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Mittwoch, 16. Oktober 2013

Die Vielfalt der Fantasy

Auf  Lake Hermanstadt erscheint derzeit eine Reihe sehr lesenswerter Blogposts unter dem Titel Romance, Romantik und Fantasy, in deren zweitem Teil sich der gute "Anubis" u.a. auch mit Frank Weinreichs Auffassung von Fantasy auseinandersetzt, welche der Autor in seinem Büchlein Fantasy – Einführung sowie einer Reihe von Essays, die man auf seiner Webseite  nachlesen kann, dargelegt hat. Was selbige vor allem auszeichnet, ist, dass Weinreich die Fantasy als einen direkten Nachkommen des Mythos betrachtet. Und dass nicht nur, weil sich in vielen Fantasyerzählungen mythische Wesen wie Götter, Drachen, Riesen oder Elben tummeln. Die Verwandtschaft bestehe vielmehr auch auf funktionaler Ebene. 
Der Mythos hatte die Aufgabe, die Welt in ihrer Gesamtheit zu erklären und dem individuellen wie dem gesellschaftlichen Dasein einen Sinn zu verleihen. Doch Aufklärung, Rationalismus, Wissenschaft und Technik haben den Mythos entmachtet, so dass er seine Mission nicht länger erfüllen kann. Weinreich hält dies für eine äußerst bedenkliche Entwicklung. Er ist überzeugt davon, "dass es ein in der Psyche der Menschen angelegtes Bedürfnis nach Metaphysik und von die Erfahrungsgrenzen überschreitenden Erklärungsmustern gibt" (1), weshalb die "Entzauberung der Welt" in der Moderne "auf einer intuitiven und emotionalen Ebene eine Lücke" hinterlassen habe, "die Unzufriedenheit und Orientierungslosigkeit bewirkte. Eine Lücke, die erst das mythische Denken zu schließen imstande ist".(2)
An dieser Stelle könne die Fantasy helfend eingreifen:
Wichtiger aber ist der Mythos auch für die Fantasy [...] in seiner sinnstiftenden Funktion. Das heißt nun nicht etwa, dass moderne Fantasy funktional mit einem Welterklärungsanspruch und also wie ehedem als 'Sachtext' aufträte – das geht nicht mehr. Es heißt aber, dass sich Fantasy darum bemüht, eine Stimmung zu erzeugen, die den Rezipierenden von Buch, Film, Comic, Kunst, Musik und Spiel nicht nur in eine andere Welt versetzt – das tut die Spionageerzählung auch, wenn sie die Zuschauer mit Rollo Martins das Nachkriegs-Wien nach Harry Lime durchsuchen lässt. (3) Es geht vielmehr darum, sie oder ihn in eine Welt zu versetzen, die mit einem faktischen transzendentalen Überbau ausgestattet ist und so das Bedürfnis nach Transzendenz und metaphysischer Wirklichkeit zu bedienen, wenn auch nur mehr als Spiel und Experiment. Und darin findet Fantasy ein Alleinstellungsmerkmal: sie ist die einzige Literaturform, die diese Weite der Thematik aufweist und ernst nimmt und die mit der Einbeziehung des Übernatürlichen in die Unendlichkeit verweist. (4)
Oder noch etwas extremer formuliert:
Fantasy ist in den meisten Fällen (auch) eine Inszenierung mythischen Denkens, sei es actiongeladen auf der Brücke von Khazad-dûm oder kontemplativ in der Atrabeth Finrod ah Andreth. Der Mythos vermag dabei innerhalb der Werke wie auch außerhalb in der Primärwelt zu funktionieren („applicability“ in Tolkiens Sinn). So verstanden wehrt sich Fantasy auch gegen die ernüchterte Moderne und einen übermächtigen Logos. So verstanden berührt Fantasy die „mächtigere Realität“ jenseits der Grenzen der Erfahrung und bietet sich auch an, Sinn zu verleihen. Und die Lektüre von [Karen Armstrongs] Eine kurze Geschichte des Mythos hilft, das zu begreifen: „Wenn professionelle Religionsführer uns nicht in mythischer Weisheit zu unterweisen vermögen, können unsere Künstler und Romanschriftsteller vielleicht diese priesterliche Aufgabe übernehmen und unserer verlorenen, beschädigten Welt neue Einsichten bringen". (5)
Um diese Auffassung von Fantasy von weltanschaulicher Seite aus kritisch unter die Lupe zu nehmen, fehlt mir momentan die Muße. Doch gibt es noch einen weiteren Grund, warum sie eine so heftige Abneigung in mir hervorruft. 
Vielleicht tue ich Frank Weinreich damit etwas Unrecht, aber in meinen Augen reduziert er ein unglaublich vielgestaltiges Genre auf einen Inhalt, eine Funktion und zerstört damit einen Gutteil seines Reizes. Ohne Zweifel gibt es Fantasyromane, die man so lesen kann, wie er dies tut. Das berühmteste Beispiel dafür sind ganz sicher J.R.R. Tolkiens Werke, auf die sich Weinreich denn auch in den allermeisten Fällen bezieht. Aber daneben existieren unzählige andere Bücher, in denen das Übernatürliche (Magie, Götter etc.) zwar einen festen Platz besitzt, die jedoch nicht das Gefühl einer quasimythischen Weltordnung vermitteln. So fände ich es z.B. sehr interessant zu erfahren, wie der gute Frank einem unvoreingenommenen Leser zu vermitteln versuchen würde, auf welche Weise Fritz Leibers Stories um Fafhrd und den Gray Mouser, Steven Brusts Vlad Taltos - Bücher, die Bordertown - Anthologien, Michael Swanwicks The Iron Dragon's Daughter, Jeff VanderMeers The City of Saints and Madmen oder China Miévilles Bas-Lag - Romane ihrer "sinnstiftenden", auf "Metaphysik" und "Transzendenz" ausgerichteten Aufgabe gerecht werden. 
Das wirklich ärgerliche an Weinreichs Definition der Fantasy ist für mich, dass dabei die wunderbare Vielfalt des Genres verloren geht. In ihrer Beschäftigung mit der Welt und dem Menschen {und das ist für mich die Funktion aller Kunst} weist die phantastische Literatur eine ebenso große Bandbreite auf wie die realistische Literatur. Ich brauche mir ja bloß nur einmal meine aktuelle Lektüre anzuschauen. Zur Zeit lese ich gerade den dritten Band von Liliana Bodocs faszinierender Grenzländer-Saga. Ein Werk, das ganz gut in Weinreichs Konzept passen würde, enthält es doch in der Tat ein sehr deutlich auszumachendes "mythisches" Element. Wer danach verlangt, könnte aus ihm wohl wirklich eine Befriedigung seines Verlangens nach dem "Metaphysischen" beziehen. Doch welches Buch wartet da schon als nächstes auf meinem SUB? Scott Lynchs Red Seas under Red Skies! Und nach der Lektüre von The Lies of Locke Lamora wage ich zu behaupten, dass dieser Roman kaum geeignet sein wird, das Verlangen nach einer "mythischen Sinnstiftung" zu befriedigen.
 

(1) Frank Weinreich: Fantasy – Was ist das und was soll das?
(2) Frank Weinreich: Mensch und Mythos. Überlegungen zur Bedeutung des Mythischen für Mensch und Gesellschaft.
(3) Als fanatischem Filmliebhaber sei es mir verziehen, dass sich nach der Lektüre dieses Satzes ein leicht versnobtes Grinsen auf mein Gesicht geschlichen hat. Carol Reeds The Third Man (1949) ist einer der großen Klassiker des Film Noir, mit Spionage aber hat er absolut nichts zu tun. Auch trägt sein Protagonist natürlich nicht den doch etwas lächerlich anmutenden Vornamen "Rollo". Der auf Einladung seines alten Kumpels Harry Lime ins Nachkriegswien gereiste Pulp-Schriftsteller heißt vielmehr Holly Martins.
(5) Frank Weinreich: Mensch und Mythos.

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