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Freitag, 18. Oktober 2013

Alice im Wunderland des jungen Films

Ursprünglich wollte ich diesen Post mit einem großen Gemecker darüber beginnen, wie inflationär oft die böse und ideenlose Unterhaltungsindustrie in den letzten Jahren den Motivschatz von Lewis Carrolls Alice's Adventures in Wonderland geplündert habe. Dabei hatte ich neben Tim Burtons filmischer Monstrosität von 2010 u.a. das Computerspiel Alice: Madness Returns und die gerade angelaufene Spin-Off-Serie Once Upon A Time In Wonderland im Sinn. Aber ein kurzer Blick auf diese Liste von Film- und Fernsehadaptionen hat mich daran zweifeln lassen, ob solche Raubzüge in letzter Zeit tatsächlich häufiger stattgefunden haben als früher. Ähnlich wie Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes oder Mary Shelleys Frankenstein gehört Alice's Adventures in Wonderland zu jenen Klassikern, die seit den frühesten Tagen des Films immer wieder ihren Weg auf die Leinwand und später den Fernsehschirm gefunden haben. Das einzige, was sich dabei geändert haben mag, ist, dass in der Vergangenheit häufiger die Story selbst verfilmt wurde, während heute eher in postmoderner Manier mit Figuren und Motiven aus ihr herumgespielt wird. Aber auch das ist keine brandneue Entwicklung mehr.

Ihren allerersten Ausflug in die Welt der bewegten Bilder unternahmen Alice, das Weiße Kaninchen, die Cheshire-Katze und der Verrückte Hutmacher vor genau einhundertzehn Jahren. Verantwortlich dafür war der Brite Cecil Milton Hepworth (1874-1953), einer der großen Pioniere des frühen Films. 
Sein Vater T.C. Hepworth war ein berühmter Meister der Laterna Magica gewesen, und so setzte der von Fotographie und Technik begeisterte Cecil in gewisser Weise eine Familientradition fort, als er sich der brandneuen Erfindung der Kinematographie zuwandte. 1895 hatte er Robert Pauls Vorführung der allerersten in England produzierten Filme auf der Empire of India - Ausstellung in Earl's Court beigewohnt und war sofort Feuer und Flamme gewesen. Ein Jahr später bereits assistierte er Birt Acre, als dieser am 21. Juli einen seiner Filme vor königlichem Publikum in Marlborough House vorführte. Zu Beginn desselben Jahres war das Kinetoskop von den ersten echten Projektoren abgelöst worden, was dem Medium ganz neue Entfaltungsmöglichkeiten eröffnete. Dabei fand es seine wahre Heimstatt nicht in erlauchten Residenzen wie Marlborough House, sondern in den zahlreichen Music Halls des Landes, in denen umherreisende Schausteller die Massen alsbald mit ihren bewegten Bildern entzückten und begeisterten. Und obwohl Hepworth bereits 1896 bei einem Film Regie geführt hatte – dem für Robert Paul produzierten The Egg-Laying Man, begab auch er sich 1897 erst einmal auf eine Schaustellertour, verfasste nebenbei aber auch das erste in Großbritannien erscheinende Buch über die neue Technik: The A.B.C. of the Cinematograph. 1898 wurden Hepworth und sein Cousin Monty Wicks von Charles Urbans für Maguire & Baucus engagiert, ein Jahr später aber bereits wieder entlassen, woraufhin sie ihre eigene Firma  Hepworth Manufacturing Company gründeten. Hepwix wurde rasch zum führenden englischen Filmproduzenten der Zeit. Eine Position, die das Unternehmen bis zum 1. Weltkrieg innebehalten sollte.
Die Nachfrage nach Filmen war gewaltig. Durchschnittlich produzierte Hepwix drei Stück pro Woche, wobei man natürlich nicht vergessen darf, dass diese meist nur wenige Minuten lang waren. Als sich Cecil Hepworth 1903 daran machte, einige Szenen aus Alice's Adventures in Wonderland auf Celluloid zu bannen, war dies ein äußerst ehrgeiziges Projekt, sollte der Film doch die überwältigende Länge von 12 Minuten besitzen. Hinzu kam, dass man sich bemühte, möglichst genau die berühmten Originalillustrationen von Sir John Tenniel nachzuahmen, was eine für die Zeit ungewöhnlich aufwendige Kostümierung erforderte. Die Regiearbeit teilte sich Hepworth mit Percy Stow, seine Ehefrau* spielte das Weiße Kaninchen und die Herzkönigin, er selbst übernahm den Part des Frosch-Lakaien und Alice wurde von Mabel Clark verkörpert, die als eine Art "Mädchen-für-alles" bei Hepwix arbeitete.

In seiner ganzen Länge ist der Film leider verlorengegangen. Doch das British Film Institute (BFI) hat 2010 dankenswerterweise eine restaurierte Fassung der noch existierenden 9½ Minuten der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht:



Wie man sieht handelt es sich nicht eigentlich um eine "Verfilmung" von Alice's Adventures in Wonderland. Der Film besteht vielmehr aus der Aneinanderreihung einiger besonders markanter Szenen aus der Erzählung. Dafür gibt es einen guten Grund. Seiner außergewöhnlichen Länge wegen wäre der Film in seiner Gesamtheit für viele potentielle Kunden nämlich eher uniteressant gewesen. Die Schausteller unterhielten ihr Publikum in den Music Halls für gewöhnlich mit der Präsentation einiger kurzer, unterhaltsamer Sequenzen.  Dass man mit Hilfe des Films auch eine Geschichte erzählen könnte, war eine noch weitgehend unbekannte Idee. Und so verkaufte Hepwix in erster Linie einzelne Szenen aus Alice in Wonderland, und nicht den gesamten Film.

Zwei Jahre später freilich sollte Cecil Hepworth mit Rescued by Rover der Öffentlichkeit einen Streifen präsentieren, der in dieser Hinsicht ein echter Meilenstein der Filmgeschichte ist. Obwohl nur halb so lang wie Alice stellt der von Hepworth und Lewin Fitzhamon geschaffene Streifen über die Entführung eines Babys und dessen Rettung durch einen Hund einen gewaltigen Schritt vorwärts auf dem Weg des Films vom Spektakulum zu einem erzählenden Medium dar. In der Herausbildung einer filmästhetischen Sprache war dies wohl das einzige Mal, dass der britische Film die Avantgarde bildete. {Und daneben machte Rescued by Rover außerdem den Collie Blair zum ersten tierischen Filmstar.}

   


* Weder Wikipedia, noch IMDB, noch BFI Screenonline erwähnen ihren vollen Namen. In den Besetzungslisten findet sich stets nur der Eintrag "Mrs. Hepworth".

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