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Sonntag, 7. Mai 2017

Schalcken the Painter

Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose „bare Zahlung“. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt.

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Am 25. Dezember 1978 fand der Zyklus der Ghost Stories for Christmas, mit denen die BBC das britische Publikum seit 1971 beglückt hatte, mit der Ausstrahlung von The Ice House sein offizielles Ende. Die einzelnen Teile habe ich vor Zeiten bereits hier, hier, hier, und hier besprochen, doch gibt es noch eine inoffizielle neunte Folge, die am 23. Dezember 1979 in den Äther geschickt wurde. Kurioserweise geschah dies im Rahmen der Kultursendung Omnibus ganz wie es bei Jonathan Millers M.R. James - Adaption Whistle, and I'll Come to You (1968), dem unmittelbaren Vorläufer des Zyklus, der Fall gewesen war. 
Wie es dazu kam? Als Leslie Megahey manchen vielleicht als Regisseur von The Hour of the Pig (1993) bekannt das Angebot erhielt, die Leitung von Omnibus zu übernehmen, stellte er die Bedingung, seinen Einstand mit einer Adaption von Sheridan Le Fanus Strange Event in the Life of Schalken the Painter feiern zu können. Sein Ansinnen ließ sich damit rechtfertigen, dass mit Gerrit Dou (1613-75) und Godfried Schalcken (1643-1706) zwei reale Vertreter der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts im Zentrum der kurzen Erzählung stehen. Megahey erhielt grünes Licht, und so entstand mit Schalcken the Painter eine der eigenwilligsten und faszinierendsten "Ghost Stories for Christmas".

Der junge Maler Godfried Schalcken (Jeremy Clyde) ist Schüler des erfolgreichen und wohlhabenden Gerrit Dou (Maurice Denham). Er verliebt sich in Rose Velderkaust (Cheryl Kennedy) Nichte und Mündel seines Meisters , und obwohl er sich recht ungeschickt dabei anstellt, ihr seine Gefühle zu offenbaren, scheint sie diese doch zu erwiedern. Doch da er selbst noch ohne Reputation und Einkommen ist, stehen die Chancen nicht eben gut, dass ihr Vormund in die Verbindung einwilligen würde. 
Da taucht eines Abends der geheimnisvolle und unheimliche Vanderhausen (John Justin) aus Rotterdam in Gerrit Dous Leidener Atelier auf und erklärt, er beabsichtige, Rose zu ehelichen. Im Gegenzug bietet er dem Maler eine stattliche Summe in altertümlichen Goldmünzen an. Dou zögert nur kurz, bevor er sich auf den Handel einlässt. 
Rose fühlt sich von der leichenhaften Erscheinung Vanderhausens instinktiv abgestoßen und bittet Schalcken, gemeinsam mit ihr zu fliehen. Doch ihr Verehrer erweist sich als zu feige, um sich auf ein solches Unterfangen einzulassen. Stattdessen erklärt er der Verzweifelten, er werde so lange an seiner Karriere arbeiten, bis er genug Geld verdient hat, um den Heiratsvertrag (und damit sie) "zurückzukaufen". Rose hat keine Wahl, als sich dem Schicksal zu beugen, das die alten Männer für sie bereitet haben. 
Schalcken seinerseits stürzt sich mit verstärkter Energie in seine Arbeit, doch wird dabei schon bald Ehrgeiz und nicht länger der Gedanke an seine verlorene Liebe zum treibenden Motiv. Zumal es so aussieht, als seien Vanderhausen und seine unglückliche Gattin auf unerklärliche Weise spurlos verschwunden.
Jahre später – Schalcken ist inzwischen selbst zu Erfolg und Wohlstand gekommen – taucht urplötzlich eine zutiefst verstörte und scheinbar ausgehungerte Rose bei ihm auf. Es bleibt ein kurzes Wiedersehen, denn offenbar gelingt es ihrem unheimlichen Ehemann sehr schnell, sie zu sich zurückzuholen.
Erneut vergehen Jahre. Gerrit Dou stirbt, und als Schalcken nach dem Begräbnis seines ehemaligen Meisters alleine in einer Rotterdamer Kirche zurückbleibt, kommt es zu einer dritten und letzten Begegnung mit Rose, die den Maler am Rande des Wahnsinns zurücklässt.    


Schalcken the Painter ist zugleich eine Liebeserklärung an die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts und eine beißende Kritik an der bourgeoisen Gesellschaft, auf deren Grundlage sie sich entwickelte.

Formal ist der Film an den Typus des Dokudramas angelehnt, was natürlich auch mit dem Kontext zu tun hat, für den er ursprünglich produziert wurde. Er geht von der Betrachtung einiger Gemälde des realen Godfried Schalcken aus, die junge Frauen im Schein einer Kerze oder Lampe zeigen. Der Maler ist berühmt für seinen exquisiten Umgang mit Kerzenlicht und Schatten. Als Übergang zur eigentlichen Story dient ein Gemälde, das eigens für den Film nach der Beschreibung Le Fanus und im Stile Schalckens angefertigt wurde, und mit dem verstörenden Finale im Zusammenhang steht. Im weiteren Verlauf wird die Handlung immer wieder von kurzen Sequenzen unterbrochen, die sich mit Aspekten von Schalckens realem Oeuvre beschäftigen.
Doch das besondere ist nicht diese Verknüpfung von kunsthistorischer Dokumentation und Spukgeschichte. Vielmehr ahmt der Film in beinah jeder Szene die großen Werke der niederländischen Malerei nach. So ist z.B. das Interieur von Gerrit Dous Atelier Jan Vermeers Die Malkunst nachempfunden. Selbst das räumliche Arrangement der Schauspieler & Schauspielerinnen ruft immer wieder Assoziationen zu den Werken der alten Meister wach. Der äußerst atmosphärische Einsatz von Kerzenlicht wurde ohne Frage vor allem von den Gemälden Rembrandts und Schalckens selbst inspiriert, auch wenn Walerian Borowczyks Film Blanche (1971) scheinbar ein zusätzlicher Einfluss gewesen ist. An einer Stelle kommt es gar zu einem kurzen Cameo von Rembrandt van Rijn, wie wir ihn von seinem berühmten Selbstporträt  kennen.
Der Effekt all dieser offenbar von viel Liebe und Kenntnisreichtum angetriebenen Bemühungen ist schlicht atemberaubend. Selten wohl wurde ein malerischer Stil so gelungen wie hier in das Medium Film übertragen.

Aber der Streifen bleibt nicht bei dieser visuellen Bezugnahme auf die niederländische Malerei stehen. Er beschäftigt sich außerdem auf ebenso pointierte wie verstörende Weise mit deren sozialer Basis.

Die Vereinigten Niederlande waren die am weitesten entwickelte kapitalistische Gesellschaft des 17. Jahrhunderts. In ihrer Hinwendung zu Szenen des Alltagslebens, in ihrer Konzentration auf das menschliche Individuum und in der starken Sinnlichkeit ihrer Gemälde spiegeln die Meister des Goldenen Zeitalters der niederländischen Malerei diese gesellschaftliche Entwicklung wider. Ihre Kunst stand nicht länger im Dienst von Kirche und Aristokratie, sondern atmete einen durch und durch bürgerlichen Geist.
Doch diese Befreiung besaß auch ihre Schattenseite. Sie waren die ersten Maler, die vollständig darauf angewiesen waren, für den "freien Markt" zu produzieren. Viele von ihnen fanden sich an dem einen oder anderen Punkt ihrer Karrieren in äußerst bedrückenden ökonomischen Verhältnissen wieder.*
Freilich ist es weniger dieser spezielle Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung, mit dem sich Schalcken the Painter auseinandersetzt, als vielmehr die allgemeinere, mit dem Triumph des Kapitalismus einhergehende Tendenz, das Geld zum einzigen Vermittler der sozialen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch zu machen.

Wenn wir Gerrit Dou zum ersten Mal zu sehen bekommen, ist er dabei, Goldmünzen zu zählen, wobei er sich eines Vergrößerungsglases bedienen muss, da sein Augenlicht durch seine Arbeit stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Das Motiv zieht sich durch den gesamten Film. Immer wieder sehen wir, wie Schalcken verschiedenen Frauen Münzen in den Schoß fallen lässt – der Prostituierten Hendrijke (Helena Clayton) in einem Rotterdamer Bordell; einem seiner weiblichen Modelle (Val Penny), das er mit größter Herablassung behandelt; der gespenstischen Rose in seiner finalen Konfrontation mit der verlorenen Geliebten. 
Und natürlich ist es ihr Schicksal, in dem die ganze Unmenschlichkeit der bourgeoisen Gesellschaft am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Die junge Frau ist nicht mehr als eine Ware, über deren Verkauf ihr Vormund und der monströse Vanderhausen verhandeln. Letzterer bringt dies offen zum Ausdruck, wenn er erklärt: "She is your property, she will become mine, if you like to make her so. She has no choice." In ganz demselben Geist vertröstet der rückgratlose Schalcken die Unglückliche darauf, sie irgendwann "zurückzukaufen". 
Eine der großen Stärken des Films besteht darin, dass wir nie erfahren, was genau mit Rose nach ihrer Hochzeit tatsächlich geschieht. Der Zustand, in dem sie sich bei ihrem kurzen Wiederauftauchen befindet, lässt uns zusammen mit Schalckens letzter sexuell-surrealer Vision in der Krypta der Kirche zwar erahnen, zu welch grausamem Schicksal sie von den Männern verurteilt wurde, doch bleibt dies nicht mehr als eine Andeutung, was gerade deshalb einen besonders eindringlichen und verstörenden Eindruck hinterlässt.

Leslie Megaheys Schalcken the Painter ist ein großartiges Beispiel der britischen TV-Phantastik der 70er Jahre. Nur schwer vorstellbar, dass heutige Fernsehschaffende etwas hervorbringen könnten, das auf ähnliche Weise ein tiefes Verständnis für Kunst und Geschichte mit einem kritischen Blick auf die Gesellschaft und einer ebenso zurückhaltend inszenierten wie bedrückenden phantastischen Erzählung verbinden würde.           


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