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Montag, 6. Juni 2016

Ein Reisebericht aus den Vier Ländern - Teil 5

Teil 1 * Teil 2 * Teil 3 * Teil 4

Es ist vollbracht. Die letzte Seite ist umgeblättert, die letzte Zeile gelesen. Ich habe das Ende meines vor beinah zwei Monaten aus undefinierbaren Gründen angetretenen Rereads von Terry Brooks' The Sword of Shannara erreicht. Zeit, einen letzten Rapport abzugeben und ein paar abschließende Worte zu finden.

Kurz vorweg: Die vage Hoffnung, Shirl Ravenlock könnte im Verlauf der Belagerung von Tyrsis vielleicht doch noch eine etwas aktivere Rolle übernehmen, hat sich nicht bestätigt. Die junge Frau hatte nur noch einen einzigen kurzen Auftritt, in dem sie die Funktion einer Trösterin für den vom Tod seines Kameraden Höndel zutiefst erschütterten Menion erfüllt: 
"O Menion", flüsterte sie. "Was haben sie getan?" 
Seine Augen zuckten, seine Lippen bewegten sich stumm, als er nach Worten rang, die nicht kommen wollten. Shirl schlang die Arme um ihn und presste ihr Gesicht an seine Brust. Sie spürte seine starken Arme an ihren Schultern, dann löste sich die furchtbare Qual in seinem Inneren und überflutete sie, um sich in ihrem Schweigen und ihrer Wärme aufzulösen. 
Ich denke, zu dem Thema habe ich bereits alles nötige  gesagt. Auch versuche ich lieber gar nicht erst, die Frage zu klären, wie Menions "innere Qual" ihn und seine Geliebte "überfluten" können.

Der Fairness halber sei jedoch gesagt, dass die Schilderung des blutigen Kampfes um die Hauptstadt von Callahorn, welche einen Gutteil der letzten 80 Seiten in Anspruch nimmt, alles in allem zu den gelungeneren Partien des Romans gehört. Wenn es um Action und Kampf geht, scheint Terry Brooks eher in seinem Element zu sein, als wenn er lebendige und etwas vielschichtigere Charaktere erschaffen soll.
Beim Lesen kam mir allerdings folgender Gedanke: Wenn ein angehender amerikanischer Schriftsteller sich Ende der 60er / Anfang der 70er Jahre hinsetzt und eine Geschichte zu Papier bringt, die in der Beschreibung einer gewaltigen Schlacht mit unzähligen Toten gipfelt, ist es überhaupt vorstellbar, dass er dabei in keiner Weise von den Ereignissen des Vietnamkriegs beeinflusst wurde? Nun habe ich keine Ahnung, welche Position der junge Brooks gegenüber dem imperialistischen Gemetzel in Indochina bezogen hat, und ich habe in der Schlacht um Tyrsis in der Tat so gut wie nichts finden können, was auf eine derartige Verbindung hindeuten würde. Allerhöchstens könnte einen der Umstand, dass die Belagerer wiederholt mit riesigen Feuern aufgehalten werden und dabei in Scharen bei lebendigem Leib verbrennen, an den mörderischen Einsatz von Napalm durch das US-Militär denken lassen, für den der Vietnamkrieg berüchtigt war. Doch ich gebe zu, dass das etwas weit hergeholt ist.. Nichtsdestoweniger finde ich die Frage an sich spannend.
Der kurioseste Aspekt der Schlacht um Tyrsis ist allerdings ihr Ende. Wie ich zu Beginn meines letzten Reiseberichtes angedeutet hatte, wird die Elfenreiterei König Eventines im letzten Teil des Buches in Stellung gebracht, um die Rolle der Rohirrim zu spielen, d.h. als Entsatz für die beinah schon eroberte Stadt zu dienen. Doch im selben Augenblick als sie endlich über die Ebenen herangaloppiert kommt, vernichtet Shea im fernen Schädelreich den Dämonen-Lord. Es kommt zu einem quasi-apokalyptischen Erdbeben, die Pferde der Elfenkrieger gehen durch, das Heer wird zersprengt. Was freilich nicht länger wichtig ist, denn mit dem Untergang des Dunklen Herrschers scheint die Schlacht automatisch beendet zu sein! Eine wahrlich bizarre Wendung, war der hörnerschmetternde Auftritt des Elfenheeres doch das Ende eines Handlungsstrangs, in dessen Verlauf sich Flick in das Heerlager des Feindes eingeschlichen und auf abenteuerliche Weise den gefangen genommenen Elfenherrscher befreit hatte, ohne den das Heer sich gar nicht erst in Bewegung gesetzt hätte. Flicks mutige Aktion erscheint im Rückblick nun völlig sinnlos, denn für den Ausgang der Schlacht um Tyrsis spielen Eventine und seine Krieger absolut keine Rolle. Miserables Plotting oder bewusste Ironie?

Wenden wir uns nun den Ereignissen im Nordland zu.
Ich hatte in meinem vorletzten Bericht angekündigt, dass ich mich noch etwas genauer mit Ersatz-Gollum Orl Fane beschäftigen wollte, doch wie sich herausgestellt hat, gibt es nicht wirklich mehr über ihn zu berichten. Der verrückte kleine Gnomen-Deserteur ist weniger ein Charakter als vielmehr ein Plot-Mechanismus. Er ist nur deshalb in der Geschichte, weil Terry Brooks einen Weg finden musste, Shea ins Schädelreich zu befördern und gleichzeitig zu verhindern, dass dieser das Schwert von Shannara schon zuvor in die Finger bekommt. Das große Finale setzt voraus, dass unser Held unmittelbar, nachdem er selbst zum ersten Mal Hand an die magische Klinge gelegt hat, dem Dämonen-Lord gegenübersteht. Um dies zu arrangieren, führte Brooks Orl Fane in die Handlung ein, der wohl nur deshalb wahnsinnig ist, weil er kein vernüftiges Motiv dafür hat, dass Schwert ins Schädelreich zu schleppen und so dem Finale die Bühne zu bereiten.
Doch wenn wir diese spätestens auf den zweiten Blick etwas ungeschickt und schwerfällig anmutenden Plotmechanismen einmal beiseite lassen, ist die Konfrontation zwischen Shea und dem Dämonen-Lord im Herzen des Schädelbergs ohne Zweifel eine der originellsten Szenen des Romans. 
Wie unser Held erkennen muss, als er endlich das Schwert von Shannara aus seiner abgewetzten Scheide zieht, handelt es sich bei ihm nicht eigentlich um eine Waffe. Die besondere Eigenschaft der Klinge besteht vielmehr darin, dass sie jeden, der mit ihr in Berührung kommt, dazu zwingt, die ungeschminkte Wahrheit über sich selbst zu sehen. Sheas erste große Herausforderung ist es deshalb, mit dieser gnadenlosen Selbsterkenntnis fertigzuwerden. Er muss sich selbst "als den armseligen, unbedeutenden Funken kurz aufleuchtenden Lebens" erkennen, der er -- wie jeder Mensch -- ist. Er wird mit all jenen Seiten seiner Selbst konfrontiert, die er nicht wahrhaben will. Seiner Angst, seiner Selbstsucht, seiner Arroganz, seinen Vorurteilen, seinem Selbstmitleid usw. 
Hier war der Shea Ohmsford, der aus dem Tal geflüchtet war, nicht, um Familie und Freunde zu beschützen und zu retten, sondern aus Angst um sein eigenes Leben, auf der Suche nach irgendeiner Ausrede für seine Panik -- der Shea Ohmsford, der aus Eigensucht zugelassen hatte, dass Flick vom Alptraum mit betroffen wurde, dait die Qual sich vermindere. Hier war der Shea, der den Moralkodex von Panamon Creel verächtlich und hochmütig verdammt, gleichzeitig aber zugelassen hatte, dass der Dieb sein Leben riskierte, Sheas Leben zu retten.
Natürlich wäre diese Szene sehr viel berührender und eindrucksvoller gewesen, wenn es Terry Brooks zuvor im Laufe der Handlung gelungen wäre, uns Shea als einen wirklich lebendigen und komplexen Charakter nahezubringen. Dennoch ist sie ohne Zweifel ziemlich interessant. 
Wirklich faszinierend wird es jedoch, wenn wir erfahren, warum das Schwert die Kraft besitzt, den Dämonen-Lord mit einer einzigen Berührung zu vernichten. Für den Dunklen Herrscher bedeutet wahre Selbsterkenntnis den Tod, weil er in Wahrheit schon lange aufgehört hat, zu existieren!
Schon vor langer Zeit hatten die Mittel, mit denen es ihm gelungen war, sein sterbliches Leben zu verlängern, versagt, und sein Körper war gestorben. Seine besessene Überzeugung, dass er nicht vergehen konnte, hielt jedoch einen Teil von ihm am Leben [...] Seinen eigenen Tod bestreitend, hielt er seinen leblosen Körper zusammen, um die Unsterblichkeit zu erlangen, die ihm  versagt worden war [...] Aber nun zwang das Schwert ihn, sich als das zu erkennen, was er in Wirklichkeit war -- eine verrottete, leblose Hülle, aufrechterhalten nur durch einen irrigen Glauben an seine eigene Wirklichkeit, nichts als Schein, eine Vorspiegelung, allein von Willenskraft geschaffen, so flüchtig wie das körperliche Wesen, das zu sein er vorgab. Es war eine Lüge, die in den Ängsten und Zweifeln sterblicher Menschen existiert hatte und gediehen war, eine Lüge, die er geschaffen hatte, um die Wahrheit zu verhüllen.
Diese überraschende finale Wendung macht The Sword of Shannara natürlich nicht zu einem besseren Roman, aber ich finde sie ausgesprochen spannend. Mit ihr kehrt Terry Brooks zu dem Motiv zurück, dass er schon einmal im Zusammenhang mit Sheas Auserwähltenrolle angeschnitten hatte. So wie diese nicht auf Schicksal oder göttlicher Berufung, sondern auf aus Missverständnissen erwachsenen Mythen basiert, die aufgrund des Glaubens der Menschen zu einer realen Macht geworden sind, ist auch der Dämonen-Lord keine Verkörperung eines metaphysischen, realen "Bösen", sondern das Produkt irriger Überzeugungen. Im Grunde sind sie beide Lügen!
Soweit ich weiß, hat Terry Brooks diese faszinierende Idee in keinem seiner späteren Shannara - Bücher noch einmal aufgenommen. Was ich sehr schade finde. 
Völlig zurecht gilt The Sword of Shannara als ein ziemlich unverschämtes Tolkien - Rip-off, doch in "philosophischer" Hinsicht steht Brooks' Erstling dem Lord of the Rings ferner als Elfstones und Wishsong. Die finale Konfrontation zwischen Shea und dem Dämonen-Lord offenbart uns, dass der ganze epische Kampf "Gut gegen Böse" in Wahrheit kein Ringen zwischen real existierenden Mächten, sondern das Produkt von Lügen, Missverständnissen, Fehleinschätzungen ist. Nur weil die Menschen an die Existenz von "Auserwählten" und "Dunklen Herrschern" glauben wollen, existieren diese auch! 

Diese Expedition begann mit der Frage, ob der Umstand, dass Terry Brooks in seinem Debütroman viele Figuren und Plotelemente des Lord of the Rings nachahmt, ausreicht, um daraus schließen zu können, dass die Geschichte auch von dem gleichen konservativen, romantisch-feudalen Geist erfüllt ist. Ich denke, ich kann diese nun mit einem deutlichen "nein" beantworten. The Sword of Shannara liegt vielmehr eine mehr oder weniger liberale, humanistische Weltanschauung zu Grunde. Ob es dem Autor besonders gut gelungen ist, diese auf erzählerische Weise umzusetzen, ist natürlich eine ganz andere Frage, aber die Werte, die er in seiner Geschichte auszudrücken versucht, sind der Wunsch nach Frieden und das Verlangen, Vorurteile und Missverständnisse zu überwinden. Der Weg dorthin führt nicht über das Sich-Einfügen in eine ewige gottgegebene Weltordnung, wie bei Tolkien, sondern über den Mut zur Selbsterkenntnis. Es ist kein gerader oder einfacher Weg, doch es ist ein Weg, den die Menschen aus eigener Kraft zurücklegen können, wenn sie denn nur wollen.

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