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Sonntag, 7. Oktober 2012

Jim Hensons Fantasy IV: "The Storyteller"

Jetzt hat es also einen Tag länger gedauert als beabsichtigt ... Was soll's ... Ernennen wir halt Sonntag zu Raskolniks Tag des Märchens ...

Lange Zeit hatte ich starke Vorbehalte gegenüber allen US-amerikanischen Adaptionen europäischer Märchen. Ich fühlte mich da ganz eins mit dem alten Tolkien, der einen wütenden Hass auf Walt Disney und seine Kreationen hegte. Für meine Vorurteile war allerdings nicht allein und wohl nicht einmal hauptsächlich der gute Onkel Walt mit seinem süßlichen Kitsch verantwortlich. Antiamerikanischer Snobismus hat in Europa ja gerade unter Linken eine lange Tradition. Inzwischen hoffe ich von dieser Krankheit genesen zu sein, und was Märchen betrifft, so hat mir spätestens The Storyteller gezeigt, dass auch ein so uramerikanischer Künstler wie Jim Henson mit ihnen ausgesprochen sensibel umzugehen verstehen kann.


Die Existenz der aus neun jeweils knapp halbstündigen Episoden* bestehenden Serie, die erstmals 1987 ausgestrahlt wurde, verdanken wir im Grunde Jim Hensons Tochter Lisa, die sich während ihres Studiums in Harvard u.a. mit Mythologie, Volkssagen und Märchen beschäftigte. Sie war es, die ihren Vater auf die Idee brachte, ein filmisches Format zu schaffen, in dem diese alten Geschichten neu erzählt werden könnten, und trotzdem ihren poetischen Reichtum und ihre metaphorische Tiefe behalten würden. Henson selbst erklärte seine Beweggründe zur Entwicklung von The Storyteller später wie folgt:  
When I was a child, my mother's family would gather at my grandmother's house. Fifteen or twenty people would be there, sitting around the dinner table, and my grandparents would have stories to tell - usually stories from their childhood. They would tell a tale, and somebody would try to top it. I've always felt that these childhood experiences were my introduction to humor - of my family sitting around the dinner table, making each other laugh.
As children, we live in a world of imagination, of fantasy, and for some of us that world of make-believe continues into adulthood. Certainly I've lived my whole life through my imagination. But the world of imagination is there for all of us - a sense of play, or pretending, of wonder. It's there with us as we live.
As I've grown older, I've been attracted to fairy tales and folk tales, and the rich quality of these stories - grown richer as they have gone through generations and generations of telling and retelling. They're important - for the flow of information, and energy, and entertainment from the storyteller to his listeners as the storyteller calls upon them to meet him halfway, to create the story in their own minds.
It is our responsibility to keep telling these tales to tell them in a way that they teach and entertain and give meaning to our lives. This is not merely an obligation, it's something we must do because we love doing it.
Dementsprechend präsentiert uns die Serie nicht bloß filmische Versionen authentischer Volksmärchen, sondern feiert zugleich die hohe Kunst des Geschichtenerzählens.

Einen entscheidenden Beitrag zu ihrem Gelingen leistet John Hurts alter Geschichtenerzähler mit seiner charismatischen Mischung aus Fabulierlust, Wortgewandtheit und ironischem Humor. Und wieder war es Lisa Henson, die den britischen Schauspieler für diese Rolle vorschlug.
Mir war bisher nie so recht bewusst, wie groß Hurts Präsenz über die Jahre im phantastischen Film eigentlich gewesen ist:  Er verlieh seine Stimme Hazel in Watership Down, Aragorn in Bakshis Lord of the Rings, dem Foxterrier Snitter in The Plague Dogs, dem Horned King in The Black Cauldron, Pascal in der englischsprachigen Fassung von Felidae (was ohne Zweifel eine Verbesserung gegenüber Klaus-Maria Brandauer gewesen sein dürfte) und dem Drachen Kilgharrah in der {soweit ich sie verfolgen konnte} amüsanten & sympathisch naiven TV-Serie Merlin. In persona durften wir ihn u.a. als Kane in Alien (und Spaceballs), Professor Bruttenholm in den Hellboy-Filmen, High Chancellor Adam Sutler in V for Vendetta und Mr. Ollivander bei Harry Potter erleben, sowie als den exzentrischen Milliardär S.R. Hadden in Contact und natürlich als Winston Smith in Nineteen Eighty-four. In einer BBC-Neuverfilmung von Whistle and I'll Come nach M.R. James spielte er 2010 außerdem James Parkin. {Dass er auch bei Indiana Jones and the Kingdom of the Crystal Skull mitgewirkt hat, versuche ich zu verdrängen}.
Keine Ahnung, ob dies irgendetwas zu bedeuten hat. Dem Storyteller jedenfalls widmete Hurt sich voller Elan und Begeisterung. Als man ihm das Projekt zum ersten Mal vorstellte, reagierte er zwar anfangs skeptisch (möglicherweise hegte der Brite ähnliche Vorurteile wie ich), doch war er schon bald Feuer und Flamme.
I read the script and I thought, `Wow, this is some fantastic writing. Here`s someone who really understands the whole style of that genre - folk tales and fairy tales - in the way I`ve always understood them.' [...] The important thing is not to let them become sentimental in any sense. They are full of charm, they`re full of poetry, and some of them are quite fierce - but not gratuitously fierce. [...] They`re foolproof so long as they`re treated correctly. Treated incorrectly, they become schmaltzy.
In der Tat sind Anthony Manghellas Drehbücher durchgehend von außergewöhnlich hoher Qualität, und ich erwische mich bei dem Gedanken, dass der Mann vielleicht besser Drehbuchschreiber hätte bleiben sollen, anstatt The English Patient, The Talented Mr. Ripley und Cold Mountain zu drehen. {Oder glaubt tatsächlich noch jemand, dass Oscar-Gewinne etwas über die Qualität eines Filmemachers aussagen?}
Manghella lässt den Geschichtenerzähler eine Sprache verwenden, die formelhafte Züge trägt und zugleich reich an poetischen, sinnlichen Metaphern ist, ganz wie es dem Genre des Volksmärchens angemessen ist. Zugleich verleiht er ihm einen von Lebenserfahrung und Weltweisheit geprägten spöttischen Blick auf das Leben und die Menschen. Ihm zur Seite steht – quasi stellvertretend für die Zuhörerschaft sein Hund, der die Erzählungen seines Herrn immer wieder durch Fragen oder Kommentare unterbricht. Brian Henson, der der Puppe nicht nur ihr Leben, sondern auch seine Stimme verliehen hat, macht aus ihm einen ebenso lebendigen Charakter wie den Erzähler selbst. John Hurt berichtete über die Zusammenarbeit mit "Hund": "It was a bit unnerving. As you rehearse, you actually begin to think the thing is alive! I`m amazed to find that when I get home to my own dogs, all they can do is bark."

Die Märchen selbst sind – was Dialog und Handlung angeht – größtenteils frei von überdeutlichen Modernisierungen. Die Ausnahme bilden einige Szenen und Figuren wie der Greif in The Luck Child oder der Troll in The True Bride, wobei solche Stilbrüche stets der humorvollen Auflockerung dienen, ohne je die Atmosphäre der Geschichte zu zerstören.
Dies soll keineswegs bedeuteten, dass den Erzählungen irgendetwas Holzschnitthaftes anhaften würde. Vielmehr verleiht eine kleine Heerschar talentierter Schauspielerinnen & Schauspieler den handelnden Personen durchweg eine natürliche Lebendigkeit. Die von ihnen verwendete Sprache ist oft 'einfacher' als die des Erzählers, abhängig vom sozialen Stand der Figur trägt sie mitunter dialektale Züge.
Eine Modernisierung haben die alten Geschichten ganz allgemein wohl insofern erfahren, als der ihnen innewohnende humane Gehalt stärker herausgearbeitet wurde. Doch ist dies auf zurückhaltende und sensible Weise geschehen, fern von erhobenem Zeigefinger oder klebriger Sentimentalität. So behandelt z.B. die ersten zehn Minuten von Hans My Hedgehog in berührender Weise das Thema Außenseitertum und The Luck Child ist erfüllt vom Aufbegehren gegen Tyrannei und Ausbeutung.
Im Unterschied zu vielen 'kindgerechten' Märchenbearbeitungen übertüncht The Storyteller nicht das Düstere der Erzählungen. Grausamkeit und Leid besitzen einen ebenso festen Platz in ihnen wie in der Wirklichkeit und werden weder weggeleugnet noch verniedlicht. Der Tod in The Soldier and Death ist eine wirklich unheimliche Gestalt, und der kleine Prinz in A Short Story eines der gruseligsten Kinder, die mir in letzter Zeit in einem Film begegnet sind.

Doch was The Storyteller in meinen Augen wirklich außergewöhnlich macht, ist vor allem die visuelle Ästhetik. Und damit meine ich weniger die Schöpfungen des Creature Shop, auch wenn diese {wie immer} fantastisch sind.**  Die Serie ist vor allem ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, warum der Pseudonaturalismus, dem sich so viele Filmemacher in unserem CGI-Zeitalter verschrieben haben, meiner Meinung nach eher eine Sackgasse für die phantastische Kunst darstellt. Sie zeigt, wie technische Beschränkungen zu künstlerischem Potential werden können. Es wird gar nicht erst versucht, die Illusion zu erwecken, die dargestellten Landschaften, Gebäude oder Kreaturen seien real. Doch gerade durch ihre offensichtliche Künstlichkeit heben sie hervor, dass wir uns innerhalb einer Geschichte befinden. Zugleich verschwimmt immer wieder auf faszinierende Weise die Grenze zwischen der Welt des Geschichtenerzählers und der Welt seiner Geschichten, wenn wir die Personen, von denen er erzählt, plötzlich auf einem Gemälde über seinem Kamin oder auf einer bemalten Porzellantasse wiederfinden. Ebenso kann sich die Schale, in die er Wasser für "Hund" gießt, flugs in den Mühlteich verwandeln, an dem Fearnot einem Ungeheuer begegnet. Es sind insbesondere diese zahllosen Details, in denen sich der fließende Übergang von 'Wirklichkeit' und 'Fantasie' und damit ihre tiefe innere Verwandtschaft manifestiert, die es lohnen, Jim Hensons Storyteller nicht nur einmal, sondern immer wieder zu sehen.

  * Hans My Hedgehog - Fearnot - A Short Story - The Luck Child - The Soldier and Death - The True Bride - The Three Ravens - Sapsorrow - The Heartless Giant. Mit ein bisschen Geduld lassen sich alle neun bei Youtube aufspüren.
** Nebenbei bemerkt hat wie schon an The Dark Crystal und Labyrinth auch an The Storyteller Brian Froud mitgewirkt.

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