er ein Jahr später unter dem klangvollen Pseudonym "Eric Pendragon" veröffentlichen würde. Das Buch ist eine Mischung aus Neuabdrucken älterer Kurzgeschichten von Robert E. Howard, Clark Ashton Smith, C.L. Moore, Henry Kuttner und Clifford Ball (sowie einer Kane - Story von Karl Edward Wagner) und drei originären Werken: Alma Mater von Daphne Castell, The Barrow Troll von David Drake und The Song in the Hub of the Garden von Ramsey Campbell.
 
Interessanterweise könnte man die Kurzgeschichte als eine Absage an die Sword & Sorcery und ihre Helden interpretieren. Oder doch zumindest als eine scharfe Kritik.
Wir treffen den Protagonisten Holoth zu Beginn in einer Taverne unter "primitivem" Volk. Er hofft, dass sein Name und die damit verbundene Saga seiner taten genug Macht über die Versammelten ausübt, um ihm deren Unterstützung auf seiner Suche nach dem sagenumwobenen Goam zu sichern. Doch als ein Jüngling eines der Details aus seiner Geschichte in Frage stellt, ist er gezwungen, mit ihm zu kämpfen, da sonst die "Magie" seiner "Worte" ihre Kraft verlieren würde.
Dies ist das erste richtige Beispiel für die besondere Rolle, die der "Name" in Campbells S&S-Geschichten spielt. Dieser ist mehr als eine bloße Bezeichnung oder Anrede. Vielmehr scheint er auf fundamentale (und "magische") Weise mit der Persönlichkeit seines Trägers verbunden zu sein. Seine Macht bezieht er aus den mit ihm verknüpften Geschichten über dessen vergangene Taten. Und das ist mehr als ein "Ruf" oder eine "Reputation". Holoths Zuhörer hoffen ein Teil von dessen Stärke in sich aufzunehmen, wenn sie die Taten des "Helden" aufzählen. Gleichzeitig muss Holoth seinen Namen "verteidigen", wenn dieser nicht seine Macht einbüßen soll.
Allerdings ist er nicht begeistert, diese Herausforderung anzunehmen. Und darin zeigt sich der innere Widerspruch unseres Helden. Einerseits ist sein "Name" ja so etwas wie die Quintessenz seiner Taten. Ohne diese wäre er ohne "Macht". Und Holoth ist bereit, für seinen Namen zu töten. Doch zugleich schreckt er davor zurück, sich mit den Taten auseinanderzusetzen, die ihn und damit sein "Ich" konstituieren. Der alte Mann in der Taverne erkennt das:
"Don't you dare stand still to look back where you've been?" the old man said, and Holoth felt the words creeping up behind him, waiting to slip into him as soon as he relaxed. "You're draining life and you'll have yourself none." the old main said. "You'll have done all and understood nothing and you'll never be able to return."
Wenn wir später erfahren, worin Holoths "Heldentaten" eigentlich bestanden haben, wird uns auch klar, warum das so so ist. Als Sklave im Matriarchat von Lelele wurde er auf ziemlich perverse Art zum Instrument eines Mordanschlags auf die Königin gemacht. Doch in dem anschließenden Machtkampf war die Verschwörerin Yaloyo schließlich gezwungen, aus dem Inselreich zu fliehen. Holoth war einer der Sklaven, die sie dabei mitnahm. Er nutzte die Situation, tötete seinerseits seine "Herrin" und schwang sich dank der Macht der "Worte", die er in ihren Diensten gelernt hatte, zum Anführer über die übrigen Männer auf. Doch seine anschließende Laufbahn als Piratenhauptmann war alles andere als "heroisch" oder "abenteuerlich":
For months he watched the men tie women to the deck and rape them, beat them, mutilate them, throwing them bleeding into the hold or the sea at whim.
Irgendwann konnte er all das nicht mehr ertragen, trennte sich von seinen "Gefährten" und machte sich auf die Suche nach Goam. Auch wenn das nie offen ausgesprochen wird und er es sich selbst vermutlich nie eingestehen würde, ist doch ziemlich klar, dass Holoth in diesem legendären Reich der Zaubererphilosophen so etwas wie Seelenfrieden zu erlangen hofft.
Doch wie sich herausstellt, existiert Goam schon lange nicht mehr. Alles, was von ihm übriggeblieben ist, ist ein magischer Garten in der Wüste. Eine Art pervertiertes Eden. Und was Holoth dort erwartet, ist alles andere als Erlösung.
 
The Song in the Hub of the Garden ist eine ziemlich bedrückende kleine Story. Und bildet damit ein passendes Pendant zu Drakes unheroisch-illusionslosem Barrow Troll. Als Auftakt zu Campbells Sword & Sorcery etabliert sie einen sehr düsteren Grundton, der in der Folge zwar mehr ins Graue verschoben, aber nie völlig aufgehellt werden wird, wie wir gleich sehen werden.
 
Ungefähr zu dieser Zeit kreierte Campbell seinen eigenen "echten" S&S-Helden. Die Idee zu dem umherwandernden Söldner und Schwertkämpfer Ryre, den Stephen Fabian übrigens ziemlich akkurat für das Cover von Far Away & Never porträtiert hat, kam ihm offenbar während einer Vorführung von Ng See-yuens The Bloody Fists. Was allerdings kaum einen Einfluss auf die Charakterisierung der Figur gehabt haben dürfte: "I take The Sustenance of Hoak to owe its existence less to the film than to my loss of interest in the events on the screen." Durch die Vermittlung von Kirby McCauley gelangte diese erste Story in den im Februar 1977 veröffentlichten Auftaktband von Andrew J. Offutts Swords Against Darkness. Und es war Offutt, der an Campbell mit der Aufforderung herantrat, weitere Geschichten über Ryres Abenteuer zu schreiben. "I hadn't planned a sequel -- I never do -- but I was happy to find out where he went next. His brief saga allowed me to work out ideas too weird to be incorporated in the kind of thing I usually write." Insgesamt entstanden so vier Ryre-Stories, die allesamt in der Swords Against Darkness - Reihe erschienen: The Sustenance of Hoak, The Changer of Names, The Pit of Wings und The Mouths of Light. Als Offutts Anthologien-Reihe 1979 nach Band 5 eingestellt wurde, bedeutete das leider auch das Ende für Campbells Schwertkämpfer. "Deprived of a market, he entered that limbo to which the passing of the pulps consigned so many of his predecessors". Ryre wurde damit eines der vielen Opfer des Umschwungs in der amerikanischen Fantasy, die schließlich zum High Fantasy - Boom der 80er Jahre führte. Was ich persönlich sehr bedauernswert finde, halte ich ihn doch für eine interessante Ergänzung zum Pantheon der "klassischen" Sword & Sorcery - Held*innen.
 
Im ersten Kapitel von Flame and Crimson: A History of Sword-and-Sorcery entwirft Brian Murphy eine Art "7-Punkte-Programm", mit dessen Hilfe er das Subgenre zu definieren versucht. Ich bin nicht ganz glücklich mit dieser Herangehensweise, da mir einige der "Base Elements" zu ausschließlich aus den Werken von Robert E. Howard abgeleitet zu sein scheinen. Dennoch kann die Liste als erster Ansatz für eine Auseinandersetzung mit der S&S durchaus nützlich sein. Und vor allem an zwei von Murphys Kriterien musste ich bei der Lektüre der Ryre-Geschichten immer wieder denken: "Horror/Lovecraftian Influence" und "Personal and/or Mercenary Motivations".
 
Der erste Punkt ist schnell abgehakt. Dass H.P. Lovecraft und sein Werk einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die frühe Sword & Sorcery ausübten, habe ich in der Vergangenheit schon ein paar mal thematisiert. Und mit Robert E. Howard, Clark Ashton Smith, C.L. Moore, Henry Kuttner und Fritz Leiber gehörten viele Vertrer*innen der "ersten Generation" ja auch zum engeren oder weiteren Bekanntenkreis des alten Gentleman von Providence. Diese Verbindung wurde in späteren Jahrzehnten immer mal wieder aufgegriffen, wenn auch selten so offen wie in Richard L. Tierneys Simon of Gitta - Geschichten. Dass dies auch für Ramsey Campbell gilt, ist nicht überraschend. Alle vier Tyre-Geschichten enthalten deutliche Horror-Elemente. Allerdings wird dabei nirgends direkt Bezug auf den Cthulhu-Mythos genommen. Auch handelt es sich weniger um "kosmisches" Grauen. Die Monster, mit denen sich der Schwertkämpfer herumschlagen muss, sind zwar grotesk und ziemlich gruselig, aber sie sind keine "Älteren Götter" oder vermitteln das Gefühl menschlicher Verlorenheit angesichts eines gefühllosen Universums. Sie sind sehr viel "handfester" und können auf handfeste Weise bekämpft oder überlistet werden.
 
Beim zweiten Punkt wird es etwas komplizierter. In dem entsprechenden Abschnitt zitiert Brian Murphy zustimmend eine Passage aus dem Vorwort der 2010 erschienen Anthologie Swords & Dark Magic, in dem das Subgenre wie folgt charakterisiert wird: "Smaller-scale character pieces, often starring morally compromised protagonists, whose heroism involves little more than trying to save their own skins from a trap they themselves blundered into in search of spoils". Ich habe mich vor einem halben Jahr schon einmal kritisch mit genau dieser Anthologie und ihrem Verständnis der Sword & Sorcery auseinandergesetzt. Es ist sicher richtig, dass deren Held*innen kaum je "strahlende Recken", sondern sehr oft moralisch etwas zweifelhafte Gestalten sind. Ebenso stimmt es, dass deren Anfangsmotivation nicht selten ziemlich materialistisch und selbstsüchtig sein kann. Aber wenn man die Charakterisierung damit für abgeschlossen erklärt, könnte der Eindruck entstehen, der "typische" S&S-Held würde sich kaum von einem amoralisch-zynischen Grim & Gritty - Bastard unterscheiden. Und zumindest in meinen Augen besteht zwischen den beiden ein deutlicher und wichtiger Unterschied. Ab und an treffen wir zwar auch schon in der "klassischen" Sword & Sorcery auf so gänzlich abstoßende Gestalten wie den goldgierigen Berserker Ulf Womanslayer aus Dave Drakes schon erwähntem Barrow Troll. Aber sie bilden doch die Ausnahme. In den allermeisten Fällen zeigen sich "typische" S&S - Held*innen sehr wohl fähig zu selbstlosem Handeln, sobald sie sich vor eine entsprechende Entscheidung gestellt sehen. Auch dann wird ihre Motivation oft komplizierter sein als die eines blütenweißen "Ritters ohne Furcht und Tadel", aber letztenendes besitzen auch sie einen inneren "moralischen Kompass", der sie dazu bewegt, am Ende "das Richtige" zu tun. Wenn auch vielleicht grummelnd und zögerlich. Und genau dafür scheint mir Ryre ein ausgezeichnetes Beispiel zu sein.
 
Am Beginn von The Sustenance of Hoak befindet er sich zusammen mit seinem Kumpel Glode auf Schatzsuche. Eine geradezu archetypische "selbstsüchtige" Motivation also. Die beiden haben zuvor als Söldner im Krieg gegen die Piraten der "Sea of Shouting Islands" gekämpft, hatten aber keine Lust, nach dessen Ende in den Dienst irgendeines kleinen Feudalherrn zu treten, um in dessen Interesse möglicherweise gegen ihre eigenen Kameraden von gestern kämpfen zu müssen. "[T]hey had been drinking their pay and complaining of its meagreness when talk had turned to the treasure of Hoak". Doch schon auf dem Weg zu dem abgelegenen Dorf, unter dem der sagenumwobene Schatz begraben liegen soll, erleidet Glode bei einem Banditenüberfall eine schwere Verletzung, der er schließlich erliegt. Das Dorf selbst entpuppt sich als eine ziemlich merkwürdige Siedlung voller apathisch wirkender Gestalten, die sich anscheinend ausschließlich von einer eigenartigen Droge ernähren, die aus den in jedem Haus befindlichen hölzernen Götzenbildern gezapft wird. Über all dem liegt eine tief bedrückende und hoffnungslose Atmosphäre. Es dauert nicht lange und Ryre muss erkennen, dass es den gesuchten Schatz überhaupt nicht gibt. Stattdessen wird ihm nach einiger Zeit klar,  dass die Bewohner*innen von Hoak die Gefangenen einer monströsen Pflanze sind, die sie mit der erwähnten Droge in völliger Abhängigkeit hält und sich zudem von ihnen ernährt. Nach einer bizarren Begräbniszeremonie wird er außerdem Zeuge, wie das Ungeheuer auch Glodes Leichnam verschlingt. Schließlich beschließt er, diesem Alptraum ein Ende zu bereiten und die Monsterpflanze zu vernichten. Ryres Motivation für sein Handeln ist vielschichtig. Einerseits geht es ihm dabei um Glodes "Namen": "If Ryre succeeded he would have a tale in which to hold Glode fast and give him power". Dieses Ansinnen wird noch dadurch verstärkt, dass es Ryre merkwürdig schwer fällt, um seinen Gefährten wirklich zu trauern. Es wollen sich einfach nicht die entsprechenden Gefühle bei ihm einstellen. Ob dafür (ausschließlich) der Einfluss der Monsterpflanze verantwortlich ist, oder wir darin ein erstes Anzeichen für den leicht depressiv-schwermütigen Charakter unseres Helden erkennen sollen, bleibt offen. Jedenfalls fühlt sich Ryre deshalb in gewisser Hinsicht schuldig. Aber zugleich geht es ihm sehr wohl auch um das Schicksal der Menschen in Hoak. Oder doch zumindest um die von ihnen, deren Persönlichkeit die Droge noch nicht völlig abgetötet hat: "He thought of Yoce and Trome, trapped within the open wall. He thought of the children ..." Symbolische Verkörperung findet all dies in einer kleinen, holzgeschnitzten Heldenfigur, die Ryre der jungen Yoce schenkt. "[H]is words didn't require him to be like the carving". Aber letztlich nimmt er diese Rolle doch an.
 
Der Anfang von The Changer of Names verstärkt noch einmal den Eindruck von Ryre als einem schwermütigen, innerlich erschöpften und etwas ziellosen Wanderer. Als er die Hafenstadt Lipe erreicht, hört er in einer Taverne davon, dass in letzter Zeit häufiger irgendwelche Schwertkämpfer in den nächtlichen Gassen auf mysteriöse und grausliche Weise zu Tode gekommen sein sollen. Seine Reaktion ist nicht ganz so wie man das vielleicht erwarten würde.
Ryre stared at the table. The man's talk wearied and depressed him, the whole place did. He refused to ask who might have killed the swordsmen: the tale was probably a lie. The table was darkened by stains of old ale, like ghosts of islands. He wished he were travelling.     
Als plötzlich ein junger Mann in die Schenke gestolpert kommt und lauthals verkündet "I am Ryre!", weckt diese Provokation zwar Gefühle in unserem Helen, die sich nur schwer bändigen lassen, aber nein, warum sollte er sich auf einen "name-fight" einlassen? 
In his youth, like most men, he'd roamed seeking others whom fate and their parents had given his name, to challenge them to fight for it. But now he and his name were one, secure in the deeds they'd shared; he had no need to defend it.
Doch dann beansprucht der Jüngling genau diese Taten, die die Essenz von Ryres "Namen" ausmachen, für sich und eine solche Beleidigung kann unser Held natürlich nicht einfach hinnehmen. Der Herausforderer hat nicht die geringste Chance und liegt Minuten später durchbohrt am Boden.
Ryre ist verwirrt und verstört. Wie konnte sich dieser offensichtlich völlig unerfahrene Mann erdreisten, seinen Namen zu "stehlen"? Und wie konnte er ihn mit einer solch trunken wirkenden Selbstsicherheit für sich in Anspruch nehmen? 
Wie sich zeigt, treibt ein geheimnisvoller Zauberer in Lipe sein Unwesen und verkauft den Leuten die "gestohlenen" Namen bekannter Krieger. Und da der Name auf Tond zugleich die Persönlichkeit, die Taten und das Leben seines Trägers "bedeutet", sind die Käufer felsenfest davon überzeugt, mit ihm auch diese zu erwerben.
Eine so krasse Perversion, eine so tiefe Verletzung der menschlichen Persönlichkeit, kann Ryre nicht einfach hinnehmen. Also nimmt er die Jagd nach dem "Changer of Names" auf, der sich am Ende als sehr viel mehr entpuppt als bloß ein besonders skrupelloser Zauberer.
 
Schon in The Sustenance of Hoak hatten wir im Zusammenhang mit Ryres leichter Klaustrophobie gehört: "As a youth he'd suffered the lightless hold of a ship for days". In The Pit of Wings erfahren wir nun, was es damit vermutlich auf sich gehabt hat. Denn als unser Held die Sklavenhalter-Siedlung Gaxanoi erreicht, überkommt ihn beim Anblick der in Ketten Geschlagenen und ihrer peitschenschwingenden Antreiber eine kaum zu bändigende Wut: "Ryre hated slavery as only a man who has been enslaved can. Fury parched his throat." Aber natürlich weiß er, dass er die Gesellschaftsordnung einer Stadt nicht mit ein paar gut geführten Schwertstreichen  zerschlagen kann. Also hält er sich im Zaum. Doch als ihn einer der Sklaventreiber provoziert, handelt sich dieser damit eine abgesäbelte Wange ein. Unglücklicherweise ist Gaxanoi aber nicht bloß ein Hort der Sklaverei, sondern auch Sitz eines finsteren Kultes. Und der beschließt, Ryre als Strafe für sein unverschämtes Verhalten bei nächster sich bietender Gelegenheit den wirklich exquisit widerlichen geflügelten Monstern, die man hier offenbar als Götter verehrt, als Menschenopfer darzubringen.
 
The Mouths of Light ist ein direktes Sequel zu der Vorgängerstory. Nachdem Ryre den geflügelten Bestien entkommen ist, kehrt er nach Gaxanoi zurück, um nun doch zu versuchen, die dortigen Sklaven zu befreien. Das Unternehmen scheitert, da diese trotz der sich bietenden Gelegenheit nicht den Willen zur Flucht aufbringen. Vielleicht nicht ohne Grund denken sie, dass ein solcher Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre, da es keinen Ort gibt, an dem sie sicher wären. Allerdings hat Ryre bereits genug Wächter und Sklaventreiber massakriert, um nun einen wütenden und blutgierigen Trupp von Verfolgern auf seine Fährte zu setzen. Als er Zuflucht in einem ausgedehnten Höhlensystem sucht, gerät er quasi vom Regen in die Traufe.  Denn dort treibt sich bereits eine Gruppe von Schatzsuchern herum, die den vermeintlichen Konkurrenten umgehend ins Jenseits zu befördern versucht. Ryre überlebt nur knapp und macht sich nun seinerseits daran, die Mitglieder des unglückseligen Trupps einem nach dem anderen zu erledigen. Ach ja, und dann gibt's da auch noch diese seltsamen Monstermäuler, die die Höhle  bevölkern.
The Mouths of Light ist im Grunde eine einzige lange Kampfszene. Das mag erst einmal nicht so originell und aufregend klingen, aber Ramsey Campbell versteht es, aus diesem simplen Szenario fünfzehn wirklich coole Seiten zu machen. Vor allem wie geschickt (und beinah cineastisch) er dabei Licht und Dunkelheit einsetzt, ist echt beeindruckend.
Daneben erhalten wir einen weiteren (und leider den letzten) Einblick in Ryres Persönlichkeit. Er weiß, dass die Schatzsucher eigentlich bloß irgendwelche armen Fischersleute sind, die ihren Familien eine bessere Zukunft verschaffen wollen. Aber solange es um sein eigenes Überleben geht, kann er darauf keine Rücksicht nehmen und tötet seine Gegner mit professioneller Kaltblütigkeit. Doch nachdem sie alle das Zeitliche gesegnet haben und es ihm am Ende sogar gelungen ist, einen Teil des Hortes den heimtückischen Monstermäulern zu entreißen, lädt er die Hälfte seiner Beute auf eines der Pferde der Fischer.
When he set it loose it seemed to know where it was going -- back to the widows and children, he hoped. For himself, he preferred not to encounter the friends of the men he had killed. He rode away toward the foothills and whatever lay beyond.  
Ich hoffe, ich habe zumindest ein wenig verständlich machen können, warum ich es bedauerlich finde, dass dies die letzten Sätze sind, die wir über Ryres Abenteuer zu hören bekommen.

Als zusätzliches Schmankerl enthält Far Away & Never außerdem noch Ramsey Campbells Beitrag zu dem legendären "Round Robin" Ghor, Kin-Slayer. Jonathan Bacon, Herausgeber des Fanzines Fantasy Crossroads, trommelte 1977 ein veritables Who-is-Who der männlichen***** Sword & Sorcery - Autoren der Zeit zusammen, um (jeder ein Kapitel) ein Fragment von Robert E. Howard fertigzuschreiben. Zu den Teilnehmern gehörten u.a. Michael Moorcock, Andrew J. Offutt, Charles R. Saunders, Darrell Schweitzer, Richard L. Tierney, Karl Edward Wagner, Manly Wade Wellman und eben auch Ramsey Campbell. Der vorzeitige Tod von Fantasy Crossroads 1979 führte dazu, dass dieses Opus in seiner Gänze erst zwanzig Jahre später von Necronomicon Press dem lesenden Publikum zugänglich gemacht wurde. Selbst habe ich mir das zwar noch nicht zu Gemüte führen können, aber alles spricht dafür, dass es sich bei Ghor, Kin-Slayer mehr um ein literarisches Kuriosum und weniger um eine wirklich lesenswerte Geschichte handelt. Campbells Beitrag hat an diesem Eindruck nichts ändern können.


* In einem kurzen Mastodon-Austausch mit Alessandra stellten wir beide fest, dass uns Titel und Coverillustration aus anderen Vertretern der "Schwarzen Reihe" bekannt waren, in denen der Band anscheinend recht häufig beworben worden war.

** Ich verweise auf meinen alten Artikel Retro Hugos und der Derleth-Mythos.

*** Zwar erwähnt Ramsey Campbell im Vorwort zu Far Away & Never diese radikale Überarbeitung, aber der Sammelband macht nicht deutlich, um welche Version es sich bei der abgedruckten Geschichte eigentlich handelt. Das mus man sich selbst zusammenreimen. In einer entsprechenden Auflistung heißt es über A Madness from the Vaults sogar bloß "originally appeared in Doubt #1 (1964)", während HPL nirgends erwähnt wird. Was doch ziemlich verwirrend ist. Erst eine Konsultation von ISFDB und ein Vergleich mit dem glücklicherweise als PDF im Netz aufzufindenden Text von HPL verschuf mir Klarheit.

**** Diese Verbindung reichte nebenbei bemerkt über die 70er Jahre hinaus. Nachdem die berühmte Brit-Horror-Schmiede Amicus, die in den letzten Jahren ihrer Existenz außerdem das wunderbare Edgar Rice Burroughs - Doug McClure - Gummidino - Trio The Land That Time Forgot (1974), At the Earth's Core (1976) und The People That Time Forgot (1977) produziert hatte, endgültig entschlafen war, gründete einer ihrer Ex-Bosse, Milton Subotsky, eine neue Firma mit dem verheißungsvollen Namen Sword & Sorcery Productions. Nach missglückten Versuchen, die Rechte an Conan zu erwerben, oder einen Thongor-Film auf der Grundlage von Lin Carters The Wizard of Lemuria auf die Beine zu stellen, kam Subotsky schließlich auf die Idee, es mit einer Solomon Kane - Adaption zu versuchen. Für das Drehbuch wandte er sich an Ramsey Campbell. "I wrote a treatment based on the African tales, but he didn't see a film in it. Shortly afterwards, rumour has it, the financing for a Thongor film he'd started was lost, leaving him with the bill for some Eastern European special effects, and his enthusiasm for sword and sorcery ventures waned." In der Tat produzierte Sword & Sorcery Productions keinen einzigen S&S-Film, sondern bloß den Psychohorror-Streifen Dominique (1979) und die bizarre, eher nicht so gelunge R. Chetwynd-Hayes - Adaption Monster Club (1981). Campbell hingegen würde knapp dreißig Jahre später die Novelization für den (meines Erachtens auch nicht so geglückten) Solomon Kane - Streifen von M.J. Bassett schreiben. 

***** Das gilt es zu betonen! Die Liste der Mitwirkenden enthält z.B. weder Tanith Lee noch C.J. Cherryh. Als einzige Autorin ist Marion Zimmer Bradley vertreten.