Seiten

Sonntag, 30. September 2012

Krautrock

Es war tatsächlich wieder der wunderbare Jim Moon, der mich kürzlich auf dieses fantastische Video zu Hallogallo, einer Kreation der Kraftwerk-Dissidenten Klaus Dinger & Michael Rother (Neu!), aufmerksam gemacht hat:


Freitag, 28. September 2012

Podcast - News

Als großer Fan sowohl von Clark Ashton Smith als auch von M. R. James war ich hocherfreut, zwei Podcasts zu entdecken, die dem Werk dieser beiden Meister des Phantastischen, Unheimlichen, Grotesken und Makabren gewidmet sind. Zum Reinhören hatte ich bisher noch keine Zeit, wollte aber trotzdem hier schon einmal auf sie hinweisen:

PS: Letzterer präsentiert als seine neueste Errungenschaft außerdem eine interaktive Karte, auf der die Schauplätze von Montys Erzählungen verzeichnet sind.

Donnerstag, 27. September 2012

Who you gonna call?


Es war cool, mit elf Jahren Ghostbusters (1984) im Kino zu sehen, und der Film besitzt auch bei heutiger Betrachtung noch seinen Charme. Er mag nicht gut genug sein, um den Kultstatus zu genießen, der ihm von manchen zugesprochen wird, aber ein Streifen, der Godzilla in Tokio durch den Marshmallow Man in New York ersetzt, verdient auf jedenfall Sympathie. Ghostbusters II (1989) hingegen war ein Film, den niemand machen wollte und der nie hätte gedreht werden dürfen.
Seit damals machen immer mal wieder Gerüchte über ein zweites Sequel die Runde und animieren selbst Atheisten wie mich dazu, Stoßgebete gen Himmel zu senden, dass dies niemals Wirklichkeit werden möge. Und Eru Ilúvatar scheint tatsächlich unsere Meinung zu teilen. Dafür hat Regisseur Ivan Reitman nun plötzlich die Idee ins Spiel gebracht, statt eines Sequels könne man ja ebensogut ein Remake produzieren: "I think Ghostbusters probably should be remade, if we can get it all right. We're working on it, so we'll see." Beruhigenderweise handelt es sich bei dieser Ankündigung wohl eher um den traurigen Versuch Reitmans, eine Idee am Leben zu erhalten, für deren Umsetzung sich niemand wirklich zu interessieren scheint, als um eine ernstzunehmende Drohung. Aus Sicht der Produzenten hätte ein Remake freilich den unbestreitbaren Vorteil, dass man damit das Problem von Bill Murrays Mitarbeit aus der Welt geschafft hätte. Wie dem auch sei, wir können nur hoffen, dass alle Versuche, das Franchise wiederzubeleben, weiterhin so erfolgreich verlaufen, wie in den letzten zwanzig Jahren.

Eher lustig mutet es dagegen  an, dass Arnold Schwarzenegger nach wie vor ernsthaft zu glauben scheint, dass er auch im Rentenalter noch glaubhaft mörderische Kampfroboter verkörpern könne. Allerdings haben sich die Perspektiven für Terminator 5 aus anderen Gründen offenbar wieder verdüstert. Hatte Arnie im Juni noch vollmundig verkündet, der Dreh werde 2013 beginnen und es sei sogar schon ein sechster Teil in Planung, so reagierte er kürzlich genervt und sarkastisch auf entsprechende Nachfragen: "I think (producer) Megan Ellison owns the rights to 'Terminator 16,' or whatever it is. They have been trying to put a script together but I've not seen it, so I've no idea. There's nothing on the drawing board at this point. Nothing on the plan" Möglich also, dass es uns erspart bleiben wird, die nächste Etappe im ewigen Niedergang der Terminator-Saga miterleben zu müssen.
Schwarzenegger war nie ein Schauspieler im eigentlichen Sinne des Wortes, und er hat in einer Unzahl wirklich fürchterlicher Filme mitgewirkt. Dennoch will ich nicht verhehlen, dass ich eine eigentümliche Art von Sympathie für ihn empfinde. Ohne Arnie wären eine Reihe legendärer 80er Jahre - Flicks wie Conan, Predator, Total Recall oder eben Terminator nicht das, was sie sind. {Was genau sie sind, möchte ich jetzt nicht zu beschreiben versuchen. Keine wirklich guten Filme, vermutlich, aber in ihrer Simplizität irgendwie nicht ohne Reiz.} Schlimm genug, dass er gerade an dem peinlichen Gipfeltreffen alternder Eighties-Action-Stars The Expendables 2 teilgenommen hat. Die Schmach eines fünften Terminators wünsche ich ihm eigentlich überhaupt nicht.

Zwei Produkte der Ideenarmut Hollywoods, denen wir ganz sicher nicht mehr entgehen werden, sind José Padilhas Remake von RoboCop und Zack Snyders Reboot von Superman als Man of Steel.

Was RoboCop angeht, so bin ich ja der Meinung, dass das Original von 1987 genauso wie Starship Troopers von 1997 vor allem ein Beleg dafür ist, dass Paul Verhoeven bei aller guten Absicht nie richtig verstanden hat, wie man einen satirischen Film dreht. Padilhas Streifen wird deshalb bei mir zumindest nicht mit irgendwelchen rosigen Erinnerungen kollidieren können. Was Drew McWeeny vor gut einem Monat auf Twitter über das Script zu sagen hatte, das auf wer weiß welchen Wegen in seine Hände gelangt ist, klingt allerdings ziemlich gruslig:
In the film, when Murphy is turned into Robocop 1.0, it’s described “a high-tech version of the ’80s suit.” Then they show a focus group scene where criminals laugh at the design. “He looks like a toy from the ’80s!” So they redesign him to look “meaner” as Robocop 2.0, who passes focus group approval.
Sich in einem Remake darüber lustig zu machen, dass man ein Remake macht – das ist genau die Art selbstgefälliger Cleverness, die heute so gerne mit Intelligenz verwechselt wird.
And we meet the ED-209s in the field in Iran, where they’re used to subdue suicide bombers.
Ahhh … now they just dropped Robocop 3.0 onto an Al Queda training camp to see what he does.
Ich verzichte auf einen langen und wütenden Kommentar ...
Glaubt man McWeeny, so muss das Script wirklich fürchterlich sein. Er beschreibt sein Leseerlebnis sehr nett wie folgt:
I feel like one of those little potato people staring directly into The Dark Crystal. And, yet, pages keep turning…
Angesichts von José Padilhas bisher erfolgreichstem Film Tropa de Elite ist anzunehmen, dass RoboCop ebenfalls voller voyeuristischer Gewaltdarstellungen sein und gleichzeitig den Eindruck zu erwecken versuchen wird, der von dem Cyborg-Bullen und seinen Schöpfern vertreteten Law & Order - Mentalität kritisch gegenüberzustehen. Und was bei dem brasilianischen Film nicht geklappt hat, wird erst recht nicht bei einem Hollywood-Action-Blockbuster funktionieren.

Und Man of Steel? Hey, Zack Snyder führt die Regie. Muss ich da nach Dawn of the Dead, 300 und Sucker Punch noch irgendwas zu sagen?! Okay, ein ganz kurzer Kommentar: Snyder ist ein Filmemacher, dessen  'künstlerische Vision' {hust, hust} sich darauf beschränkt, coole Bilder auf die Leinwand zu zaubern. Und auf einen coolen Supermanfilm kann ich dankend verzichten. Jim Moon hat BlackDogs Lee Medcalf diese Woche, milde ausgedrückt, in Erstaunen versetzt, als er erklärte, der legendär miese Superman 4: The Quest for Peace (1987) sei bei näherer Betrachtung immer noch besser als Bryan Singers Superman Returns (2006).* Ich stehe da ganz auf der Seite von Mr. Moon. Ein Superman-Flick hat 'cartoonish', nicht cool zu sein.

* Vgl.: BlackDog Podcast Episode 130 "Superman Poor": 1:31:20.

Mittwoch, 26. September 2012

Pastiche und Propaganda (II)

Jamyang Norbu hat wie gesagt nichts übrig für die im Westen verbreitete Tendenz, in Tibet eine Art mystisches Wunderland zu sehen:
There's a kind of New Age perception of Tibet, which is fed to some extent quite deliberately by propagandists for Tibet, many New Age type Buddhists, Tibetan Buddhists. And, also subscribed gradually by Tibetans, including the Dalai Lama and a lot of prominent Lamas. The idea that this even materialist west will be saved by the spiritualism of the Tibetan Buddhists. It's total nonsense.
Man kann sich darum vielleicht vorstellen, wie erstaunt ich war, als ich feststellen musste, dass Norbu mit der zweiten Hälfte von Das Mandala des Dalai Lama genau diese Heilssehnsucht zu bedienen versucht.
Es zeigt sich nämlich sehr schnell, dass das vermeintliche Mordkomplott, zu dessen Verhinderung Sherlock Holmes nach Tibet gerufen wurde, gar nicht die eigentliche Bedrohung darstellt, gegen die unsere Helden vorgehen müssen. Damit verliert die Geschichte augenblicklich ihren holmes'schen Charakter und begibt sich straks in die Untiefen von Pulp-Phantastik, Mystizismus und esoterischem Quark. Statt sich der gängigen Methoden von etwas Gift im Mittagsmahl oder einem Messer in der Nacht zu bedienen, haben die Chinesen nämlich einen abtrünnigen Tantra-Magier nach Lhasa geschickt, der für das frühzeitige Ableben des XIII. Dalai Lama sorgen soll. Dieser nur als "der Finstere" bekannte Schurke, dessen Spezialität darin zu bestehen scheint, qua Telekinese Schwerter durch die Luft sausen zu lassen, ist jedoch offenbar sehr viel mehr an der alten Darstellung eines Kalacakra-Mandalas interessiert, das der I. Dalai Lama angeblich von einem geheimnisvollen Abgesandten aus dem Wunderreich Shambala erhalten haben soll.

An dieser Stelle des Buches angekommen konnte ich einen Seufzer der Verzweifelung nicht unterdrücken. Shambala? Bitte nicht Shambala! Norbu lässt seinen Erzähler Hurree erklären:
Das 'Shambala des Nordens' ist, der lamaistischen Weltanschauung zufolge, ein Wunderland, vergleichbar mit Thomas Moores Utopia, Francis Bacons Neuem Atlantis oder Campanelas Sonnenstaat, wo Tugend und Weisheit eine ideale Gesellschaft haben entstehen lassen. Dieses Fabelreich gilt als Ursprung aller hohen okkulten Wissenschaften, das der Wissenschaft und Technik unserer Welt weit überlegen ist. Laut einer Prophezeiung in den heiligen Schriften Tibets werden die Herren von Shambala, wenn die Menschheit am Ende den Mächten des Bösen unterliegt, im Jahr des Wasser-Schafes des 24. Zyklus (das heißt im Jahre 2425) ihre große Armee entsenden und jene dunklen Mächte vernichten. Danach wird der Buddhismus erneut erblühen, und ein Zeitalter der Vollkommenheit wird anbrechen. (1)
Kein anderes Element der tibetisch-buddhistischen Mythologie ist wohl so oft von irgendwelchen westlichen Möchtegernmystikern missbraucht worden wie das Verborgenen Reich der Kulika-Könige. Außer vielleicht das berühmte Mantra Om mani padme hum.

Das echte Kalacakra Tantra, dem der Mythos von Shambala seine Entstehung verdankt, wurde in der Mitte des 10. Jahrhunderts vermutlich im heutigen Afghanistan verfasst und gelangte tibetischen Quellen zufolge im Jahre 966 von dort aus nach Indien. Es ist ein Produkt der kosmopolitischen Kultur der Handelsstädte entlang der Seidenstraße, in denen Vertreter der unterschiedlichsten asiatischen Völker friedlich zusammenlebten, und Güter wie Ideen aus aller Herren Länder ausgetauscht wurden. Hier waren die Buddhisten u.a. mit Zoroastriern, Manichäern, nestorianischen Christen und Juden zusammengetroffen. Die daraus resultierende gegenseitige gedankliche Befruchtung hatte nicht unwesentlich zur Entstehung einer blühenden buddhistischen Hochkultur in Zentralsien und Turkestan beigetragen. Das Kalacakra Tantra war eine ihrer letzten bedeutenden Früchte und zugleich eine Reaktion auf die Entwicklung, die zu ihrem Untergang führen sollte: Das machtvolle Vordringen des Islam. (2)
Im 10. Jahrhundert herrschten die Emire der Samaniden-Dynastie als nominelle Vertreter der abbasidischen Kalifen über die Region. Es war das Goldene Zeitalter des islamischen Zentralasien: Handel und Gewerbe blühten auf, in den Städten entstanden prachtvolle Moscheen, Schulen, Badehäuser und Karawansereien, während am Hof des Emirs in Buchara die Grundlagen für die Entwicklung der neupersischen Literatur gelegt wurden. An der kosmopolitischen Atmosphäre der großen Handelsstädte hatte sich auch unter islamischer Herrschaft nichts geändert, das friedvolle Gemisch der Kulturen und Religionen verstärkte sich eher noch. Doch auch wenn die Buddhisten vorerst keiner organisierten Verfolgung ausgesetzt waren, hatten die Mönche das Gefühl, in einem zunehmend düsteren Zeitalter zu leben. Dies war die historische Situation, in der das Kalacakra Tantra entstand.
Der heilige Text  erzählt von dem paradiesischen Reich Shambala, das umgeben von unüberwindlichen Gebirgszügen und bewacht von überirdischen Mächten dem allgemeinen Niedergang der Welt trotzt. Hier bewahren die Heiligen unter der Herrschaft der Kulika-Könige die reine Lehre, während eine Zeit der Finsternis über die Erde hereinbricht. Doch schließlich werde die Kunde von dem verborgenen Reich an das Ohr des bösen Welteroberers dringen und dieser werde sich mit einem gewaltigen Heer aufmachen, um die letzte Bastion des Lichtes seiner Herrschaft zu unterwerfen. Daraufhin werde der fünfundzwanzigste Kulika-König Rudracakrin ("Der Zornige mit dem Rad") an der Spitze seiner Armeen das geheime Königreich verlassen und sich den Angreifern zum Kampf entgegenstellen. In einer apokalyptischen Endschlacht werden die Mächte der Finsternis vernichtet werden und Rudracakrin wird vom heiligen Berg Kailash aus über ein buddhistisches Weltreich des Friedens und der Gerechtigkeit herrschen, das 19.800 Jahre lang Bestand haben wird.
Das Tantra identifiziert den bösen Welteroberer mit der islamischen Messiasgestalt des Mahdi und erwähnt im Zusammenhang mit ihm die Städte Bagdad und Mekka, sowie Adam, Noah, Abraham, Moses, Jesus, Mohammed und den mysteriösen 'Weißgekleideten' (shvestavastri) als seine Vorgänger. (3) 
Der ausgeprägte Dualismus zwischen Gut und Böse sowie das Motiv einer apokalyptischen Endschlacht unterscheiden das Kalacakra Tantra sehr deutlich von älteren buddhistisch-messianischen Texten, in deren Zentrum für gewöhnlich der Buddha der Zukunft Maitreya gestanden hatte. Als Vorbilder mochten dabei so unterschiedliche Quellen wie die jüdische und christliche Tradition, die zoroastrische Figur des Letzten Weltenheilands Saoshyant oder die unter den Anhängern Vishnus verbreitete Vorstellung von Kalki als dem Zehnten Avatar ihres Gottes gedient haben. Auch manichäisches Gedankengut hat offenbar seinen Weg in den heiligen Text gefunden. Am stärksten dürfte jedoch ironischerweise der islamische Einfluss gewesen sein. Zumal die Region, in der das Tantra entstand, seit geraumer Zeit der Tummelplatz aller möglichen muslimischen Sekten war, in deren Gedankenwelt die Gestalt des Mahdi stets eine zentrale Rolle spielte. Die Buddhisten eigneten sich die eschatologischen Ideen ihrer muslimischen Rivalen an, integrierten sie in ihre eigene Gedankenwelt und wandten sie dann gegen den Islam. So dürfte z.B. das direkte Vorbild für den bösen Mahdi des Kalacakra Tantra im 'Lügenden Messias'  al-Masihu’d Dadschal zu suchen sein, dem dämonischen Widersacher des endzeitlichen Heilsbringers im Islam.
Als das Tantra im Jahr 1026 ins Tibetische übertragen wurde, gelangte es damit in einen buddhistischen Kulturraum, der sich keiner islamischen Herausforderung gegenübersah. Dadurch verloren seine Prophezeiungen ihren Bezugspunkt in der Wirklichkeit und wurden offen für Neuinterpretationen. Die antimuslimische Stoßrichtung spielte von nun an keine entscheidende Rolle mehr in der Rezepetion des Textes. Was blieb war die Prophezeiung von einem gewaltigen Krieg zwischen den Mächten des Lichtes und der Finsternis und die Hoffnung auf ein zukünftiges Reich des Friedens und der Gerechtigkeit, in dem Armut und Elend unbekannt sein würden. Vor allem jedoch die Vision von einem verborgenen Reich, einem Irdischen Paradies inmitten dieser grausamen und leiderfüllten Welt: Shambala. Mit diesem Namen waren von nun an die Träume und Sehnsüchte der Buddhisten Tibets und Zentralasiens verbunden. Jamyang Norbus Vergleich mit den Gesellschaftsutopien von Morus, Bacon und Campanella ist allerdings etwas irreführend. Eher sollte man dabei an die Sehnsucht des christlichen Mittelalters nach dem Garten Eden denken.  Über die genaue geographische Lage Shambalas waren sich die gelehrten Mönche Tibets nie ganz einig. Die älteste uns heute noch zugängliche Version des heiligen Textes, das Laghu Kalacakra Tantra, lokalisiert das Reich der Kulika-Könige irgendwo südlich des Berges Kailash, doch konnte sich diese Tradition offenbar nicht auf Dauer durchsetzen. Der Grund hierfür ist leicht einzusehen. Die Region um den Kailash ist zwar wild und unwegsam, war den Tibetern aber nicht völlig unbekannt. Sie wussten, dass sich dort weder eine glanzvolle Stadt noch ein idyllischer Paradiesesgarten befanden. Das hinderte die eifrigen Lamas freilich nicht daran, sich auch weiterhin den Kopf über die Lage Shambalas zu zerbrechen. Wie auch hätte man die Suche nach diesem heiligen Ort des Friedens und der Erleuchtung aufgeben sollen? Im Vimalaprabha heißt es, das geheimnisvolle Land befände sich nördlich des Flusses Sita, während arya-visaya ("das Land der Arier" = Indien) südlich des Stromes zwischen dem Himalaya und Lanka liege. Doch auch diese Angaben brachten die sehnsuchtsvoll Suchenden nicht wirklich weiter. Der Fluss Sita ist zwar in der buddhistischen Kosmologie und dem heiligen Schrifttum Indiens wohlbekannt, in der realen Welt jedoch leider nur sehr schwer zu lokalisieren. Möglicherweise verbirgt sich hinter dem mythischen Gewässer der Tarim in Ostturkestan. Auf jedenfall suchte man Shambala von nun an nördlich von Tibet. (4)

An westliche Ohren drang der Name des Verborgenen Königreiches erstmals im 17. Jahrhundert, als einige Jesuiten das Schneeland besuchten. Einen tieferen Eindruck scheint der Mythos jedoch nicht bei ihnen hinterlassen zu haben. Erst als im 19. Jahrhundert Helena Blavatsky (1831-91), die Gründerin der Theosophie, Shambala in ihren Schriften erwähnte, legte sie damit den Samen für die rasch wachsende Beliebtheit des geheimnisvollen Landes unter westlichen Okkultisten, Esoterikern und phantastischen Schriftstellern. Dabei wurden die aufgeschnappten Bruchstücke des alten buddhistischen Mythos oft mit der von Alexandre Saint-Yves d’Alveydre (1842-1909) in die Welt gesetzten Idee eines unterirdischen Wunderreiches namens Agharta vermischt. Besondere Popularität erlangte diese Mixtur in den 1920er Jahren durch Ferdynand Ossendowskis Schmöker Tiere, Menschen und Götter. Ebenfalls sehr gerne verknüpften westliche Autoren das Verborgene Königreich mit der auf Blavatskys "weiße Loge" der Mahatmas zurückgehende Idee einer geheimen Bruderschaft von weisen 'Hütern der Welt', die dort residieren soll. Ein besonders prominenter Vertreter dieser ganzen buntscheckigen Sippschaft war der russische Maler und Gründer des Agni Yoga Nikolai Roerich (1874-1947), der sogar ein Buch mit dem Titel Shambala verfasste. Dass er namentliche Erwähnung in Das Mandala des Dalai Lama findet, ist kein Zufall, wie wir gleich sehen werden.

Zuerst einmal wollen wir jedoch zu Sherlock Holmes und dem wackeren Hurree zurückkehren. Denn kaum hat Norbu das Kalacakra - Mandala und den "Finsteren" ins Spiel gebracht, da scheint er auch schon jeden Rest an schriftstellerischem Gespür verloren zu haben. Von einem leidlich charmanten Conan Doyle - Pastiche verwandelt sich der Roman in einen sich immer höher auftürmenden Berg an Abstrusitäten. Aus dem Lachen und Stöhnen kommt man von nun an nur noch selten heraus.
Holmes und Hurree dringen in die chinesische Gesandtschaft ein, um das aus dem Norbulingka entwendete Thangka (Rollbild) des Mandalas zurückzuholen. Was sie dort erwartet, ist die erste der bizarren 'Enthüllungen', aus denen der Rest des Romans besteht. Der "Finstere" entpuppt sich als ... Professor Moriarty! Ja, der "Napoleon des Verbrechens" ist in Wirklichkeit ein böser tibetischer Tantrameister, der den Sturz in die Reichenbachfälle dank seiner Zauberkräfte überlebt hat! Und ganz, wie man es von Norbu inzwischen erwartet, schafft es dieser tatsächlich, auch noch für die kriminelle Karriere des guten Professors in England die Chinesen verantwortlich zu machen. Jene halfen ihm "in Europa Fuß zu fassen, weil sie sich an jenen Nationen rächen wollten, die China so gedemütigt hatten". (5) Moriarty als eine Art verfrühter Fu Manchu! Dass sein Äußeres weder bei Conan Doyle noch in seinem eigenen Buch irgendwelche Anzeichen einer asiatischen Herkunft aufweist, scheint Norbu nicht weiter zu stören.
Aber das ist erst der Anfang. Das Mandala erweist sich als Schlüssel zu einem fantastischen unterirdischen Palast, dessen zentrales Gewölbe Hurree wie folgt beschreibt:
Nun befanden wir uns in einer gewaltigen, runden, hallenartigen Anlage, die gut ein paar Tausend Meter Durchmesser hatte und von einer riesigen Eiskuppel überwölbt wurde, die in ihrem Zentrum mindestens 800m hoch war. Um die ganze kolossale Rundhalle standen große Statuen, zwanzig an der Zahl. Es waren grimmig aussehende Krieger in fremdartiger Rüstung. Die Ausmaße der Statuen waren riesig, vergleichbar mit den großen Buddha-Statuen, die ich im Bamiyan-Tal in Afghanistan gesehen hatte.
Die völlig übertriebenen Dimensionen machen deutlich, dass wir das reale Tibet verlassen und die Fantasiegefilde von Shangri-la betreten haben, eben jene Gefilde also, die Norbu in den Erzeugnissen westlicher Tibetromantiker so unbarmherzig kritisiert.Dieses Gewölbe ist der Aufbewahrungsort des "Norbu Rinpoche", des "großen Juwels der Macht von Shambala." Die Lama Yönten in den Mund gelegte Beschreibung des magischen Edelsteins zeigt erst recht, dass sich der Autor spätestens an diesem Punkt in seiner Erzählung von den authentischen Traditionen des Buddhismus ab- und den  esoterischen Fantastereien von Blavatsky, Roerich & Co. zugewandt hat:
Es steht geschrieben, dass der Sendbote Shambalas zwei solcher Steine an jedem der beiden spirituellen Pole unseres Planeten anbrachte. Der erste ging verloren, als Ata-Ling, der heilige Kontinent, von der großen Flut verschlungen wurde. Der zweite wurde hierher nach Tibet gebracht. (6)
Mit dem Wunscherfüllenden Juwel Cintamani der indischen und tibetischen Überlieferung hat dieser Stein nichts mehr zu tun. Die peinlich offensichtliche Anspielung auf den Atlantismythos lässt einen vielmehr augenblicklich an die theosophische Obsession mit untergegangenen 'Rassen'
und Kontinenten denken. (7) Kein Wunder, dass Norbu an dieser Stelle ausdrücklich auf Nikolai Roerich und dessen Beschreibung des Norbu-rin-poche/Chintamani verweist:
Es heißt, Tamerlane und Akbar hätten Bruchstücke eines solchen Steines besessen und der Stein im magischen Ring des Suleimans (Solomon) wäre ein Teil des Chintamani gewesen. Nicholas Roerich, der berühmte weißrussische Mystiker, Künstler und Reisende, war überzeugt davon, dass der Chintamani der Lapis Exilis sei, der Wanderstein der alten Meistersänger. (8) 
Doch auch damit noch nicht genug. Es erwartet uns noch ein wahrhaft 'fantastisches' Finale. Wie man sich denken kann, will Moriarty den Stein in seine Hände bekommen, um damit in der Manier jedes echten Superschurken 'die Welt zu beherrschen'. Doch als bereits alles verloren scheint, erwartet uns eine erneute 'Enthüllung'. Der Professor ist gerade dabei, unsere Helden mit seinen durch den Stein verstärkten magischen Kräften auszulöschen, da schreit Lama Yönten:
Mr Holmes, Mr Holmes. Hören Sie mir genau zu. Sie sind nicht Sherlock Holmes! Sie sind der berühmte Gangsar-trulku, der ehemalige Abt des Klosters des Weißen Garuda, einer der größten Meister der okkulten Wissenschaften. Der Finstre hat Euch vor achtzehn Jahren ermordet, doch kurz bevor Euch Eure Lebensgeister verlassen haben, ist es uns mithilfe des Pho-wa-Yoga gelungen, diese in einen anderen, weit entfernten Körper zu transferieren. (9)
Und tatsächlich entdeckt Holmes die in ihm verborgen liegenden tantrischen Kräfte und beginnt ein munteres Magierduell mit dem bösen Moriarty.
An dieser Stelle bin ich dann wirklich wütend geworden. Sherlock Holmes ist die vielleicht berühmteste literarische Verkörperung des rationalen, analytischen Denkens. Arthur Conan Doyle selbst glaubte zwar an allen möglichen Unsinn wie die berüchtigten Feenfotografien von Cottingley oder spiritistische Séancen, sein Meisterdetektiv aber erklärte bestimmt: "This agency stands flat-footed upon the ground, and there it must remain. The world is big enough for us. No ghosts need apply." (10) Ihn in einen wiedergeborenen Tantrameister und Magier zu verwandeln, ist für mich ungefähr dasselbe wie die Darstellung von Merlin als billigem Scharlatan in Mark Twains A Connecticut Yankee in King Arthur's Court – mit dem entscheidenden Unterschied, dass Twains Buch eine Satire ist.
Im letzten Kapitel seines Romans deutet Jamyang Norbu schließlich zu allem Überfluss auch noch an, dass Holmes zu jener aus theosophischen Schriften so bekannten 'geheimen Bruderschaft der Weisen' gehört, die im Auftrag der Herren von Shambala als verborgene Hüter unserer Welt fungieren. Shambala aber könnte vielleicht ein anderer Planet sein. Neben Theosophie und Agni Yoga also auch noch ein bisschen UFO- und Alienquatsch!

Was mich an all dem besonders verärgert hat, ist, dass ich mir nicht sicher bin, ob Norbu all die esoterischen Elemente nicht bloß deshalb in seine Erzählung eingebaut hat, um den Geschmack eines westlichen Lesepublikums zu bedienen. Bisher hatte ich in dem Schriftsteller eher einen Rationalisten gesehen. Die zweite Hälfte seines Buches hat für mich deshalb den Geschmack eines bewussten Betrugs. Während mir die eng an Conan Doyle orientierten Passagen Ausdruck einer vielleicht naiven und unkritischen, aber dafür ehrlichen Begeisterung für den viktorianischen Schriftsteller zu sein scheinen, werde ich bei den phantastischen Kapiteln den Verdacht nicht los, dass Norbu sich hier derselben Methode bedient, die er bei anderen kritisiert. Um seine nationalistische Botschaft unter die Leute zu bringen, ködert er diese mit dem alten exotistischen Klischee von Tibet als einem Land der Wunder.


(1) Jamyang Norbu: Sherlock Holmes - Das Mandala des Dalai Lama. S. 216.
(2) Vgl.: B. Gosh: Emergence of Kalacakratantra. In: Bulletin of Tibetology. Vol. 21. Nr. 2 (1985). S. 19ff.
(3) Vgl.: Alexander Berzin: The Kalachakra Presentation of the Prophets of the Non-Indic Invaders.
(4) Vgl.: Ronald M. Davidson: Hidden Realms and Pure Abodes: Central Asian Buddhism as Frontier Religion in the Literature of India, Nepal, and Tibet. Biswanath Banerjee: Development of the Kalacakra System in Later Buddhism. In: Bulletin of Tibetology. Vol. 24. Nr. 2. (1988). S. 9ff.
(5) Jamyang Norbu: Sherlock Holmes - Das Mandala des Dalai Lama. S. 238f.
(6) Ebd. S. 276ff..
(7) Helena Blavatsky selbst hatte behauptet, "dass, als Lemuria sank, ein Teil seines Volkes in Atlantis überlebte, während ein Teil seiner Auserwählten auf die heilige Insel von 'Shambhala' in der Wüste Gobi auswanderte. Allerdings enthalten weder die Kalachakra-Literatur noch das 'Vishnu Purana' irgend eine Erwähnung von Atlantis, Lemuria, Maitreya, oder Sosiosch. Ihre Verbindung mit Shambhala wurde allerdings unter Blavatskys Anhängern fortgeführt." (Alexander Berzin: Falsche Mythen, die in anderen Ländern über Shambala Verbreitung fanden)
(8) Jamyang Norbu: Sherlock Holmes - Das Mandala des Dalai Lama. S. 277. Norbu bezieht sich hier auf eine Passage aus Roerichs Shambala  (S. 96f.). Meines Wissens nach kannten die Meistersinger keinen 'lapis exilis'. Vermutlich meinte Roerich damit den Gral, der im Parzival Wolframs von Eschenbach mit diesem Namen bezeichnet wird. Wie er auf die Idee gekommen ist, dass der heilige Stein wandere, entzieht sich meiner Kenntnis.
(9) Ebd.: S. 287.
(10) Arthur Conan Doyle: The Adventure of the Sussex Vampire. In: Ders.: The Casebook of Sherlock Holmes.

Sonntag, 23. September 2012

Pastiche und Propaganda (I)

Ich habe Jamyang Norbus Roman Sherlock Holmes – Das Mandala des Dalai Lama mit gemischten Gefühlen zur Hand genommen. Vor etlichen Jahren beschäftigte ich mich eine Zeit lang recht intensiv mit Tibet und seiner Geschichte. Dabei war mir der Name des exiltibetischen Schriftstellers und Aktivisten mehr als einmal untergekommen.

1949 in Darjeeling/Indien geboren, schloss Norbu sich in seiner Jugend der Guerillabewegung Chushi Gangdruk an. Diese Organisation war 1958 in den osttibetischen Regionen von Amdo und Kham in Reaktion auf die radikale Landreform gegründet worden, die Maos stalinistisches Regime  dort durchgeführt hatte. Nach dem missglückten Aufstandsversuch von Lhasa und Kham 1959, der u.a. zur Flucht des XIV. Dalai Lama Tenzin Gyatso und Zehntausender Tibeter nach Indien geführt hatte, operierte die Gruppe, die die Unterstützung der CIA genoss, vom nepalesischen Mustang aus. Als die USA nach ihrer Annäherung an die VR China 1974 ihre finanzielle Hilfe einstellten, mussten die Guerillas bald darauf ihren bewaffneten Kampf beenden, zumal nun auch die nepalesische Regierung gegen sie vorging. (1) 
Nachdem er das Gewehr abgelegt hatte, stellte Norbu seine Talente in der Folgezeit in den Dienst der  sog. Tibetischen Exilregierung in Dharamsala, betätigte sich daneben aber auch als Publizist und Schriftsteller. So verfasste er u.a. fünf Theaterstücke und das Libretto für eine traditionelle Tibetische Oper. Seine kritische Haltung gegenüber der alten Religion und der esoterisch angehauchten Tibetromantik westlicher Unterstützerkreise führte allerdings immer wieder zu Konflikten mit der Führungsclique um den Dalai Lama, die sich noch weiter verschärften, als Tenzin Gyatso das Ziel der nationalen Unabhängigkeit aufgab und stattdessen den "Mittleren Weg" in Richtung größerer Autonomie einschlug. Für Norbu eine Art Verrat an der Sache des Vaterlandes. Das von ihm gegründete Amnye Machen Institute gilt als das akademische Zentrum des radikalen Flügels des tibetischen Nationalismus, dessen einflussreichste Organisation der Tibetan Youth Congress sein dürfte. Der Schriftsteller ist außerdem Mitglied der Rangzen Alliance, deren Charta er verfasst hat. Ihr Ziel ist die Errichtung eines unabhängigen, auf ethnischer und kultureller Homogenität basierenden tibetischen Nationalstaates.
Ohne ins Detail gehen zu wollen, stehe ich den von Jamyang Norbu vertretenen politischen Positionen ausgesprochen ablehnend gegenüber. Die Perspektive eines unabhängigen Tibet eröffnet der Masse der tibetischen Bevölkerung keinen Weg aus ihrer aktuellen, von politischer Unterdrückung und wirtschaftlichem Elend gekennzeichneten Lage. Sie ist vielmehr Ausdruck der Interessen der inner- wie exiltibetischen bürgerlichen Elite, die ihre Landsleute in einem "freien" Tibet nicht weniger rücksichtlos ausbeuten würde, als dies heute die mit dem stalinistischen Staatsapparat verbundenen chinesischen Kapitalisten tun. Man muss nur einmal nach Südafrika schauen, um zu wissen, wie eine solche "nationale Befreiung" aussehen würde.
Seiner politischen Überzeugung entsprechend verbreitet Norbu in seinen Schriften einen aggressiven völkischen Patriotismus, wobei viel von der glorreichen Vergangenheit der "tibetischen Rasse" und von der unbeschreiblichen Bösartigkeit des ewigen Erbfeindes China die Rede ist. Im Unterschied zu den pazifistischen Fantasien westlicher Tibetromantiker legt er dabei besonderen Wert auf die kriegerischen Traditionen seines Volkes. (2)

Dass sein 1999 erstmals in Indien veröffentlichtes Sherlock Holmes - Pastiche denselben Geist atmen würde, stand zu befürchten. Andererseits fand ich, dass die Geschichte durchaus interessantes Potential besitzen könnte. Sie ist angesiedelt in den 'verlorenen Jahren' zwischen Holmes' fingiertem Tod an den Reichenbachfällen und seiner Rückkehr nach London, über die Arthur Conan Doyle selbst seinen Meisterdetektiv hatte erzählen lassen:
I travelled for two years in Tibet [...] and amused myself by visiting Lhassa, and spending some days with the head lama. You may have read of the remarkable explorations of a Norwegian named Sigerson, but I am sure that it never occurred to you that you were receiving news of your friend. (3)
Als Erzähler und Watsonersatz fungiert der aus Rudyard Kiplings Kim stammende bengalische Gelehrte und britische Geheimagent Hurree Chunder Mookerjee.
Nun bin ich sicher kein ausgewachsener Sherlockianer, aber ich habe doch eine Menge für den Meister des deduktiven Denkens übrig, vorzugsweise, wenn mir Arthur Conan Doyle von seinen Abenteuern erzählt oder Jeremy Brett ihn verkörpert. Neubearbeitungen der Figur interessieren mich für gewöhnlich wenig. Von den literarischen hatte ich mir bisher keine einzige zu Gemüte geführt, und von den filmischen gehört wohl nicht zufällig meine besondere Liebe Thorn Eberhardts ironischem Spaß Without a Clue (Genie und Schnauze) mit Ben Kingsley und Michael Caine. Die Aussicht, zu sehen, was ein tibetischer Autor mit Sherlock Holmes anstellen würde, erschien mir jedoch recht spannend. Schließlich spiegeln Conan Doyles Erzählungen immer wieder sehr deutlich die Mentalität der bürgerlichen Schichten des imperialen Großbritannien wider. Orientalistische Klischees finden sich in einer ganzen Reihe von Holmes-Geschichten. Und da ich wusste, dass Norbu mehrfach ebenso treffende wie beißende Kommentare zum von den westlichen Medien verbreiteten exotistischen Tibetbild abgegeben hat, hoffte ich, dass sein Roman in dieser Hinsicht einige interessante Wendungen enthalten würde. Auch die Aufnahme von Hurree Chunder Mookerjee in die Erzählung ließ mich aufhorchen. Hatte Kipling diese Figur doch nach dem realen Vorbild von Sarat Chandras Das gezeichnet, der als Spion des Empire in der Verkleidung eines buddhistischen Pilgers 1882 bis nach Lhasa gelangt war. Bestand da nicht die Möglichkeit, dass Norbu im Rahmen seines Pastiches eine etwas realistischere Darstellung von Kiplings "Großem Spiel" präsentieren würde, d.h. vom Kampf zwischen Großbritannien und Russland um die Vorherrschaft über Zentralasien, die das Schicksal Tibets in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz entscheidend mitbestimmt hat?

Doch nein, Das Mandala des Dalai Lama erfüllt keine einzige dieser Hoffnungen. Das beste, was sich darüber sagen lässt, ist, dass es den Stil von Conan Doyles Erzählungen recht geschickt nachahmt. Auch ist Hurree  zugleich Hindu und westlich gebildeter Wissenschaftler  ein durchgehend sympathischer Erzähler. Darüber hinaus jedoch erweist es sich als ein schlecht konstruiertes und in vielerlei Hinsicht unerträgliches Buch.
Das erste Drittel handelt davon, wie Holmes mit Mookerjee an seiner Seite einer Reihe von Mordanschlägen Colonel Morans entkommt, der rechten Hand Professor Moriartys. Das ist soweit alles ganz nett, wenn es nur nicht für die folgende Haupthandlung praktisch ohne Bedeutung wäre. So aber wirkt es wie ein überlanges Vorspiel, dessen einzige Funktion es ist, eine Begründung für die Reise der beiden nach Tibet zu liefern. Was im Grunde überhaupt nicht nötig wäre, da Holmes zusätzlich auch noch eine Einladung von Lama Yönten erhält, dem Großsekretär des Dalai Lama. Es vergeht mehr als die Hälfte des Romans bis unsere Helden endlich im Norbulingka, dem großen Sommerpalast des Kundun in Lhasa, stehen, und Holmes den Auftrag erhält, den fünfzehnjährigen Dalai Lama Tubten Gyatso vor einem drohenden Attentat zu bewahren.
Spätestens an diesem Punkt macht sich dann auch Jamyang Norbus ideologische Ausrichtung unangenehm bemerkbar. Die Handlung des Romans ist um ein Bild der tibetischen Geschichte herum konstruiert, wie es in den nationalistischen Kreisen allgemein verbreitet ist, das jedoch mit der historischen Realität nur wenig zu tun hat. Norbu lässt seinen Lama Yönten eine entsprechende Exposition vortragen:
Tibet ist ein kleines und freidliches Land. Das Einzige, wonach seine Bewohner streben, ist ein Leben in Ruhe und Stille und die Befolgung der erhabenen Lehren unseres Herrn Buddha. Doch überall um uns herum lauern kriegerische Nationen, mächtig und ruhelos wie Titane. Im Süden ist es das Empire der englischen Sahibs, die nun die Heimat Shakyamunis [Buddhas] beherrschen. Im Norden ist es der Kesar von Oros, der Zar von Russland, obwohl dieser glücklicherweise weit weg ist. Im Osten allerdings lauert die größte Gefahr und unser größter Fluch: Schwarzchina – verschlagen, nach noch mehr Land gierend. Und selbst in seiner Gier ist dieser Feind noch gerissen. [...] Was der Kaiser auf direktem Weg nicht zu erreichen vermag, das versucht er mit Intrigen. Im Laufe der Jahre ist es ihm über seine Vertreter hier in Lhasa, die kaiserlichen Hochkommissare, mit Hilfe von Bestechung, Erpressung und Mord nach und nach gelungen, seinem Ziel immer näher zu kommen. [...] So ist es ihm gelungen, dem gegenwärtigen Regenten von Tibet, dem Fleisch gewordenen Lama des großen Tengyeling-Klosters, frevlerische und verräterische Ideen in den Kopf zu setzen. [...] Die letzten drei Inkarnationen des Dalai Lama [...] starben, bevor sie erwachsen wurden – und alle unter sehr suspekten Umständen. Von zumindest einem der Morde wissen wir mit Sicherheit, dass er von den Chinesen angestiftet wurde; aber wie gewöhnlich gab es keinen echten Beweis für ihre direkte Mittäterschaft. Wie auch immer, die politischen Wirrnisse und die Instabilität, die diese traurigen Ereignisse hervorriefen, kamen den Chinesen sehr gelegen, die nach und nach ihren Einfluss und ihre Macht in Tibet vergrößerten. Inzwischen sind sie so stark, dass wir fürchten, sie könnten auch den letzten Schritt wagen und versuchen, die volle Kontrolle über das Land zu erlangen und die glorreiche Inkarnationslinie der Dalai Lamas für immer zu beenden. (4)
In Wirklichkeit erlebte das 19. Jahrhundert kein Anwachsen des chinesischen Einflusses in Tibet, sondern vielmehr dessen dramatische Abnahme. Wie der bekannte Historiker Melvyn Goldstein schreibt:
[A]s the nineteenth century unfolded, the Qing dynasty experienced pressing threats to its position as a result of internal disturbances such as the Taiping Rebellion (1848–1865) and external incursions by Western countries such as the Opium War of 1839–1842. Not surprisingly, the power of the ambans[Norbus 'Hochkommissare'] in Tibet waned, as did the involvement of the Qing emperors. Consequently, Tibet was able to conduct a war with the Sikhs and Ladakh in 1841–1842 and another war with the Nepalese in 1855–1856 with no involvement from China, although in the latter conflict Tibet was forced to pay Nepal an annual tribute and accept a Nepalese resident in Lhasa and extraterritoriality for Nepalese traders. Similarly, the thirteenth Dalai Lama was chosen in 1877 without recourse to the "golden urn" lottery that the Qing emperor, Qian Long, had ordered in 1792. And in 1897, two years after the thirteenth Dalai assumed political control, he stopped consulting the amban in the selection of top officials (in accordance with the 1792 regulations) and began appointing them directly. As Phuntso Tashi, the fourteenth Dalai Lama's brother-in-law (and a former Tibetan government official) explains, "For over 100 years Tibet's holders of political power had not been able to do that. The Manchu government was displeased with this but . . . they were unable to do anything about it." By the turn of the twentieth century, therefore, the Qing hegemony over Tibet was more symbolic than real, and the Tibet Question was, in a sense, latent - Tibet did not explicitly try to sever its ties to Beijing: it offered nominal respect to the emperor but did not defer to the emperor's amban in Lhasa. (5)
Bei den verdächtig frühen Toden der drei Vorgänger von Tubten Gyatso dürfte es sich wohl tatsächlich um Morde gehandelt haben, doch gibt es keine Belege dafür, dass China hinter ihnen gesteckt hätte. Sehr viel wahrscheinlicher ist es, dass die jungen Dalai Lamas den zahllosen Intrigen und Rivalitäten zum Opfer fielen, die das Bild der tibetischen Elite jener Zeit prägten. Der Grund für diese permanenten Machtkämpfe zwischen den Mönchs- und Adelscliquen des Schneelandes ist nicht in chinesischen Machinationen zu suchen, wie Norbu uns weismachen will, sondern vielmehr in der eigentümlichen Struktur des tibetischen Feudalstaates mit seiner auf dem Reinkarnationsglauben beruhenden Erbfolgeregelung. (6) Der geplante Mordanschlag auf Tubten Gyatso, der den historischen Hintergrund für den Roman abgibt, wurde von Demo Rinpoche, dem Regenten Tibets und Herrn des Klosters Tengyeling eingefädelt, der dabei nicht etwa als Marionette der bösen Chinesen agierte, sondern vielmehr seine eigenen und die Machtinteressen seines Klosters verfolgte.
Doch wie so oft passt die historische Realität in ihrer Komplexität nicht in das Weltbild des Nationalisten. Obwohl Jamyang Norbu dem alten Feudalsystem keineswegs völlig unkritisch gegenübersteht (wovon man im Mandala freilich nichts merkt), hat er sich ein Bild der tibetischen Geschichte zusammengebaut, in dem sich alles um den ewigen Konflikt zwischen dem unschuldigen, unterdrückten Schneeland und dem bösen, unterdrückerischen China dreht. Für alles negative müssen die verruchten Intrigen des Erbfeindes oder die Umtriebe bestochener Vaterlandsverräter verantwortlich gemacht werden. Diesen Geschichtsmythos versucht er den Leserinnen und Lesern seines Romans unterzujubeln, wobei dessen Verknüpfung mit den Figuren von Sherlock Holmes und Hurree Chunder Mookerjee zu besonders absurden Resultaten führt.

Die Hauptgefahr für die relative Selbstständigkeit Tibets ging im 19. Jahrhundert nicht vom geschwächten China, sondern vom machtvoll wachsenden Britischen Kolonialreich aus. Schon im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hatte die Ostindische Kompanie erstmals eine Expedition ins Schneeland entsandt. Ziel war es Tibet und darüberhinaus die Märkte Zentralasiens für britische Waren zu erschließen. Bis zum Opiumkrieg hatte man darin vor allem eine Möglichkeit gesehen, das sich abschottende China quasi durch die Hintertür zu erreichen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts richteten sich die britischen Ambitionen vor allem gegen Russland, das seinerseits bemüht war, Zentralasien seiner Vorherrschaft zu unterwerfen. In den 1860er Jahren begannen die Briten deshalb eine potentielle Handelsroute von Darjeeling über das Chumbi-Tal nach Gyangze und Lhasa zu erschließen. In einem Brief an die Kolonialverwaltung in Bengalen fasste Ashley Eden die britischen Erwartungen so zusammen: "A considerable trade will spring up between Lassa and Darjeeling. The Tibetans will only be too glad to exchange gold dust, musk, borax, wool and salt for English cloth, tobacco etc.; and the people of Sikkim will gain as carriers of this trade, and their government will raise a considerable revenue from the transit duties." (7) Diesem Projekt standen jedoch sowohl die chinesische als auch die tibetische Regierung ablehnend gegenüber. Schon seit längerem verfolgten die Herren im Potala eine extrem isolationistische Politik. Die Versuche der Briten, ihr Reich für den Handel zu erschließen, nahmen sie als Bedrohung war. Als Großbritannien dem von Opiumkriegen und Taiping-Aufstand geschwächten China 1876 im Vertrag von Chefu die Erlaubnis abpressten, eine Expedition nach Tibet zu entsenden, erwartete die ein Jahrzehnt später abmarschierte Macaulay-Gesandtschaft deshalb eine böse Überraschung, als sie die Grenze des Schneelandes erreichte. Nicht nur wurde ihr die Weiterreise verweigert, Tibets Herrscher schickten sogar Truppen in ein umstrittenes Grenzgebiet zwischen Sikkim und dem Schneeland. Wie der britische Resident in Nepal E. R. Girdlestone bereits 1879 in weiser Voraussicht erklärt hatte: "I know no reason why, unless Sir Jung Bahadoor’s extreme remedy for breaking down their exclusiveness by force of arms be adopted, free trade should be established in Thibet ". (8) Zu derart brachialen Methoden wollten die Briten allerdings noch nicht greifen. Sie beschränkten sich vorerst darauf, eine Reihe von Spionen ins Schneeland zu schicken, um sich genauere Informationen über das Verbotene Königreich auf dem Dach der Welt zu besorgen.

Einer dieser Spione war Hurrees reales Vorbild Sarat Chandras Das. In Das Mandala des Dalai Lama wird es jedoch so dargestellt, als seien alle Widerstände, auf die Mookerjee bei seiner ersten Expedition nach Tibet gestoßen ist, auf die Umtriebe des chinesischen Ambans zurückzuführen. Keiner der tibetischen Würdenträger scheint etwas dagegen zu haben, dass er während seines zweiten Aufenthaltes offizielle Berichte an seine Vorgesetzten in Indien schreibt. Diese Darstellung ist nicht nur historisch absurd, sie vermittelt auch ein erstaunlich positives Bild des britischen Empire. Anders als die ewig eroberungslüsternen Chinesen wirken die Engländer wie eine potentiell wohlwollende neutrale Macht. Tatsächlich sollte zwölf Jahre nach den fiktiven Ereignissen des Romanes 1904 ein dreitausend Mann starkes britisches Expeditionskorps unter Führung von Sir Francis Younghusband in Tibet einmarschieren, Aberhunderte Tibeter abschlachten und den XIII. Dalai Lama zur Flucht in die Mongolei zwingen. Doch Jamyang Norbus nationalistischer Idee ist nicht damit gedient, das Schneeland historisch korrekt als das Opfer imperialistischer Machtkämpfe darzustellen. Hass gegen China, nicht gegen die westlichen Kolonialmächte, zu schüren, ist sein Ziel. Und so wundert es auch nicht, dass sein Buch keinerlei kritische Haltung gegenüber seinen literarischen Vorbildern Conan Doyle und Kipling verrät, wie ich es eigentlich gehofft hatte.

All dies hätte ich bei meinem Wissen um Jamyang Norbus politische Positionen vielleicht erwarten müssen. Doch der vernichtendste Schlag erfolgte aus einer gänzlich überraschenden Richtung.

Fortsetzung folgt ...

(1) Vgl.: Kenneth Conboy & James Morrison: The CIA's Secret War in Tibet. John Kenneth Knaus: Official Policies and Covert Programs: The U.S. State Department, the CIA, and the Tibetan Resistance. Norbu hat den Khampa-Partisanen mit seinem Buch Warriors of Tibet ein patriotisches Denkmal zu setzen versucht.
(2) Mit dem Epos von Ge-sar haben die Tibeter immerhin die wahrscheinlich umfangreichste heroische Dichtung der Welt geschaffen, Ausdruck des Lebensgefühls einer stolzen Kriegeraristokratie. In der mir vorliegenden Übersetzung von Matthias Hermanns zählt sie gut 480 Seiten fortlaufenden Text. Man stelle sich das erst einmal in Versen vor!
(3) Arthur Conan Doyle: The Adventure of the Empty House. In: Ders.: The Return of Sherlock Holmes.
(4) Jamyang Norbu: Sherlock Holmes – Das Mandala des Dalai Lama. S. 191ff.
(5) Melvyn Goldstein: The Snow Lion and the Dragon. China, Tibet, and the Dalai Lama. S. 21f.
(6) Vgl.: Melvyn Goldstein: The Circulation of Estates in Tibet: Reincarnation, Land and Politics.
(7) Zit. nach: Jahar Sen: Sikkim and Himalayan Trade. In: Bulletin of Tibetology. Vol. 17. Nr. 3. (1981). S. 11.
(8) Zit. nach: Jahar Sen: India’s Trade with Central Asia via Nepal. In: Bulletin of Tibetology. Vol. 8. Nr. 2. (1971). S. 27.

Dienstag, 18. September 2012

Zehnter Jahrestag eines Verbrechens

Das Einhalten irgendwelcher Jubiläen gehört ganz offenbar nicht zu meinen Stärken. Erst als ich nach einer etwas längeren Pause vorgestern einmal wieder auf Caitlin R. Kiernans Livejournal vorbeischaute, wurde mir bewusst, dass sich kürzlich zum zehnten Mal das unrühmliche Ende der verdammt besten SciFi-Serie aller Zeiten gejährt hat: FARSCAPE.



Ich würde zu gerne einmal etwas ausführlicher über Farscape schreiben, aber das muss vorerst noch warten. Einige der Gründe, warum ich die Serie so sehr liebe, möchte ich aber dennoch rasch anführen.
Sie ist originell, witzig, menschlich, intelligent, eigenwillig und herrlich verrückt. Vor allem aber ist sie erfüllt von einem erfrischend anarchischen und nonkonformistischen Geist. Meines Wissens nach ist sie die einzige Space Opera - Serie, in der es keine hierarchischen, quasimilitärischen Kommandostrukturen gibt. Moya besitzt keinen Kommandanten, auf ihr herrscht vielmehr Anarchie. {Okay, in der 4. Staffel wird D'Argo zum "Captain" gewählt, aber de facto ändert sich dadurch nichts}. Anarchie nicht im Sinne irgendeines utopischen Ideals, sondern als ein Miteinander von Individuen, die sich erst ganz allmählich und unter zahlreichen Auseinander-setzungen zu einer Gruppe zusammenfinden. Persönliche Freiheit und darauf aufbauend Freundschaft und Solidarität sind die zentralen Werte von Farscape. Schließlich sind von Crichton und Aeryn einmal abgesehen zumindest in den ersten beiden Staffeln sämtliche Mitglieder von Moyas Crew ehemalige Sträflinge. Zhaan bezeichnet sich selbst als "Erzanarchistin"; D’Argo betont immer wieder, dass er sich nie wieder gefangen nehmen oder in Ketten legen lassen werde; Rygel wird von der Erinnerungen an seine jahrelangen Folterungen verfolgt; der sonst so ruhige Pilot reagiert mit extremer Panik und Wut, als man ihm erneut das Kontrollhalsband anzulegen versucht; Chiana fürchtet nichts so sehr, wie den Autoritäten ihrer Heimat (dem "Establishment") in die Hände zu fallen, die sie einer Gehirnwäsche unterziehen würden, um ihr unangepasstes, rebellisches Wesen auszulöschen; und selbst Aeryn war als Peacekeeperin in gewissem Sinne eine 'Gefangene' – die Gefangene eines unmenschlichen, militaristisch-rassistischen Systems.
Das Militär erscheint durchgehend als bösartig und unterdrückerisch. Das gilt nicht nur für die faschistoiden Peacekeeper, sondern für jedes Militär, einschließlich des irdischen. Crichton ist zwar Amerikaner, aber im Unterschied zu SciFi-Serien wie Stargate ist Farscape völlig frei von nationalem Chauvinismus. Die Moya-Crew selbst ist eine aus allen möglichen Völkern zusammengewürfelte Truppe. Und während der grausliche Vorspann von Enterprise den Eindruck zu erwecken versucht, die USA hätten quasi im Alleingang Luft- und Weltraum erobert, erhält Crichton in der allerersten Folge von seinem Astronautenvater als Glücksbringer einen Ring, den dieser von Juri Gagarin geschenkt bekommen hatte. Beeindruckend auch, wie die Serie auf die Ereignisse vom 11. September 2001 reagierte. Statt der vielerortens üblichen Appelle an nationale Einheit und militärische Stärke, richtete sich Farscape in einer seiner ganz seltenen politischen Kommentare ganz klar gegen die von den westlichen Regierungen geschürte Atmosphäre aus allgemeinem Misstrauen und Xenophobie. 
Abgesehen davon versuchte die Serie eigentlich nie wie etwa Star Trek oder Babylon 5 –, irgendwelche "gesellschaftlich relevanten" Themen zu behandeln, was in meinen Augen aber bloß von Vorteil ist. Bei ersterem nahm das gar zu oft die Form simplifizierender Allegorien an, bei letzterem mündete es schlussendlich in ziemlich fragwürdigen Aussagen. Farscape hingegen erzählt ganz einfach von interessanten und vielschichtigen Charakteren, die spannende Abenteuer erleben. Und das ist es, was ich zuallererst von einen guten Space Opera - Serie erwarte, nicht politische Kommentare. Es ist die Art des Umgangs mit altbekannten Motiven sowie der Geist, in dem die Geschichten erzählt werden, der die Serie zu etwas besonderem macht.
Mit Ben Browder, Claudia Black, Anthony Simcoe, Virginia Hey und Gigi Edgley, nicht zu vergessen dem im Juli dieses Jahres verstorbenen Jonathan Hardy und Lani Tupu als den Stimmen von Rygel und Pilot, verfügte Farscape über eine exzellente Kerntruppe von Schauspielern und Schauspielerinnen, denen durchgehend interessantes Material zur Verfügung stand, mit dem sie arbeiten konnten. Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen war die Serie mit wirklich guten Drehbüchern gesegnet, die die Klischees und Versatzstücke des Genres auf eigenwillige Weise anpackten und verwendeten. Alle Charaktere sind ambivalent, ohne dass diese Ambivalenz wie inzwischen so häufig der Fall zu einer Entschuldigung für billigen Zynismus oder die Verherrlichung antisozialen Verhaltens wird. Mit dem von Wayne Pygram grandios gespielten Scorpius besitzt Farscape darüber hinaus einen faszinierenden Bösewicht, der nicht nur grausam, rücksichtslos und intelligent ist, sondern dessen Beweggründe man durchaus nachvollziehen kann. Und dann sind da natürlich auch noch die fantastischen Kreationen aus Jim Hensons Creature Shop, dessen Sohn Brian einer der Koproduzenten der Serie war. Sie verleihen Charakteren wie Pilot und Rygel eine Präsenz und Körperlichkeit, wie es CGIs bisher nur sehr selten vermögen.



Im September 2002, unmittelbar vor dem Ausstrahlungsbeginn der 4. Staffel, verkündeten die Bosse des Sci Fi - Channel das Todesurteil über Farscape, indem sie abrupt den Geldhahn zudrehten. Sie zerstörten damit eine der innovativsten, geistreichsten und sympathischsten Beispiele für Science Fiction im Fernsehen der letzten Jahrzehnte. Die zwei Jahre später unter Brian Hensons Regie gedrehte Miniserie The Peacekeeper Wars wird dem Original leider in keiner Weise gerecht. Um ehrlich zu sein, ich wünschte mir, ich hätte sie nie gesehen. Für mich endet Farscape deshalb nach wie vor mit dem Cliffhanger in Bad Timing, der 22. Folge der 4. Staffel. Auf diese Weise werde ich außerdem stets aufs neue daran erinnert, was für ein Verbrechen vor zehn Jahren an der Phantastik begangen wurde.

Samstag, 15. September 2012

Ein paar kurze Bemerkungen zu MZB

Als ich neulich auf der Liste von Anubis' Neuzugängen Schwertschwester erblickte, erinnerte mich das daran, dass ich schon vor geraumer Zeit einmal etwas im Zusammenhang mit diesem Buch schreiben wollte. Als ich mir im März die "Sword & Sorcery" - Podcasts von SF Signal (Megapanel I, II, III & Panel I, II, III) anhörte, war mir nämlich aufgefallen, dass darin zwar die üblichen Verdächtigen des Subgenres wie Robert E. Howard, Fritz Leiber, Catherine L. Moore & Michael Moorcock erwähnt werden, die von Marion Zimmer Bradley ab 1984 herausgegebene Anthologienreihe Sword & Sorceress, deren erster Band im Deutschen eben unter dem Titel Schwertschwester erschien, hingegen mit Schweigen übergangen wird. Und dass selbst, als das Thema weiblicher Charaktere in der Sword & Sorcery zur Sprache kommt.
Bisher war es stets mein Eindruck gewesen, dass diese Anthologienreihe eine wichtige Rolle in der Geschichte des Subgenres gespielt und entscheidend dazu beigetragen habe, starke und unabhängige Protagonistinnen in ihm heimisch zu machen. Zwar hatte bereits die Gründerzeit der 30er Jahre Figuren wie Howards Dark Agnes oder Moores Jirel von Joiry* gekannt, aber gerade die Blütezeit der 60er/70er Jahre, als Lin Carter und L. Sprague de Camp aus dem Erbe von 'Two Guns' Bob eine profitable Industrie machten und Conans wie Clonans die Gefilde von Faërie beherrschten, dürften wenig zur Überwindung des tiefverwurzelten Sexismus der Sword & Sorcery beigetragen haben. Das Projekt einer ausschließlich weiblichen Hauptfiguren gewidmeten Anthologie musste deshalb auch Mitte der 80er Jahre noch beinahe revolutionär wirken.
Der beachtliche finanzielle Erfolg von Sword & Sorceress lässt mir außerdem die in einem der Podcasts aufgestellte These fragwürdig erscheinen, die Sword & Sorcery habe die Ära der Vorherrschaft tolkienesker High Fantasy in erster Linie durch ein Überwintern in den Regionen von Dungeons & Dragons überlebt.
Warum also verliert keiner der Teilnehmerinnen & Teilnehmer in den vier Panels ein Wort über die Reihe? War ihr Inhalt bei aller 'historischen' Bedeutung qualitativ zu minderwertig, um heute noch Erwähnung zu finden? Oder hat Zimmer Bradleys Ruf in der SFF-Community über die Jahre so stark gelitten, dass niemand mehr ihren Namen nennen mag?
Was ersteres angeht, so kann ich mich da nur zu Schwertschwester äußern. Der Band enthält in der Tat einige nur schwer erträgliche Geschichten, insbesondere Stephen L. Burns schrecklich klischeehaftes, unwitzig-witziges Geraubtes Herz, Deborah Wheelers völlig reizlose Imperatrix und Anodea Judiths esoterik-durchtränktes Haus im Wald. Doch davon einmal abgesehen, würde ich die Sammlung als durchaus lesenswert, wenn auch kaum als überragend bezeichnen. Die besten Stories stammen nicht zufällig aus der Feder von Autorinnen & Autoren, deren Namen auch heute noch größere Bekanntheit genießen und die damals meistenteils erst am Anfang ihrer Karriere standen. So beweist uns Glen Cook in Abgetrennte Köpfe, dass man dem überstrapazierten Motiv von Vergewaltigung und Rache bei richtiger Behandlung durchaus noch eine packende Geschichte abgewinnen kann. Emma Bull erweist sich in Zerreißendes Dunkel bereits als ebenso intelligent und sensibel, wie wir es von ihr gewohnt sind. Charles de Lint knüpft in Das Tal des Trolls auf gelungene und amüsante Weise an die pikareske Variante der Sword & Sorcery an, wie sie vor allem Fritz Leiber geprägt hat. Und Charles R. Saunders, der 1984 freilich kein Neuling im Geschäft mehr war und mit seinen Imaro-Romanen bereits einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des Subgenres geleistet hatte, steuert mit Gimmiles Lieder eine seiner ersten Stories um die Kriegerin Dossouye bei. Das Motiv, dessen sich der mir unbekannte Robin W. Bailey in Kind des Orkus angenommen hat, ist zugegebenermaßen nicht neu. Dass Menschen in ihrem Verlangen nach Unsterblichkeit alles das aufgeben, was ihrem Leben Wert verleiht, begegnet uns schließlich bereits in William Morris' The Story of the Glittering Plain (1891) und hat seine vielleicht bekannteste Ausformung in Ursula K. Le Guins The Farthest Shore (1972) gefunden. Doch in Kombination mit der interessanten Figur der Exgladiatorin Diana macht Bailey daraus eine hübsche kleine Erzählung.
Soviel zur Qualität von Schwertschwester. Was Marion Zimmer Bradleys aktuelles Ansehen angeht, so habe ich in der Tat das Gefühl, es sei nicht besonders gut darum bestellt. Bei meinen Streifzügen durch das phantastische Netz bin ich ihrem Namen jedenfalls auffällig selten begegnet, wenn man bedenkt, welch gewaltige Erfolge die Autorin in den 80er Jahren feiern konnte. Selbst die feministische Schule der Fantasy scheint sie nicht zu einer ihrer Heroinen zu zählen. Ich selbst habe nie viel von ihr gelesen. Als ich irgendwann in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zum ersten Mal Die Nebel von Avalon zwischen die Finger bekam, war ich freilich wie so viele damals restlos begeistert. Eine Reaktion, die sich in der Zwischenzeit  jedoch beinahe in ihr Gegenteil verkehrt hat, wofür es eine ganze Reihe von Gründen gibt. Die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Artusliteratur – von Geoffrey of Monmouth über Chrétien, Hartmann und Wolfram bis zu Malory – hat mir alle literarischen Versuche, die Geschichte der Tafelrunde im 'historisch korrekten' Kontext der Völkerwanderungszeit zu erzählen, gründlich vergällt. Trotz älterer Traditionen, deren Spuren wir noch in kymrischen Werken wie Culhwch ac Olwen finden können, sind Artus und seine Ritter doch Produkte der Kultur und Gesellschaft des Hochmittelalters. Mir sind Neubearbeitungen des Stoffes, die dies berücksichtigen und keine künstliche Rearchaisierung vornehmen, wie etwa T.H. Whites Once and Future King, deshalb einfach lieber. Zugegeben, das ist ein persönlicher Spleen, aber ich denke, was die aufdringliche Esoterik im Stile eines feministischen Neopaganismus angeht, von der das Buch geradezu überquillt, werde ich nicht der einzige sein, der bei einer heutigen Lektüre aus dem gequälten Stöhnen nicht mehr herauskommt. Zumal es so schrecklich offensichtlich ist, dass die beschriebenen religiösen Ansichten und Praktiken nichts mit dem realen Druidentum, dafür aber um so mehr mit den Fantastereien der New Age - Generation zu tun haben. Zimmer Bradley geht schließlich sogar so weit, ihre pseudokeltische Artusgeschichte mit dem Mythos von Atlantis zu verbinden!** Und zuguterletzt ist Die Nebel von Avalon keineswegs so originell, wie bei ihrem Erscheinen offenbar allgemein angenommen wurde. Einen mittelalterlichen Stoff zu benutzen, um die Geschichte vom Übergang des Matriarchats in das Patriarchat zu erzählen,*** war Anfang der 80er Jahre keineswegs neu. Beinahe ein halbes Jahrhundert vor Marion Zimmer Bradley hatte dies bereits Evangeline Walton in ihrer Mabinogi - Tetralogie (Prince of Annwn, The Children of Llyr, The Song of Rhiannon & The Virgin and the Swine) getan, wobei sie zumindest in einigen Teilen eine sehr viel größere Kunstfertigkeit bewiesen hatte.
Wie man sieht, besteht meine eigene Einstellung zu MZB in einer Mischung aus Unwissenheit und Ablehnung. Dennoch bin ich der Meinung, dass man ihren Beitrag zur Fantasy nicht mit Stillschweigen übergehen sollte. Sie mag keine große Schriftstellerin gewesen sein, aber sie hat doch mitgeholfen, die "letzte Bastion des männlichen Muskelhelden"****, als die die Sword & Sorcery Anfang der 80er Jahre vielen noch erscheinen musste, zu schleifen. Dafür gebühren ihr Dankbarkeit und Anerkennung.    

* Schwertschwester ist ja nicht zufällig C.L. Moore gewidmet, "die uns Jirel von Joiry gab, die erste Frau, die ihr Schwert gegen Hexerei erhob. Und allen von uns, die sich als Kinder wünschten, so einmal so zu weden wie Jirel."
** Tatsächlich hing MZB in den 80er Jahren dem Neopaganismus an, hatte sie zusammen mit Diana L. Paxson (die übrigens auch in Schwertschwester vertreten ist) 1978 doch sogar einen Wiccan-Zirkel namens "Darkmoon" gegründet.
*** Inwieweit es historisch wahrscheinlich ist, dass es es einen solchen Übergang je gegeben hat, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Ich will jedoch zumindest auf Kari Sperrings kürzlich auf dem Blog von Charles Stross veröffentlichten Post The Myths of Avalon hinweisen.
**** Marion Zimmer Bradley (Hg.): Schwertschwester. S. 9.

Donnerstag, 13. September 2012

Abschaum & Ungeziefer

Als ich vor einem Monat auf der in der Lovecraft eZine veröffentlichen Liste "lovecraftianischer Studiofilme" John Carpenters Prince of Darkness aus dem Jahre 1987 erblickte, musste ich erst einmal stutzen. Das war doch der Streifen, in dem Satan in Gestalt einer grünen, schleimigen Flüssigkeit in einer heruntergekommenen Kirche unter Verwahrung gehalten wird, bis der Tag der Apokalypse herannaht? Was hatte denn das mit dem Gentleman von Providence zu tun? Aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr gelangte ich zu der Überzeugung, dass dies nicht nur tatsächlich ein "lovecraftianischer" Film ist, sondern vielleicht sogar der "lovecraftianischste", den ich je gesehen habe. Und dass, obwohl er nicht einen einzigen direkten Verweis auf den Cthulhu-Mythos enthält. Damit will ich wohlgemerkt nichts über die Qualität von Prince of Darkness gesagt haben. Wer einen wirklich guten Lovecraft-Film sehen will, dem kann ich nur einmal mehr die von der H.P. Lovecraft Historical Society kreierte Stummfilmversion von Call of Cthulhu ans Herz legen.

Nachdem ich meine Bekanntschaft mit Carpenters Streifen kürzlich wieder aufgefrischt habe, nun also meine Gedanken zu seinen cthulhuoiden Attributen:


Als Drehbuchautor nennt der Film den fiktiven Martin Quatermass, was zusammen mit dem Namen Kneale - University als eine Hommage an Nigel Kneale gedacht war, den Schöpfer der Quatermass - Serien und Meister der britischen TV - Phantastik (Nineteen Eighty-Four, The Year of the Sex Olympics, The Stone Tape, The Woman in Black). Kneale, der sehr negative Erfahrungen als Drehbuchschreiber für Halloween III gemacht hatte, war alles andere als beglückt. Er wollte nicht, dass der Eindruck entstehen könnte, er habe irgendetwas mit der Produktion dieses Filmes zu tun gehabt. Ein verständlicher Wunsch, ist Prince of Darkness alles in allem doch ein erbärmlich schlechtes Stückchen Horror-Kino.
Das Problem ist nicht so sehr die Absurdität des Plots oder der Umstand, dass Seine Höllische Majestät ein unwürdiges Dasein als grüner Schleim in einem Glastank fristen muss. Es sind vielmehr die handelnden Personen, die sämtlichst so blass und uninteressant bleiben, dass es unmöglich ist, eine emotionale Verbindung zu ihnen aufzubauen. Soll Satan mit ihnen anstellen, was er will, mich lässt das völlig kalt. Eine unglaubwürdigere und unsympathischere Liebesbeziehung als die des Protagonistenpärchens Brian "Der Schauzbart" Marsh (Jameson Parker aus Simon & Simon) und Catherine Danforth (Lisa Blount) ist mir selten untergekommen. Man kann beinahe froh sein, dass sie für die Handlung praktisch ohne jede Bedeutung ist. Victor Wong als Physikprofessor Birack wirkt einfach bloß irritierend, und dem fortschreitenden Niedergang von Donald Pleasance beizuwohnen, ist gleichfalls kein Vergnügen. Dass der Anblick von Pleasance im Talar bei mir immer wieder Erinnerungen an seinen fantastischen Auftritt in J. Lee Thompsons Eye of the Devil wachruft, ist da auch nicht eben hilfreich.
Auch eingefleischte Carpenter-Fans betrachten Prince of Darkness selten als ein Glanzstück des Charakter-Kinos. Sehr viel häufiger bekommt man von ihnen zu hören, der Film entwickle eine Reihe von intelligenten und provokanten Ideen, ja er besitze geradezu philosophische Substanz. Ich für meinen Teil tue mir schwer damit, wenn man mir irgendwelche Mixturen aus falsch verstandener Quantenmechanik und Mystizismus vorsetzt. Es gibt einfach zu viele Esoteriker, die dieses Spielchen ganz ernsthaft betreiben. Mir ist Phantastik lieber, die nicht den Anschein der Wissenschaftlichkeit zu erwecken versucht. Ernstzunehmen sind die eingestreuten Gespräche über Schrödingers Katze oder die Beziehung zwischen Materie und Antimaterie jedenfalls nicht. Aber sie erinnern doch in der Tat ein wenig an Lovecraft, der in seine Geschichten gleichfalls ganz gerne Verweise auf wissenschaftliche Konzepte wie etwa Einsteins Relativitätstheorie einbaute – am deutlichsten wohl in Träume im Hexenhaus. Und ähnlich wie Carpenter wollte er damit das Gefühl vermitteln, dass die Welt in Wahrheit ganz anders aussieht, als es uns unser Alltagsverstand vermittelt.
Hierin besteht sicher die offensichtlichste Parallele zu Lovecraft, doch geht es mir eigentlich um etwas anderes. Der Satan in Prince of Darkness hat so gut wie nichts mit der Gestalt aus der christlichen Mythologie zu tun, sondern erinnert eher an 'das Böse' in Clark Ashton Smiths Kurzgeschichte The Devotee of Evil: "[T]he source of all death, deterioration, imperfection, pain, sorrow, madness and disease." Mit anderen Worten, er verkörpert den radikalen Gegensatz zu allem, was Leben bedeutet. Sein Erwachen stärkt die Kräfte von Fäulnis und Zerfall in seiner Umgebung, die in Gestalt massenhaft auftretender Würmer, Maden und Käfer für einige der eindrucksvollsten Szenen des Filmes sorgen.

Nun gilt Lovecraft zwar gemeinhin als Autor des kosmischen Horrors, doch das Hauptmotiv seiner Erzählungen sind in Wirklichkeit nicht die lichtlosen Abgründe zwischen den Sternen, sondern Dekadenz und Verfall. Es wimmelt in seinen Geschichten geradezu von Darstellungen der Fäulnis und Krankhaftigkeit. Da ist eine Burg "wie ein ekelerregender Schimmelpilz" auf älteren Fundamenten "hochgewuchert", und "Rudel fetter, pilzüberwucherter Säue" stampfen durch die Alpträume der Geplagten (1); okkulte Bücher wie das Necronomicon sind meist "weißlich ... schimmlig" vermodert (2); und alles, was von dem armen Edward Derby in Das Ding auf der Schwelle übrigbleibt, ist ein "entsetzlicher, sich verflüssigender Brei"(3). Stets liegt über dem Ganzen ein übelkeiterregender Fäulnisgeruch, ein Gestank, "der nicht von dieser Welt oder von irgend etwas gesundem, heilen stammen" kann. (4) Selbst Lovecrafts beste Horrorstory Die Farbe aus dem All, die man mit einiger Berechtigung als seine einzig wirklich ‘kosmische’ Geschichte bezeichnen könnte, dreht sich nicht eigentlich um die Schrecken der "formlosen Bereiche der Unendlichkeit jenseits aller uns bekannten Natur" (5), sondern brilliert vor allem mit der eindringlichen Schilderung einer schrittweisen Degeneration, der Deformation von Pflanzen und Tieren rund um die Einschlagstelle eines Meteors, und des allmählichen physischen und psychischen Verfalls der dort ansässigen Farmerfamilie. Lovecraft beschreibt in seinen Erzählungen eine Welt, die im tiefsten Inneren von Fäulnis befallen ist und sich in einem fortschreitenden Prozess der Auflösung befindet, der "uns alle zu schwammartigen Abnormitäten verrotten lassen wird, die zu schrecklich sind, als daß das Grab sie halten könnte" (6). Die furchtbare Wahrheit, der sich Lovecrafts Helden gegenüber sehen, ist nicht, dass die Natur dem Menschen gleichgültig gegenübersteht, sondern vielmehr, dass die Welt unter ihrer scheinbar so lebendigen Oberfläche am verrotten ist. In Die lauernde Furcht, wo beschrieben wird, wie eine Sippe einstiger Aristokraten über Generationen hinweg zu einer Horde kannibalischer Troglodyten degeneriert, heisst es von dem grausigen Endprodukt dieser Entwicklung ausdrücklich, es sei "die Verkörperung all der Verstrickungen und des Chaos und der grinsenden Furcht, die hinter der belebten Welt lauert" (7).
Betrachtet man dieses immer wiederkehrende Fäulnismotiv vor dem Hintergrund von Lovecrafts allgemeiner Weltsicht, so kann es als ziemlich sicher gelten, dass sich in ihm vor allem die Furcht des erzreaktionären Schriftstellers vor dem in seinen Augen allgegenwärtigen gesellschaftlichen Verfall widerspiegelt. {Auch wenn dies sicher nicht sein einziger Inhalt ist.} Wie er im Februar 1927 in einem Brief an Clark Ashton Smith schrieb: "It is my belief  & was so long before Spengler put his seal of scholarly proof on it   that our mechanical & industrial age is one of frank decadence". Das, was er unter wahrer Zivilisation verstand, sah er auf allen Seiten bedroht durch die zerstörerischen Kräfte der Moderne Industrie, Großstadt, Kapitalismus, Demokratie, Sozialismus. Seine vielleicht beeindruckendste Inkarnation fand dieses Gefühl im Bild der Hafenstadt Innsmouth  einst eine blühende Siedlung, nunmehr die verrottende Heimstatt degenerierter Mischwesen.
It was the city I had known before;
The ancient, leprous town where mongrel throngs
Chant to strange gods, and beat unhallowed gongs
In crypts beneath foul alleys near the shore.
The rotting, fish-eyed houses leered at me
From where they leaned, drunk and half-animate
(8)
So wie die strahlende "Stadt im Sonnenuntergang" aus der Traumsuche nach dem unbekannten Kadath Lovecrafts Ideal einer von traditionellen Werten beherrschten Welt der Schönheit und Kultur verkörpert, so steht das heruntergekommene Innsmouth exemplarisch für alles, was diese überkommene Ordnung untergräbt und zersetzt. Der rassistische Unterton von Schatten über Innsmouth ist schwerlich zu überhören. Doch wie schon in der zurecht berüchtigten New York - Geschichte Grauen von Red Hook, ist das 'rassische' Motiv auch hier unauflöslich verbunden mit einem allgemeineren sozialen. Die Bewohner der Siedlung sind nicht nur Mischlinge, sondern auch samt und sonders Lumpenproletarier. Oder wie sich ein Beamter ausdrückt: "Ich glaube, sie sind das, was man in den Südstaaten ‘weißes Gesindel’ ['white trash'] nennen würde – gesetzlos, gerissen und voller finsterer Machenschaften." (9)

Dass John Carpenter dem Fäulnismotiv aus denselben Gründen eine so zentrale Rolle in Prince of Darkness gegeben hat, würde ich nicht behaupten wollen. Ganz sicher jedenfalls hat er dies nicht bewusst getan. Dennoch ist die Ähnlichkeit zu Lovecrafts Verwendung des Motivs auffällig. Denn neben dem krabbelnden und kriechenden Ungeziefer finden die Mächte des Zerfalls ihre Verkörperung noch in einer zweiten Form: In den Obdachlosen, die sich um die Kirche zusammenrotten und mehrere von Biracks Studenten auf grausige Weise ermorden. Und bei etwas genauerer Überlegung enthält dieses Zusammenstellen von ekligen Käfern und zerlumpten Menschen in der Motivik des Films doch höchst unerfreuliche Implikationen.

Die 80er Jahre waren für nicht unbeträchtliche Teile der amerikanischen Gesellschaft eine Zeit des Niedergangs. Während an der Spitze und in den Kreisen der oberen Mittelklasse wilde Bereicherungsorgien gefeiert wurden, sah es andernorts immer trostloser aus: Die bereits in den 70er Jahren einsetzende Deindustrialisierung führte zur zunehmenden Verödung ganzer Städte und Regionen; stagnierende oder sinkende Löhne und wachsende ökonomische Unsicherheit wurden für immer mehr Menschen zum traurigen Alltag; die immer schärfere soziale Polarisation führte in den Innenstädten zum Anwachsen der ghettoartigen Armenviertel usw. Carpenter war nicht blind für diese Entwicklungen, aber seine Reaktion darauf erscheint widersprüchlich. In Escape from New York (1981) hatte er die Großstadt als "a kind of jungle", ihre Bewohner als einen anarchischen Mob dargestellt. Nimmt man dazu die paranoide Verunsicherung aus The Thing (1982), die einem in jedem Menschen eine wilde Bestie vermuten lässt, so ließe sich Prince of Darkness tatsächlich als eine im schlimmsten Sinne "lovecraftianische" Reaktion auf die Krise der US-Gesellschaft verstehen.  Andererseits würde Carpenter bloß ein Jahr später in They Live ganz bewusst einen Kommentar zur gesellschaftlichen Entwicklung abzugeben versuchen, der so gar nicht der aristokratischen Weltanschauung des Gentlemans von Providence entsprochen hätte. Die wahrscheinlichste Erklärung für diesen Widerspruch dürfte es sein, dass der Filmemacher selbst über keine festgefügte Weltsicht verfügt und in mehr oder weniger impressionistischer Weise auf die soziale Realität reagiert, wobei er zwischen spießbürgerlicher Angst und rebellischer Wut hin und her schwankt. Wenn Prince of Darkness eher erstere zum Ausdruck bringt, werden wir letzterer schon bald ausgiebigst in unser Besprechung von They Live begegnen ...


(1) H. P. Lovecraft: Die Ratten im Gemäuer. In: Ders.: Cthulhu Geistergeschichten. S. 46; 54.
(2) H. P. Lovecraft: Das Fest. In: Ders.: Stadt ohne Namen. S. 48. Vgl.: "In der Sakristai neben der Apsis fand Blake ein altes wurmzerfressenes Schreibpult und bis an die Decke reichende Regale voll verschimmelter Bücher." (Ders.: Der leuchtende Trapezoeder. In: Ders.: Cthulhu Geistergeschichten. S. 99.)
(3) H. P. Lovecraft: Das Ding auf der Schwelle. S. 38. Das Motiv des Lebenden Leichnams, der sich schließlich in eine schleimige Pfütze auflöst, wie es auch in Kühle Luft vorkommt, hat Lovecraft von Arthur Machen übernommen. Vgl. dessen Novel of the White Powder aus dem Episodenroman The Three Impostors.
(4) H. P. Lovecraft: Das Grauen von Dunwich. In: Ders.: Cthulhu Geistergeschichten. S. 138.
(5) H. P. Lovecraft: Die Farbe aus dem All. In: Ders.: Das Ding auf der Schwelle. S. 80.
(6) H. P. Lovecraft: Grauen in Red Hook. In: Ders.: Stadt ohne Namen.. S. 93.
(7) H. P. Lovecraft: Die lauernde Furcht. In: Ders.: Stadt ohne Namen. S. 220.
(8) H. P. Lovecraft: Fungi from Yuggoth. IX: The Courtyard.
(9) H. P. Lovecraft: Schatten über Innsmouth. S. 17.

Mittwoch, 12. September 2012

Go, Terry, go !

Ich hätte nicht geglaubt, dass ich so was mal sagen würde, aber ich hoffe, Terry Brooks macht das Rennen ...

Wie Variety verlauten lässt, hat Sonar Entertainment die Rechte am Shannara-Zyklus erworben und plant zusammen mit Farah Films eine Fernsehserie daraus zu machen. Derweil arbeitet man bei Warner Bros. Brooks' Angaben zufolge an einem zweiten Script für eine geplante Verfilmung von Magic Kingdom for Sale. Von keinem der beiden Projekte lässt sich im gegenwärtigen Stadium sagen, ob sie tatsächlich je ihre Verwirklichung erleben werden. Aber der Erfolg von HBOs Game of Thrones scheint die Fernsehschaffenden und ihre Geldgeber dem Fantasygenre allgemein geneigter gemacht zu haben. Terrys Bücher dürften kaum die einzigen sein, die dabei momentan im Gespräch sind. Andererseits sind zumindest seine Shannara-Schinken veritable Bestseller, und wie Dan Farah es so trefflich ausdrückt: "He has a built-in fanbase that is bigger than those for even the most recent hit book series, like 'The Hunger Games.'"
Es wäre schon irgendwie witzig, wenn die Verfilmung des Urvaters der Grimdark-Fantasy einer Verfilmung des Urvaters der tolkienesken 80er Jahre - High Fantasy den Weg bereitet hätte. Auf eine Umsetzung des peinlichen Herr der Ringe - Klons The Sword of Shannara werden Sonar & Farah allerdings klugerweise verzichten, und stattdessen gleich mit den Elfstones beginnen.

Normalerweise verspotte ich den armen Terry ja recht gerne als den epigonalsten aller Tolkien-epigonen. Wenn ich mir jedoch überlege, welche Art TV-Fantasy-Serie ich gerne produziert sehen würde, erscheint mir Shannara auf einmal gar nicht mehr so unansehnlich. Verglichen mit der nicht unwahrscheinlichen Alternative irgendeiner zynischen Grim & Gritty - Geschichte voller voyeuristischer Sex- und Gewaltexzerzitien, wirken die wiederholten Questen der Ohmsford-Sippe zur Rettung der Welt in ihrer naiven Abenteuerlichkeit sogar richtiggehend sympathisch.

Leider ist genau dies auch der Grund, warum eine Umsetzung des Shannara-Projektes bei realistischer Betrachtung eher unwahrscheinlich erscheinen muss. Wenn die Network-Bosse den Erfolg von Game of Thrones  wiederholen wollen, dann werden sie sich dafür eine Geschichte aussuchen, in der sie ähnlich viel Blut und Sperma fließen lassen können.

Montag, 10. September 2012

Fragen über Fragen

Vor ein paar Tagen kam mir der Gedanke, es wäre eigentlich ganz interessant, sich wieder einmal John Carpenters The Fog anzuschauen. Würde der Nebel des Grauens nach zwei Jahrzehnten meine durchweg guten Erinnerungen bestätigen? Oder würde es ihm ähnlich ergehen wie In the Mouth of Madness, der sich bei einem kürzlichen Wiedersehen als keineswegs so spukig und originell entpuppte, wie mein Gedächtnis mir über viele Jahre vorzugaukeln versucht hatte?

Nun habe ich momentan nicht die Möglichkeit, nach Antonio Bay zurückzukehren, und so wird meine ursprüngliche Frage wohl vorerst unbeantwortet bleiben müssen. Stattdessen nahm auf einmal eine sehr viel allgemeinere in meinem Hirn Gestalt an. John Carpenter ist zweifellos einer der großen Namen im Genre-Kino. Doch andererseits gilt sein Oeuvre als reichlich durchwachsen. Und mal ehrlich, was hat er uns in den letzten zwei Jahrzehnten nicht so alles vorgesetzt? Zuerst bewies er mit Village of the Damned (1995), dass er auch miese Remakes von alten SciFi-Horror-Flicks machen kann. Dann leistete er mit Ghosts of Mars (2001) seinen Beitrag zur kurzlebigen und durchweg mauen cinematographischen Liebelei mit dem Roten Planeten in den frühen 2000ern. All dies toppte er schließlich, indem er das Remake seines eigenen Klassikers The Fog (2005) schrieb und produzierte. Selbst für die Recyclingmaschine von Hollywood ein eher seltenes Ereignis. Angesichts dieser wenig beeindruckenden Leistungen frage ich mich, ob er überhaupt jemals so gut gewesen ist, dass er seinen Ruf tatsächlich verdient hätte.

Oh nein, ich bin nicht auf die verrückte Idee gekommen, in Frage stellen zu wollen, dass Carpenter eine wichtige Rolle in der Geschichte des phantastischen Kinos gespielt hat. Aber bedeutet das automatisch, dass er ein großer Filmemacher war oder ist? Werfen wir doch kurz gemeinsam einen Blick auf die Liste seiner klassischen Werke aus den 70ern & 80ern (wobei ich The Fog logischerweise außen vor lasse).

>> Dark Star (1974) <<
Mit einem lächerlichen Budget von 60.000 $ schufen Carpenter und Dan O'Bannon in ihren  Studententagen diesen durchgedrehten Film, der nicht nur als der direkte Vorläufer von Alien gelten kann (wofür O'Bannon das Drehbuch schrieb), sondern zu einem Kultklassiker unter allen Liebhabern des Grotesken geworden ist. Kein Wunder also, dass er trotz aller handwerklichen Mängel ganz oben auf meiner persönlichen Carpenter-Hitliste steht. Er war es, der fünf Jahre vor Ridley Scotts Riesenerfolg das dreckige Space-Proleten-Milieu ins SciFi-Kino einführte. (Man kann zwar die Ansicht vertreten, Douglas Trumbulls Silent Running [1972] habe da auch seinen Beitrag geleistet, aber dessen Öko-Thema gibt ihm doch einen deutlich anderen Vibe). Allein schon deshalb gebührt ihm höchste Anerkennung. Außerdem: Wer könnte einen Film nicht lieben, der eine philosophische Diskussion mit einer unwilligen Bombe enthält?

{Eine Empfehlung am Rande: In Hypnobobs 80 "The Origins of ALIEN" unterhält sich Jim Moon mit den BlackDogern Lee Medcalf und Darran Barnard u.a. auch über Dark Star. Anhören!}

>> Halloween (1978) << 
Nicht dass er das wirkliche Gründungswerk des Subgenres gewesen wäre, aber sein Erfolg löste zusammen mit dem von Sean S. Cunninghams Friday 13th (1980) die Slasher-Film-Welle der 80er Jahre aus. Eine Mode, mit der ich persönlich nie besonders viel habe anfangen können. Meine Erinnerungen an Halloween sind verschwommen, aber nicht negativ. Spannend war der Streifen schon. Vielleicht aber lassen die zahllosen unoriginellen Slasher-Flicks späterer Jahre dieses Urgestein auch besser erscheinen, als es eigentlich ist? Doch davon einmal abgesehen: War die Richtung, die Carpenter und Cunningham dem Mainstream-Horror des nächsten Jahrzehnts verliehen, wirklich so begrüßenswert? Im Allgemeinen stehe ich akademisch-feministischer Kritik und Analyse ja eher skeptisch gegenüber, aber so ganz abwegig erscheint es mir in der Tat nicht, im von Halloween geprägten Muster des Slasher-Films eine konservative Reaktion auf die kulturellen Veränderungen der 70er Jahre zu sehen. Werden die Jugendlichen durch Michael Myers & Co. nicht tatsächlich für ihren Hedonismus, ihre sexuelle Freizügigkeit, ihre Rebellion gegen elterliche Autorität 'bestraft'? Und werden Frauen im Slasher-Film nicht wirklich auf eine Art und Weise zu Opfern gemacht, die aufgrund der starken sexuellen Konnotation noch sehr viel unangenehmer wirkt, als das Klischee der kreischenden Frau in den alten Horror-Flicks? Carpenters Erklärung, Laurie überlebe nicht deshalb das Massaker, weil sie dem konservativen Ideal der Jungfrau entspricht, sondern weil sie ihre unterdrückte Sexualität in Aggression umwandle und sich deshalb gegen Myers verteidigen könne, wirkt auf mich jedenfalls ausgesprochen bizarr: "The one girl who is the most sexually uptight just keeps stabbing this guy with a long knife. She's the most sexually frustrated. She's the one that's killed him. Not because she's a virgin but because all that sexually repressed energy starts coming out. She uses all those phallic symbols on the guy." Oder wollte sich John damit bloß über die freudianisch-feministischen Theorien seiner Kritikerinnen & Kritiker lustig machen?

{Nebenbei bemerkt: Ist Whedon mit seiner 'Dekonstruktion' dieser Klischees in Cabin in the Woods nicht über zehn Jahre zu spät dran? Manchmal habe ich den Eindruck, der gute Joss habe sich seit den Tagen, als er Buffy keierte, gedanklich nicht mehr groß weiterentwickelt.}

>> Escape from New York (1981) <<
Jetzt stoßen wir in gefährliches Terrain vor. Kurz gesagt: Ich hasse diesen Film. Carpenter hat einmal verlauten lassen, er sei als eine (verspätete) Reaktion auf die Nixon-Ära und den Watergate-Skandal konzipiert gewesen. Aber wie Wikipedia so hübsch schreibt: "[He] proved incapable of articulating how the film related to the scandal." In meinen Augen schloss sich Carpenter mit diesem Streifen dem immer stärkeren Trend im amerikanischen Kino an, die Bevölkerung der Innenstädte als einen barbarischen, gewalttätigen, verbrecherischen Mob darzustellen. Eine Entwicklung, die bereits Mitte der 70er Jahre eingesetzt hatte. Carpenter bezog seine Inspiration u.a. von Brian Garfields Death Wish (1974), dem Streifen, mit dem Charles Bronson seine traurige Karriere als schnauzbärtige Verkörperung der Selbstjustiz begonnen hatte. Eine Zeit lang spielte er sogar mit dem Gedanken, Bronson für die Rolle des "Snake" Plissken zu verpflichten. Der gleichzeitige Zynismus gegenüber den Vertretern des Establishments, die in Filmen wie Escape from New York als doppelzüngige Gauner im Nadelstreifenanzug dargestellt werden, ändert nichts am reaktionären Inhalt dieses ganzen Trends.

>> The Thing (1982) <<
In einer Zeit, in der wir uns Jahr für Jahr mit Remakes herumschlagen müssen, deren einzige Funktion darin zu bestehen scheint, uns alle zu Kinonostalgikern zu machen, tut es gut, sich immer mal wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, dass auch der Genrefilm eine Reihe wirklich guter Remakes hervorgebracht hat. Carpenters Neuauflage des Christian Nyby & Howard Hawks - Klassikers The Thing From Another World aus dem Jahre 1951 ist zweifellos ein Vertreter dieser raren Spezies. Habe ich irgendetwas grundsätzliches gegen ihn einzuwenden? Eigentlich nicht, aber ... Es war wieder einmal der unvergleichliche Mr. Jim Moon, der mir die Augen dafür öffnete, wieviel Carpenters Schocker Philip Kaufmans vier Jahre zuvor in die Kinos gelangtem Invasion of the Body Snatchers verdankt.* Die Ähnlichkeiten beschränken sich nicht darauf, dass beide gelungene Remakes von SciFi-Horror-Filmen aus den Fifties sind. Was den visuellen Stil betrifft, so kann man die beunruhigenden 'Geburtssequenzen' aus Body Snatchers (die bei mir als Kind echt Alpträume verursacht haben) in ihrer 'organischen' Qualität duchaus als das Vorbild für die berühmten Verwandlungsszenen in The Thing betrachten. Wichtiger jedoch ist, dass beide Filme dasselbe Gefühl tiefer Verunsicherung und paranoider Furcht zum Ausdruck bringen. Hinter jedem noch so bekannten Gesicht kann sich ein bösartiges, unmenschliches Wesen verbergen. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Kaufman diese Empfindung sehr viel deutlicher in der sozialen Realität verankert. Das eigentliche Thema seines Films ist Entfremdung und Isolation, die sich in der großstädtisch-kapitalistischen Gesellschaft aus dem Zerfall der traditionellen Formen von Gemeinschaft (Familie, Gemeinde usw.) entwickeln, welche noch einen Rest von Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln vermochten. The Thing bleibt in dieser Hinsicht sehr viel veschwommener. Ihm könnte man ebensogut die Aussage entnehmen, dass sich in jedem Menschen ein blutgieriges Monster verbergen kann. Betrachtet man ihn (wie Carpenter dies selbst tut) als Auftakt zu einer Trilogie, deren zweiter Teil Prince of Darkness (1987) ist, so erscheint diese Interpretation sogar als die wahrscheinlich richtigere.

>> Big Trouble in Little China (1986) <<
Das beste, was man über Michael Ritchies The Golden Child sagen kann, ist, dass es ohne diesen fürchterlichen Streifen auch kein Big Trouble in Little China geben würde. Hätte 20th Century Fox nicht einen Konkurrenten zu Paramounts Eddie Murphy - Vehikel ins Rennen schicken wollen, Carpenter hätte nie die Gelegenheit gehabt, seine Liebe zu verrückten Hongkong-Flicks cineastisch auszuleben – und uns wäre ein Höllenspaß entgangen. Normalerweise hasse ich es, wenn mir jemand sagt, ich müsse mein Gehirn abschalten, um einen bestimmten Film genießen zu können. Aber wenn es um die Abenteuer von Jack, Wang & Gracie in ihrem epischen Kampf gegen den bösen Unsterblichen Lo Pan geht, würde man von mir genau das gleiche Sprüchlein zu hören bekommen. Wer anfängt, bei Big Trouble in Little China nach innerer Logik zu suchen, oder sich über die offensichtlich mangelhaften Englischkenntnisse diverser Darsteller mokiert, ist bereits verloren. Er wird nie den kunterbunten Nonsense dieses Films genießen können. Sicher – nach objektiven Maßstäben gemessen, ist dies kein guter Film ... also vergiss einmal für eins, zwei Stunden die objektiven Maßstäbe! Wo sonst im phantastischen Kino begegnet uns ein Held wie Kurt Russels Trucker Jack Burton? Ein Typ, der offensichtlich zu viele John Wayne - Western gesehen hat und sich für eine Mischung aus dem Duke und Indiana Jones hält – was er in Wirklichkeit natürlich nicht ist, so dass er die meiste Zeit über völlig planlos und unfähig durch die Gegend stolpert? Und was all jene betrifft, die den Film für ein übles rassistisches Machwerk in der Tradition der alten Fu Manchu - Flicks halten ... Ich kann ihnen nicht wirklich stichfeste Gegenargumente liefern. Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er in diesem Streifen ein Paradebeispiel für orientalistische Klischees oder einen charmanten B-Movie-Spaß sehen will.

{Wer etwas lesen will, was noch absurder ist als der Plot von Big Trouble in Little China, den verweise ich auf einen Artikel von David Sirota, der es tatsächlich fertig bringt, den Streifen als eine metaphorische Darstellung amerikanischer Außenpolitik zu interpretieren!}

Alles in allem sieht es meiner Meinung nach nicht so schlecht aus mit John Carpenters Klassikern. Doch andererseits würde es mir schwerfallen, einen von ihnen als 'Meisterwerk' zu bezeichnen. Ganz sicher würde ich mich nicht denen anschließen, die in ihm einen der künstlerisch bedeutenden phantastischen Filmemacher sehen. Dazu sind mir seine intellektuellen wie handwerklichen Schwächen einfach zu offensichtlich. Allerdings hat mir dieser kurze Ausflug in die 80er Jahre Lust darauf gemacht, einmal wieder zwei hier noch nicht behandelte Carpenter-Streifen hervorzukramen, anzuschauen und etwas ausfühlicher zu besprechen: Prince of Darkness, den ich in gewisser Weise für einen der lovecraftianistischen Filme halte, die ich kenne, und They Live, Carpenters auf bewundernswerte Weise missglückten Versuch einer Auseinandersetzung mit der Reagan-Ära.
Und so schließe ich mit der altbekannten Formel:
Fortsetzung folgt ...    


*Vgl. Jim Moons traditionellen Schlusskommentar (1:28:44) in Episode 106 des BlackDog Podcast "Vegetables are bad for your health".