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Mittwoch, 30. Oktober 2013

"We know now that in the early years of the 20th century ..."

Heute vor fünfundsiebzig Jahren, am Abend des 30. Oktober 1938, strahlte CBS Radio als Teil der Serie The Mercury Theatre On Air eine Adaption von H.G. Wells' The War of the Worlds aus. Ein Ereignis, das zur Legende werden sollte. Das von Orson Welles geschaffene Hörspiel ahmte – von seinem Schlussteil abgesehen – das Format zeitgenössischer Radioberichterstattungen nach, und viele, die erst zwischendurch eingeschaltet hatten, glaubten offenbar, eine authentische Nachrichtensendung über den Beginn einer marsianischen Invasion zu hören. Berichte über den Ausbruch einer Massenpanik scheinen nach neueren Erkenntnissen zwar übertrieben gewesen zu sein, doch kann kein Zweifel darüber bestehen, dass War of the Worlds auf sehr effektvolle Weise die Ängste vieler Amerikaner der Zeit ansprach. Der Aufstieg des Faschismus in Europa, der Spanische Bürgerkrieg, der immer aggressivere Expansionsdrang des Dritten Reiches, die Zerstückelung der Tschechoslowakai, die Invasion Chinas durch die japanische Armee – Nachrichten wie diese schürten verständlicherweise die Furcht vor dem Ausbruch eines neuen weltweiten Krieges zwischen den Großmächten. Eines Krieges, der irgendwann auch die Vereinigten Staaten erreichen könnte.

In den Jahren zuvor hatte Orson Welles sich bereits einen Namen als genialer und innovativer Theaterregisseur gemacht. Dabei hatte er zuerst im Rahmen des Federal Theatre Project* gearbeitet, um 1937 schließlich das Mercury Theatre zu gründen. Zu seinen größten Erfolgen gehörten eine Inszenierung von Macbeth mit dem afroamerikanischen Ensemble der Negro Theatre Unit**, eine stark von neuartiger Lichtregie geprägte Adaption von Christopher Marlowes The Tragical History of Dr. Faustus, die Uraufführung von Marc Blitzsteins "Arbeiteroper" The Cradle Will Rock sowie eine Inszenierung von Shakespeares Julius Caesar, bei der die Handlung in das faschistische Italien der Gegenwart verlegt worden war.
Daneben hatte Welles seit 1934 regelmäßig für das Radio gearbeitet. Dem breiten Publikum am bekanntesten war er vermutlich als die Stimme von Lamon Cranston, dem Helden der äußerst populären Abenteuerserie The Shadow. Ab Juli 1938 präsentierten er und das Ensemble des Mercury Theatre dann allwöchentlich die Adaption eines großen Werkes der Weltliteratur, von Bram Stokers Dracula und Charles Dickens' A Tale of Two Cities über Alexandre Dumas' Count of Monte Christo und Chestertons The Man Who Was Thursday bis zu Charlotte Brontës Jane Eyre und Jules Vernes Around the World in Eighty Days. Am 30. Oktober war schließlich The War of the Worlds an der Reihe:



Wells' 1898 veröffentlichter Roman besitzt eine faszinierende Ambiguität. Einerseits steht er in der Tradition der sog. "Invasion Literature", die heute zwar weitgehend vergessen sein dürfte, der wir mit Sakis When William Came aber zumindest ein Meisterwerk verdanken und ohne die Kim Newman vielleicht nie Anno Dracula geschrieben hätte. In Reaktion auf Preußens Sieg über Frankreich 1871 und den darauf folgenden raschen Aufstieg des Deutschen Reiches zu einer ökonomischen, politischen und militärischen Großmacht erschienen in Großbritannien eine Reihe von Romanen, die eine Invasion Englands durch eine fremde Macht schilderten. Angesichts des neuen und aggressiven Rivalen wollten die Verfasser dieser Bücher das britische Publikum aus seiner trägen Selbstzufriedenheit reißen. Spuren davon finden sich auch in War of the Worlds, doch beabsichtigte Wells offenbar zugleich, seinen Lesern vor Augen zu führen, wie sich irgendwelche "primitiven" und "zurückgebliebenen" Völker fühlen mussten, wenn die Kanonenschiffe des Empire vor ihrer Küste auftauchten, indem er im Herzen des britischen Weltreichs plötzlich die Streitmacht eines technisch unendlich überlegenen Eroberers auftauchen ließ.
In Orson Welles' Adaption findet sich kaum etwas von dieser Ambiguität, was einerseits schade, andererseits aber auch verständlich ist. Die US-Amerikaner von 1938 fühlten sich, anders als die Briten von 1898, nicht als die Bürger eines Imperiums, das zur Weltherrschaft ausersehen war. Die Große Depression hatte unter ihnen vielmehr entweder ein Gefühl tiefer Verunsicherung verbreitet oder sie in immer heftigere soziale Kämpfe verstrickt. Es ist darum nur logisch, dass das Hörspiel den imperialismuskritischen Subtext seiner Vorlage nicht aufgreift. Was nicht heißen soll, dass es sich bei ihm um eine oberflächliche oder uninteressante Version des Stoffes handeln würde. Und mit der Figur des ehemaligen Milizionärs, dem Professor Pierson im Schlussteil begegnet, enthält es zumindest eine relativ deutliche Kritik am uramerikanischen Ideal des "rugged individualist".
  
Im Oktober 1940 trafen sich Orson Welles und H.G. Wells in San Antonio (Texas). Die Begegnung wurde vom örtlichen Radiosender KTSA festgehalten:



The War of Worlds und die angeblich durch die Sendung ausgelöste Massenpanik machten Orson Welles zu einer nationalen Berühmtheit, was mit ein Grund für das außergewöhnliche Angebot von RKO Radio Pictures gewesen sein dürfte, das den Regisseur schließlich nach Hollywood lockte, wo er am 29. Juni 1940 mit den Dreharbeiten an Citizen Kane begann ...


P.S.: Wer das Script des Hörspiels einmal nachlesen möchte, kann dies hier tun. 

* Eines der von der Works Progress Agency finanzierten künstlerischen Programme, die Teil des New Deal waren.
** Hier kann man sich die einzigen erhaltenen Filmaufnahmen dieser legendären Inszenierung anschauen.

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