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Freitag, 10. Juni 2016

Wenn weniger wirklich mehr ist

Das Label Indie-Film ist ebensowenig ein automatisches Gütesiegel, wie das Label Blockbuster notwendig einem Verdammungsurteil gleichkommt. Doch gibt es in der Tat Filme, bei denen man mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, dass sie wohl nie von einem großen Studio produziert worden wären, und bei denen die Gründe dafür zugleich die Gründe für die besondere Qualität des Streifen sind. Und ich meine damit jetzt nicht politischen Radikalismus oder avantgardistische Experimentierfreude, sondern sehr viel unscheinbarere Elemente. Ein besonders hübsches Beispiel dafür ist Sebastián Corderos SciFi-Film Europa Report von 2013.    


Ungefähr zur selben Zeit wie Alfonso Cuaróns Gravity erschienen, hatte der für weniger als ein Zehntel des $100 Mio. - Budgets produzierte Streifen des ecuadorianischen Regisseurs keine Chance, sich besonders lange in den Kinos zu halten, und fand sein Publikum hauptsächlich über das Internet. Doch auch wenn man ihm natürlich ansieht, dass Cordero und seinem Team sehr viel weniger Geld zur Verfügung stand als den Leuten bei Warner Bros., halte ich Europa Report dennoch für den sehr viel interessanteren Film.

Sich des Found Footage - Formats bedienend erzählt er die Geschichte eines von dem Unternehmen Europa Ventures ausgerichteten bemannten Raumflugs zum Jupiter-Mond Europa, dessen Hauptziel darin besteht, den unter einem dicken Eismantel verborgenen Ozean des Mondes nach Anzeichen von Leben zu untersuchen. Der Film besitzt keine chronologisch lineare Struktur, und wir wissen von Anfang an, dass die Expedition offenbar ein tragisches Ende gefunden hat, was eine Art bedrohlichen Schatten über alles wirft, was wir von nun an zu sehen bekommen. 
Im ersten Drittel des Films lernen wir die multinationale Crew der Europa One kennen, bestehend aus Captain William Xu (Daniel Wu), Pilotin Rosa Dasque (Anamaria Marinca), dem Wissenschaftler Daniel Luxembourg (Christian Camargo), Meeresbiologin Katya Petrovna (Karolina Wydra) sowie den Ingenieuren Andrei Blok (Michael Nyqvist) und James Corrigan (Sharlto Copley). Wir bekommen einen Einblick in den Alltag der Astronauten und die klaustrophobische Atmosphäre des Raumschiffs, das für Jahre die Heimat der Sechs sein wird. "So little space in here, and so much space out there." Wir werden Zeugen sowohl von der Kameraderie, die unter den Mitgliedern der Besatzung herrscht, als auch von ersten Anzeichen der psychischen Belastung,die das Leben unter solch extremen Bedingungen auf Dauer darstellen muss.
Als ein unerwartet ausgebrochener Sonnensturm zum Zusammenbruch der Kommunikation mit der Erde führt, und bei den anschließenden Reperaturarbeiten an der Außenhülle einer der Sechs zu Tode kommt, beginnt die Expedition eine tragische Wendung zu nehmen. Dennoch setzt die Europa One --  nunmehr ganz auf sich allein gestellt -- ihren Flug zum Jupiter fort. Und tatsächlich gelingt nach Erreichen des Gasriesen die Landung auf dem Eismond. Doch schon bald stellt sich nicht nur heraus, dass hier möglicherweise sehr viel spektakulärere Entdeckungen auf die Crew warten, als es sich diese je erträumt hätte. Es kommt auch zu einer Kette immer katastrophalerer Ereignisse, die schließlich das Schicksal der Forscher besiegeln.

Auch wenn die durch das relativ kleine Budget auferlegten Beschränkungen in Sachen Tricktechnik mitunter deutlich zu erkennen sind, besitzt Europa Report auch in visueller Hinsicht eine recht beindruckende Qualität. Dabei spielen die verwendeten Kamerawinkel eine nicht unbedeutende Rolle. SFX-Künstler John Bair hat darüber in einem Interview erzählt:
The main goal was to make it appear as real as possible. Technically, it's a found footage film but it feels more like a documentary. The camera angles inside were really placed in a way that mimicked the International Space Station and the Shuttle so they can see the science officer or pilot doing specific things. We did the same thing on the exterior where we picked camera angles on the ship that would make sense from a mission standpoint - angled down the entire body of the ship or on the lander.   
Doch was Europa Report in meinen Augen zu einem so außergewöhnlichen SciFi-Film macht, ist in erster Linie all das, worauf der Film verzichtet:

Die Katastrophe wird nicht von irgendwelchen bewusst bösartigen Kräften herbeigeführt. Sie besteht ganz einfach aus einer Reihe unglücklicher Ereignisse und technischer Probleme, kombiniert mit der extremen Lebensfeindlichkeit der Umwelt, in die unsere Helden & Heldinnen vorgestoßen sind. Europa Report ist verschiedentlich als ein SF-Horror-Film bezeichnet worden, doch eine solche Beschreibung, die einen an Streifen wie Alien (1979) oder Event Horizon (1997) denken lassen könnte, halte ich letztlich für irreführend. Zwar gibt es einige Sequenzen, die eine entsprechende Atmosphäre besitzen, doch verbirgt sich hinter ihnen nicht das, was man vielleicht erwarten würde. Und mir persönlich hat es sehr gut gefallen, dass das, was wir in der letzten Szene des Films zu sehen bekommen, weder eine überirdische Lichtgestalt noch ein lovecraftianisches Monstrum ist.
Es kommt zu keinerlei eskalierenden Konflikten innerhalb der Crew. Natürlich brechen immer wieder Meinungsverschiedenheiten zwischen den Astronauten aus, und die durch die extremen Umstände bedingte psychische Belastung hat bei allen von ihnen Spuren hinterlassen. Doch am Ende erweisen sie sich als eine professionell agierende, in tiefer Kameradschaft verbundene Gruppe, die die Probleme gemeinsam zu bewältigen versucht und dabei zu den größten Opfern bereit ist.
Europa Report verzichtet völlig darauf, die Krisen, mit denen sich unsere Heldinnen & Helden konfrontiert sehen, als Ausgangspunkt für irgendwelche individuellen Selbsterkenntnistrips zu verwenden. Hier bekommt niemand quasi-mystische Erleuchtungen über den "wahren Sinn des Daseins" oder beginnt sich plötzlich mit seinem verkorksten Familienleben auseinanderzusetzen. Übermäßige Introspektiertheit und selbstmitleidige Nabelschau sind den Sechs fremd, was sie keinsfalls weniger menschlich, aber dafür um einiges sympathischer macht, als so manche andere heutige Filmhelden und -heldinnen.

Letztenendes feiert Europa Report den Mut, die Leidenschaft und Opferbereitschaft von sechs Menschen, die bereit sind, alles zu wagen, um das Wissen der Menschheit, unsere Erkenntnis des Kosmos zu erweitern. Wie wir Rosa mehrfach sagen hören: "Compared to the breadth of knowledge yet to be known, what does your life actually matter?" Ein SciFi-Film, der eine solche Botschaft vermittelt, ist heutzutage eine so große Seltenheit, dass Sebastián Corderos Werk schon allein aus diesem Grund sehr viel mehr Aufmerksamkeit verdient hat, als ihm bisher zugekommen ist.

3 Kommentare:

  1. Das kann ich alles unterschreiben. Es ist ein Film, der für mich den Kern des Genres SF berührt.

    Genau von solchen unaufgeregten, formal konsequenten Filmen hätte ich als jemand, der all die seltsamen Filme der 1970er noch "live" im Kino gesehen hat, gern mehr!

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  2. Den habe ich 2013 im Rahmen des Fantasy Filmfest auf der großen Leinwand gesehen, wo er eine wunderbare beengende und später auch unheimliche Atmosphäre erzeugt hat. Tatsächlich mal ein Found-Footage-Film, der dieses Format wirklich gut umsetzt. Das Fehlen von Antagonisten und unnötiger Dramatik habe ich als sehr angenehm und erfrischend empfunden. Solche SF-Filme wünsche ich mir und kann mich deiner Besprechung nur anschließen.

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  3. Ein toller Film! Wenn du schon beim SF Indie-Perlen rezensieren bist kann ich auf "Ex Machina" und vor allem auf "Primer" (denn so ziemlich niemand kennt) verweisen.

    Mal sehen wie "Approaching the unknown" wird. Der Trailer war vielversprechend.

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