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Samstag, 1. Dezember 2012

Brauchen wir utopisches Denken? - Teil 2

Teil 1 - Teil 3

Vor einigen Tagen hat mir Millay Hyatt eine sehr freundliche E-Mail geschschickt, in der sie u.a. erklärt, ihr Aufsatz sei lange vor dem Ausbruch der Ägyptischen Revolution geschrieben worden. Ich werde meine eigene Polemik nicht entsprechend umarbeiten, dachte aber, es sei richtig, dies meinen Lesern & Leserinnen mitzuteilen. (6. Oktober 2013)

Es fällt nicht schwer zu erkennen, dass Millay Hyatts Hinwendung zur Utopie ein tiefer Pessimismus zugrundeliegt. Der Kapitalismus erscheint ihr als ein de facto unüberwindliches System, wofür sie – ganz im Geiste ihrer idealistischen Geschichtsauffassung – eine recht originelle Erklärung findet:

Der Kapitalismus hat kein gesellschaftliches Ziel, versucht nichts zu erreichen, kann also auch nicht als gesellschaftliches System scheitern.
Als wäre in der Geschichte der Untergang eines Gesellschaftssystems jemals dadurch ausgelöst worden, dass es seine selbstgesteckten Ziele nicht erreichen konnte. Blickt man zurück auf Ordnungen wie den Feudalismus oder die antike Sklavenwirtschaft, so springt die Unsinnigkeit dieser Behauptung unmittelbar ins Auge. Aber auch die stalinistischen Regime fanden ihr Ende nicht deswegen, weil es ihnen nicht gelungen wäre, den "Sozialismus" – sprich eine auf sozialer Gleichheit und Solidarität beruhende Gesellschaft – aufzubauen (was ja zumindest ihr offiziell proklamiertes Ziel war). Schon 1936 hatte Leo Trotzki in seiner brillanten Analyse der Sowjetunion Die verratene Revolution herausgearbeitet, warum dem Stalinismus keine historische Zukunft beschieden sein werde. Die Entwicklungen liefen nicht so schnell und geradlinig ab, wie es der große Marxist angenommen hatte, aber letztenendes bestätigte sich seine Vorhersage. Die im nationalen Rahmen organisierte (und zudem bürokratisch, d.h. ineffizient organisierte) Wirtschaft konnte sich auf Dauer nicht neben der immer stärker global integrierten kapitalistischen Weltwirtschaft behaupten. Im Falle der UdSSR war es dann vor allem der sinkende Ölpreis in den 80er Jahren, der ihr endgültig den Todesstoß versetzte. Die Bürokratie reagierte darauf, indem sie unter der Führung Gorbatschows begann, sich selbst in eine neue Kapitalistenklasse zu verwandeln. Aus ihren Reihen erwuchsen die künftigen Oligarchen, die schon in der Ära von Glastnost und Perestroika, dann jedoch vor allem unter Boris Jelzin durch das hemmungslose Ausplündern der ehemals staatlichen Industrie gewaltige Reichtümer zusammenrafften. Die Massenproteste, die Ende der 80er Jahre in vielen osteuropäischen Ländern ausbrachen, beschleunigten diesen Prozess, hatten jedoch keinen maßgeblichen Einfluss auf seinen Inhalt. In China unterschied sich die Entwicklung lediglich der Form nach, insoweit der stalinistische Staatsapparat unverändert erhalten blieb, um die Arbeiterklasse nunmehr im Interesse der neuen Bourgeoisie und des internationalen Kapitals zu unterdrücken. (1)

Ignoriert Hyatt einerseits die materiellen Faktoren, die letztenendes das Schicksal jedes Gesellschaftssystems bestimmen, so unterschätzt sie andererseits die Rolle, die der ideologische Faktor im Kapitalismus spielt. Sie schreibt:

Der Kapitalismus hat keine Ansprüche, außer den des wirtschaftlichen Wachstums, und wenn es damit nicht funktioniert, dann scheitern einzelne Menschen, scheitern Unternehmen, im Extremfall gehen auch Regierungen bankrott, der Kapitalismus scheitert aber noch lange nicht.
Sehen wir einmal davon ab, dass Profitakkumulation und nicht "wirtschaftliches Wachstum" per se Ziel und Motor der kapitalistischen Ökonomie ist,  so sollte man die Bedeutung all der hübschen Redensarten von "allgemeinem Wohlstand", "Selbstbestimmung" und "Freiheit" nicht außer Acht lassen, mit denen Politiker und Ideologen die Marktwirtschaft verbrämen. Selbst Milton Friedman, sicher einer der lautstärksten Lobsinger des Kapitalismus, verband seine Hymnen auf den freien Markt regelmäßig mit liberalen Phrasen über die Demokratie. {Was ihn freilich nicht davon abhielt, Chiles faschistischen Diktator Pinochet – dessen Wirtschaftsprogramm von ihm und seinen Chicago Boys entwickelt worden war – über den grünen Klee zu loben.} Würde die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung diesen Behauptungen nicht nach wie vor zumindest partiell Glauben schenken, so wäre es um die scheinbare Unerschütterlichkeit des Kapitalismus sehr viel weniger gut bestellt.
Dass Hyatt diesen Aspekt übergeht, mag auch daran liegen, dass sie selbst dieser Ideologie in gewisser Weise verhaftet ist. Entkleidet man ihre "bescheidenen Utopien" von allem schmückenden Beiwerk, so handelt es sich bei ihnen um nichts anderes als idealisierte mittelständische Unternehmen. Diese repräsentieren für sie die "Freiheit", welche sie sowohl dem "real existierenden Kapitalismus" als auch der "Tradition der schwerfälligen, zentralistischen, die Freiheit einengenden Utopien" entgegenstellt. Darin zeigt sich recht deutlich, von welcher sozialen Warte aus die Autorin die Gesellschaft betrachtet. Dazu passt denn auch folgende, bemerkenswerte Äußerung:

Zwar schwappten 2008/2009 Ängste über den Kollaps des kapitalistischen Systems hoch, die sich auch zeitweilig in utopische Fantasien über eine mögliche bessere Welt danach äußerten. Aber auch hier ist man schnell zur Tagesordnung zurückgekehrt.
Wer ist zur Tagesordnung zurückgekehrt, muss man sich da fragen. Die bürgerlichen Politiker sind es nicht, auch wenn sie dies gerne öffentlich beteuern. Sie stolpern vielmehr von einer Krise zur nächsten, sehen jeden ihrer Lösungsversuche nur neue Probleme heraufbeschwören und verstricken sich in immer heftigere Konflikte. Einig sind sie sich bloß darin, dass die arbeitende Bevölkerung die Zeche für die tiefste Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren zu zahlen hat. Und diese wiederum ist ebenfalls nicht zur Tagesordnung zurückgekehrt. Wie sollte sie dies angesichts dramatisch ansteigender Arbeitslosigkeit, sinkender Löhne, immer neuer, drastischer Sozialkürzungen usw.? Es vergeht kaum eine Woche ohne Massenproteste oder -streiks, sei es in Südeuropa, den Vereinigten Staaten, China, Ägypten, Südafrika ... All jene, die gezwungen sind, sich auf die eine oder andere Weise unmittelbar mit den Realitäten der Krise auseinanderzusetzen, haben gar nicht die Möglichkeit, so weiter zu machen wie bisher.
Wer tatsächlich sehr rasch zur Tagesordnung zurückgekehrt zu sein scheint, ist die Mehrheit der "linken" akademischen Mittelklasse. Hyatts Essay trägt als Datum den 22. April 2011, d.h. er ist mehr als zwei Monate nach dem Ausbruch der Ägyptischen Revolution erschienen; dem Ereignis, das wie kein zweites der letzten Jahrzehnte die Bedeutung des Klassenkampfes bestätigt und die potentielle Macht der Arbeiterklasse unter Beweis gestellt hat. Seit längerem wurden damit Fragen der revolutionären Politik wieder ganz unmittelbar auf die Tagesordnung gesetzt. Wie kleinkarriert und vor allem wie wirklichkeitsfremd nehmen sich vor diesem Hintergrund Hyatts "bescheidene Utopien" aus, die sie selbst doch vermutlich für einen Ausbund an Realismus hält. Revolutionen hingegen – wenn sie über "den alten Zwist zwischen Reformern und Revoluzzern" schreibt, macht bereits die Wortwahl deutlich, dass sie sich unter "Revolutionären" bloß spätpubertierende Studenten mit Pali-Tuch und Che Guevara - T-Shirt vorstellen kann. Die Revolutionäre vom Tahrir-Platz freilich sahen anders aus. Und die gerade ausgebrochenen Massenproteste gegen den neuen Möchtegern-Diktator Mohammed Mursi und die Muslimbruderschaft zeigen deutlich, dass das Feuer des Aufstands im Land am Nil noch lange nicht erloschen ist.

Dass das wiedererwachte Interesse an der Utopie in Gefühlen von gesellschaftlichem Pessimismus und politischer Demoralisation wurzelt, ist eine Beobachtung, die sich ohne Schwierigkeiten verallgemeinern lässt. Bei Fredric Jameson mögen sich diese Empfindungen in sehr viel 'tiefgründiger' und 'komplexer' klingende, philosophische Formulierungen hüllen, sind aber deshalb nicht weniger deutlich zu erkennen. Man nehme z.B. folgende zwei Passagen, die Hyatt in ihrem Essay zitiert: 

Der innerste Kern der Utopie, wo sie am dynamischsten politisch ist, ist genau unsere Unfähigkeit, sie uns vorzustellen, unser Unvermögen, sie herzustellen als Vision, unser Scheitern daran, das Andere dessen, was ist, zu entwerfen - ein Scheitern, welches uns wieder allein lassen muss mit dieser Geschichte, wie ein Feuerwerk, das sich im Nachthimmel wieder auflöst. [...]
Der erkenntnistheoretische Wert der Utopie liegt darin, dass sie uns die Mauern spüren lässt, die unseren Geist umschließen, die unsichtbaren Grenzen, die sie uns durch bloße Induktion zu erkennen gibt, sowie die Art und Weise, in der unsere Einbildungskraft an der Produktionsweise selbst festhängt, im Schlamm der Gegenwart, in der unsere utopischen Flügelschuhe stecken, überzeugt davon, es handele sich um die Schwerkraft an sich.
Diese "Erkenntnis über die kognitive Verstrickung in der eigenen Realität" hält offenbar auch 'dangerousbeans' für einen bemerkenswerten Gedanken. Doch was genau sagt Jameson hier eigentlich?
Zuerst einmal eine simple Binsenwahrheit: Wenn wir versuchen, uns konkret vorzustellen, wie das Leben in einer radikal anders organisierten, 'utopischen' Gesellschaft aussehen würde, wird uns dies bestenfalls ansatzweise gelingen können, da wir selbst durch die gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt worden sind, unter denen wir leben. Das ist zweifellos richtig, aber nicht eben tiefgründig. Die Menschen des Mittelalters etwa dachten und empfanden in vielem völlig anders als wir. Uns diese fremde Weltsicht zu vergegenwärtigen, fällt nicht leicht, wie jeder weiß, der sich ein bisschen mit Mentalitätsgeschichte beschäftigt hat.  Ebenso wird es sich mit Menschen verhalten, die in einer klassenlosen Gesellschaft aufgewachsen sind. Bestenfalls können wir da Spekulationen anstellen, was mitunter recht interessant sein kann – wie z.B. William Morris' News From Nowhere zeigt –, aber natürlich kein konkretes Bild dessen vermittelt, "wie es wirklich sein wird".
Bei Jameson jedoch – so zumindest mein Verdacht – verbirgt sich hinter der Formulierung dieser einfachen Tatsache noch ganz etwas anderes. In seinen Augen ist der Kapitalismus eine Macht, die alle Bereiche des menschlichen Lebens – angefangen bei den allgemeinen gesellschaftlichen Strukturen bis hin zur individuellen Psyche  – praktisch unangefochten beherrscht. Dieser Eindruck entsteht zumindest, wenn man ein wenig in seinem Buch Postmodernism or The Cultural Logic of Late Capitalism herumblättert. Hinter all seinen oft ziemlich kryptisch anmutenden Ausführungen verbirgt sich ein Gefühl tiefer Hilflosigkeit. Wenn er schreibt, wir könnten uns "das Andere dessen, was ist ," nicht einmal richtig vorstellen, so gibt er damit ganz derselben Hoffnungslosigkeit Ausdruck wie in seinem bekannten Ausspruch von 1989: "Wir können uns heute scheinbar leichter die komplette Zerstörung der Erde und der Natur vorstellen, als den Zusammenbruch des Spätkapitalismus." Der Kapitalismus erscheint ihm letztlich unüberwindlich. In seinen Augen ist er so allmächtig, dass er sogar unsere Gedanken und Fantasien beherrscht. Zugleich weiß Jameson sehr gut, dass in genau dieser Perspektivlosigkeit die Wurzel des neuen Utopismus liegt:
Utopia seems to have recovered its vitality as a political slogan and a politically energizing perspective. Indeed, a whole new generation of the post-globalization Left ... has more and more frequently been willing to adopt this slogan, in a situation in which the discrediting of communist and socialist parties alike, and the skepticism about traditional conceptions of revolution, have cleared the discursive field ... What is crippling is not the presence of an enemy but rather the universal belief, not only that this tendency is irreversible, but that the historic alternatives to capitalism have been proven unviable and impossible, and that no other socio-economic system is conceivable, let alone practically available. The Utopians not only offer to conceive of such alternate systems; Utopian form is itself a representational meditation on radical difference, radical otherness, and on the systemic nature of the social totality, to the point where one cannot imagine any fundamental change in our social existence which has not thrown off Utopian visions like so many sparks from a comet. (2)
Es gehört zu Fredric Jamesons besonderen Markenzeichen, gesellschaftliche Trends und Stimmungen scheinbar "kritisch" zu analysieren, nur um sich ihnen dann in allen wichtigen Punkten wie willenlos anzuschließen. Der Grund für diese auf den ersten Blick vielleicht überraschend anmutende politische und intellektuelle Rückgratlosigkeit ist an sich sehr simpel.

Der Utopismus ist bloß die Kehrseite eines vulgären Realismus. Jameson ist {soweit ich das sehen kann} in der Lage, eine ganze Reihe der oberflächlichen Erscheinungsformen unserer heutigen Gesellschaft ziemlich korrekt zu benennen, auch wenn er sich dabei einer unerträglich prätenziösen und verquasten Sprache bedient. Doch sein Blick bleibt an der Oberfläche haften, die tieferliegenden Prozesse, die letztlich die Entwicklung der Gesellschaft bestimmen, bleiben ihm verschlossen. Und so gelangt er ganz automatisch zu einer Anbetung des Faktischen. Der Kapitalismus wirkt unbesiegbar, also ist er unbesiegbar. Ein sehr schönes Beispiel hierfür liefert Jamesons im Juli-August 2000 in der New Left Review erschienener Artikel Globalization and Political Strategy. Was sofort auffällt ist, dass der Autor den Prozess der Globalisierung mit einem gewaltigen Anwachsen der ökonomischen und politischen Macht der USA gleichsetzt:

For when we talk about the spreading power and influence of globalization, aren’t we really referring to the spreading economic and military might of the US? And in speaking of the weakening of the nation-state, are we not actually describing the subordination of the other nation-states to American power, either through consent and collaboration, or by the use of brute force and economic threat?
Jameson scheint wie hypnotisiert von der scheinbaren Allgewalt Washingtons, dabei ist es nun wahrhaftig kein Geheimnis, dass die USA schon seit Jahrzehnten eine Weltmacht im Niedergang sind. Die Globalisierung hat diesen Prozess weder aufgehalten noch umgekehrt. In vielen Punkten hat sie ihn sogar beschleunigt. Ökonomisch und politisch längst nicht mehr die Hegemonialmacht, als die sie aus dem 2. Weltkrieg hervorgegangen waren, besitzen die Vereinigten Staaten nur noch in einem einzigen Bereich eine klare Übermacht über ihre Rivalen: In der Zerstörungskraft ihrer Kriegsmaschinerie, die sie deshalb auch immer rücksichtsloser einsetzen, um ihren fortschreitenden Niedergang irgendwie aufzuhalten. Dass Jameson für diese Entwicklungen völlig blind zu sein scheint, wirkt beinahe grotesk.
Für jemanden, der von sich behauptet, in der Tradition des Marxismus zu stehen, vielleicht noch erstaunlicher ist, dass Jameson kein Wort über die Frage der Klassen verliert. Eine Arbeiterklasse scheint es für ihn entweder nicht zu geben oder er interessiert sich ganz einfach nicht für sie. Nur einmal lässt er eine kurze Bemerkung über die wachsende soziale Ungleichheit in den USA fallen. {Als hätten die ein Monopol darauf!} Der durch den amerikanischen "Kulturimperialismus" herbeigeführten "Standardisierung der Weltkultur" hingegen widmet er einen ganzen Paragraphen!
Bei all dem ist es dann auch nicht weiter verwunderlich, dass Jameson in dem Artikel eigentlich gar keine eigene politische Strategie formuliert, was man bei dem Titel ja vielleicht hätte erwarten können. Vielmehr skizziert er kurz die existierenden Protestbewegungen gegen die Globalisierung und meint dann, man könne sie in Zukunft möglicherweise in irgendeiner amorphen "utopischen" Bewegung zusammenfassen. Von Sozialismus und Internationalismus ist dabei natürlich nicht die Rede, dafür um so mehr von einem neuen Luddismus (Maschinenstürmerei) und allerlei nationalistischen oder kulturnationalistischen 'Widerstandsbewegungen'.

Fredric Jameson steckt selbst bis über den Kopf im "Schlamm der Gegenwart", und seine Philosophie liefert ihm die Argumente, um diesen Zustand als unausweichlich zu betrachten.
Eine wichtige Rolle dabei spielt sein fatalistisches Geschichtsverständnis. Liest man die Einleitung zu Postmodernism or The Cultural Logic of Late Capitalism, so erhält man den Eindruck, als habe sich die Geschichte im 20. Jahrhundert mit eherner Notwendigkeit zu genau dem Punkt hin entwickeln müssen, an dem wir uns heute befinden. Dabei scheint das reale Handeln der Menschen absolut keinen Einfluss auf diesen Verlauf gehabt zu haben. Mancher wird eine solche Sichtweise vielleicht für "gut marxistisch" halten, tatsächlich aber stellt sie bestenfalls eine grobschlächtige Karriktatur des Marxismus dar. Der historische Materialismus geht zwar in der Tat davon aus, dass der geschichtlichen Entwicklung eine Gesetzmäßigkeit innewohnt, die vom Willen der Menschen unabhängig ist. Doch bedeutet das keineswegs, dass das mehr oder weniger bewusste politische Handeln keine eigenwertige Rolle im Ablauf der Ereignisse spielen würde. Wie es Rosa Luxemburg in Umkehrung eines oft einseitig (und damit falsch) verstandenen Ausspruchs von Marx einmal ausgedrückt hat:
Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken. Aber sie machen sie selbst. Das Proletariat ist in seiner Aktion von dem jeweiligen Reifegrad der gesellschaftlichen Entwicklung abhängig, aber die gesellschaftliche Entwicklung geht nicht jenseits des Proletariats vor sich, es ist in gleichem Maße ihre Triebfeder und Ursache, wie es ihr Produkt und ihre Folge ist. Seine Aktion selbst ist mitbestimmender Teil der Geschichte. (3)
In keinem Abschnitt der Menschheitsgeschichte hat die bewusste politische Aktion eine so entscheidende Rolle gespielt wie gerade im 20. Jahrhundert. Was bei Jameson wie ein unausweichliches Fatum erscheint, ist in Wahrheit das Produkt von Jahrzehnten von Klassenkämpfen und politischen Auseinandersetzungen gewesen. Deren Geschichte kritisch aufzuarbeiten und die richtigen Lehren aus ihr zu ziehen, ist eine der wichtigsten Aufgaben, vor die sich eine echte Linke heute gestellt sehen sollte. Und Jamesons Schriften werden sich {so jedenfalls ist mein Eindruck} bei deren Bewältigung als wenig hilfreich erweisen. Seine kurze Zusammenfassung der historischen Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg erwähnt mit keinem Wort die Massenkämpfe jener Zeit und geht ebensowenig auf die Rolle ein, welche die politischen Parteien und Strömungen innerhalb der Arbeiterbewegung und der linken Intelligenzija dabei spielten. In gewisser Hinsicht ist das auch nicht verwunderlich, würde es doch u.a. eine kritische Auseinandersetzung mit der sog. Neuen Linken erfordern, bei deren Entstehung in den USA Jameson selbst in den 50er Jahren eine nicht unwichtige Rolle gespielt hat. Eben dieses Erbe aber will er ausdrücklich bewahrt wissen. Womit wir wieder bei den Wurzeln des Utopismus angekommen wären. Jameson schreibt:
One wants to insist very strongly on the necessity of the reinvention of the Utopian vision in any contemporary politics: this lesson, which Marcuse first taught us, is part of the legacy of the sixties which must never be abandoned in any reevaluation of that period and of our relationship to it. (4)
Eine marxistische "Neubewertung" des Radikalismus der 60er Jahre würde gerade mit den Ideen Herbert Marcuses besonders unbarmherzig ins Gericht gehen müssen. Sie trugen in nicht unbeträchtlichem Maße dazu bei, dass die radikalisierte studentische Jugend keine ernsthaften Versuche unternahm, ihre eigenen politischen Aktionen mit den Kämpfen der Arbeiterklasse zu verbinden. Und überall dort, wo ihr eine solche Verknüpfung durch den Gang der Ereignisse schließlich aufgezwungen wurde (so wie während des Generalstreiks vom Mai/Juni 1968 in Frankreich), erwiesen sie sich als schwer zu überwindendes Hindernis auf dem Weg zu einer wirklich revolutionären Perspektive.
Marcuse, der glaubte, den Marxismus durch eine ordentliche Dosis Sigmund Freud auffrischen zu müssen, war der wohl radikalste Vertreter der Frankfurter Schule, doch in einem zentralen Punkt stimmte er völlig mit Adorno, Horkheimer und Konsorten überein. Sie alle waren davon überzeugt, dass die Arbeiterklasse nicht länger in der Lage sei, die Rolle des "Subjekts der Revolution" zu spielen. "Kulturindustrie" und "Konsumgesellschaft" hätten zu ihrer vollständigen Integration in die bürgerliche Ordnung geführt. Marcuse ging soweit, die westlichen Industriegesellschaften, in denen der Nachkriegsboom der 50er Jahre breiteren Schichten der Bevölkerung zu bescheidenem Wohlstand verholfen hatte, als "totalitär" zu bezeichnen. In seinen Augen handelte es sich bei ihnen um technokratisch-bürokratische Alptraumwelten, deren Bewohner die Mechanismen des Kapitalismus so stark verinnerlicht hätten, dass sie zu einer Rebellion nicht länger fähig seien. In Marcuses Philosophie verband sich die Verzweifelung über den scheinbar volllkommenen Triumph der Reaktion – erst in Gestalt von Faschismus & Stalinismus, dann in der des US-Imperialismus – mit einer elitären Verachtung für die ach so "materialistisch" eingestellten Massen.
Schon diese paar Bemerkungen, die Marcuses Gedanken natürlich nicht erschöpfend charakterisieren, sollten klarmachen, warum Jameson nach wie vor auf ihn schwört. Seine eigene Philosophie zehrt in hohem Maße vom marcusischen Erbe.

Fortsetzung folgt ...

(1) Natürlich lief dieser Prozess nicht ohne heftige Konflikte innerhalb der Bürokratie ab. Als Beispiel mögen die Fraktionskämpfe innerhalb der chinesischen KP dienen, die John Chan kürzlich in seinem zweiteiligen Artikel Twenty years since Deng Xiaoping's "Southern Tour" sehr anschaulich nachgezeichnet hat.
(2) Zit. nach: David Walsh: Artistic and cultural problems in the current situation.
(3) Rosa Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie (Die "Junius"-Broschüre).
(4) Fredric Jameson: Postmodernism or The cultural logic of late capitalism. S. 158.

2 Kommentare:

  1. Hervorragender Aufsatz, der viele Aspekte aufzeigt, die mir auch bei Jameson aufgefallen sind. Es hat schon etwas von "radical chic", dem man frönt, während die Unüberwindlichkeit einer bestimmten Form des Kapitalismus obsessiv wiederholt wird. Was mich an den Utopie-Theorien (sowohl in dem Aufstz, auf den Sie sich beziehen als auch bei Jameson selber) bereits auf ganz banaler Ebene stört ist der seltsame, unhistorische Blick auf literarisch vermittelte Utopien: schon Morus' Utopia funktioniert ja nicht als perfekte Gegengesellschaft sondern wird uns von einem Erzähler präsentiert, dessen Name so viel wie 'Schwätzer' bedeutet. Neben der Bankrotterklärung an jede klassengebundene Aktion ist es dieser Umgang mit den Texten, den ich befremdlich finde - sie werden als Bestätigung für letztlich ja doch nicht sehr interessante Thesen missbraucht anstatt sie als heterogene, durch Erzähler vermittelte Literatur zu lesen. Ihr differenzierter Hinweis auf das Geschlechterbild bei Morris leuchtet mir als Umgang mit Kunst spontan deutlich mehr ein als die ständige Ebenenvermischung (Utopia=Insel=Biogarten) in Hyatts Text. Sehr anregender Beitrag!

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    1. Vielen Dank für den freundlichen Kommentar. Ich fühle mich geschmeichelt. Was die Frage angeht, wie man mit literarischen Utopien umgehen sollte, denke ich, dass man da von Fall zu Fall differenzieren muss. Einige von ihnen waren ja in der Tat nicht nur als literarische Erzählungen, sondern auch als eine Art politische Manifeste gedacht oder wurden zumindest als solche rezepiert. Bei Morus' "Utopia" weiß ich zu wenig über die direkten Umstände ihrer Entstehung, aber Edward Bellamys "Looking Backward" z.B. wurde ja direkt nach seinem Erscheinen zum "Gründungsdokument" einer politischen Bewegung in den USA (der "Nationalists"), auch wenn der Autor dies nach eigenen Angaben gar nicht beabsichtigt hatte. Morris' "News from Nowhere" wiederum sollte als ein Gegenentwurf zu "Looking Backward" dienen, das auch in sozialistischen Kreisen weite Verbreitung gefunden hatte. Und dann gibt es da natürlich noch Texte wie Fouriers Schilderungen der Phalanstère, die direkt als Blaupausen für eine zu errichtende neue Gesellschaft gedacht waren. Dass Hyatts Umgang mit dieser heterogenen Gruppe von Schriften äußerst problematisch und vor allem ahistorisch ist, ist aber natürlich auch meine Meinung.

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