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Mittwoch, 26. September 2012

Pastiche und Propaganda (II)

Jamyang Norbu hat wie gesagt nichts übrig für die im Westen verbreitete Tendenz, in Tibet eine Art mystisches Wunderland zu sehen:
There's a kind of New Age perception of Tibet, which is fed to some extent quite deliberately by propagandists for Tibet, many New Age type Buddhists, Tibetan Buddhists. And, also subscribed gradually by Tibetans, including the Dalai Lama and a lot of prominent Lamas. The idea that this even materialist west will be saved by the spiritualism of the Tibetan Buddhists. It's total nonsense.
Man kann sich darum vielleicht vorstellen, wie erstaunt ich war, als ich feststellen musste, dass Norbu mit der zweiten Hälfte von Das Mandala des Dalai Lama genau diese Heilssehnsucht zu bedienen versucht.
Es zeigt sich nämlich sehr schnell, dass das vermeintliche Mordkomplott, zu dessen Verhinderung Sherlock Holmes nach Tibet gerufen wurde, gar nicht die eigentliche Bedrohung darstellt, gegen die unsere Helden vorgehen müssen. Damit verliert die Geschichte augenblicklich ihren holmes'schen Charakter und begibt sich straks in die Untiefen von Pulp-Phantastik, Mystizismus und esoterischem Quark. Statt sich der gängigen Methoden von etwas Gift im Mittagsmahl oder einem Messer in der Nacht zu bedienen, haben die Chinesen nämlich einen abtrünnigen Tantra-Magier nach Lhasa geschickt, der für das frühzeitige Ableben des XIII. Dalai Lama sorgen soll. Dieser nur als "der Finstere" bekannte Schurke, dessen Spezialität darin zu bestehen scheint, qua Telekinese Schwerter durch die Luft sausen zu lassen, ist jedoch offenbar sehr viel mehr an der alten Darstellung eines Kalacakra-Mandalas interessiert, das der I. Dalai Lama angeblich von einem geheimnisvollen Abgesandten aus dem Wunderreich Shambala erhalten haben soll.

An dieser Stelle des Buches angekommen konnte ich einen Seufzer der Verzweifelung nicht unterdrücken. Shambala? Bitte nicht Shambala! Norbu lässt seinen Erzähler Hurree erklären:
Das 'Shambala des Nordens' ist, der lamaistischen Weltanschauung zufolge, ein Wunderland, vergleichbar mit Thomas Moores Utopia, Francis Bacons Neuem Atlantis oder Campanelas Sonnenstaat, wo Tugend und Weisheit eine ideale Gesellschaft haben entstehen lassen. Dieses Fabelreich gilt als Ursprung aller hohen okkulten Wissenschaften, das der Wissenschaft und Technik unserer Welt weit überlegen ist. Laut einer Prophezeiung in den heiligen Schriften Tibets werden die Herren von Shambala, wenn die Menschheit am Ende den Mächten des Bösen unterliegt, im Jahr des Wasser-Schafes des 24. Zyklus (das heißt im Jahre 2425) ihre große Armee entsenden und jene dunklen Mächte vernichten. Danach wird der Buddhismus erneut erblühen, und ein Zeitalter der Vollkommenheit wird anbrechen. (1)
Kein anderes Element der tibetisch-buddhistischen Mythologie ist wohl so oft von irgendwelchen westlichen Möchtegernmystikern missbraucht worden wie das Verborgenen Reich der Kulika-Könige. Außer vielleicht das berühmte Mantra Om mani padme hum.

Das echte Kalacakra Tantra, dem der Mythos von Shambala seine Entstehung verdankt, wurde in der Mitte des 10. Jahrhunderts vermutlich im heutigen Afghanistan verfasst und gelangte tibetischen Quellen zufolge im Jahre 966 von dort aus nach Indien. Es ist ein Produkt der kosmopolitischen Kultur der Handelsstädte entlang der Seidenstraße, in denen Vertreter der unterschiedlichsten asiatischen Völker friedlich zusammenlebten, und Güter wie Ideen aus aller Herren Länder ausgetauscht wurden. Hier waren die Buddhisten u.a. mit Zoroastriern, Manichäern, nestorianischen Christen und Juden zusammengetroffen. Die daraus resultierende gegenseitige gedankliche Befruchtung hatte nicht unwesentlich zur Entstehung einer blühenden buddhistischen Hochkultur in Zentralsien und Turkestan beigetragen. Das Kalacakra Tantra war eine ihrer letzten bedeutenden Früchte und zugleich eine Reaktion auf die Entwicklung, die zu ihrem Untergang führen sollte: Das machtvolle Vordringen des Islam. (2)
Im 10. Jahrhundert herrschten die Emire der Samaniden-Dynastie als nominelle Vertreter der abbasidischen Kalifen über die Region. Es war das Goldene Zeitalter des islamischen Zentralasien: Handel und Gewerbe blühten auf, in den Städten entstanden prachtvolle Moscheen, Schulen, Badehäuser und Karawansereien, während am Hof des Emirs in Buchara die Grundlagen für die Entwicklung der neupersischen Literatur gelegt wurden. An der kosmopolitischen Atmosphäre der großen Handelsstädte hatte sich auch unter islamischer Herrschaft nichts geändert, das friedvolle Gemisch der Kulturen und Religionen verstärkte sich eher noch. Doch auch wenn die Buddhisten vorerst keiner organisierten Verfolgung ausgesetzt waren, hatten die Mönche das Gefühl, in einem zunehmend düsteren Zeitalter zu leben. Dies war die historische Situation, in der das Kalacakra Tantra entstand.
Der heilige Text  erzählt von dem paradiesischen Reich Shambala, das umgeben von unüberwindlichen Gebirgszügen und bewacht von überirdischen Mächten dem allgemeinen Niedergang der Welt trotzt. Hier bewahren die Heiligen unter der Herrschaft der Kulika-Könige die reine Lehre, während eine Zeit der Finsternis über die Erde hereinbricht. Doch schließlich werde die Kunde von dem verborgenen Reich an das Ohr des bösen Welteroberers dringen und dieser werde sich mit einem gewaltigen Heer aufmachen, um die letzte Bastion des Lichtes seiner Herrschaft zu unterwerfen. Daraufhin werde der fünfundzwanzigste Kulika-König Rudracakrin ("Der Zornige mit dem Rad") an der Spitze seiner Armeen das geheime Königreich verlassen und sich den Angreifern zum Kampf entgegenstellen. In einer apokalyptischen Endschlacht werden die Mächte der Finsternis vernichtet werden und Rudracakrin wird vom heiligen Berg Kailash aus über ein buddhistisches Weltreich des Friedens und der Gerechtigkeit herrschen, das 19.800 Jahre lang Bestand haben wird.
Das Tantra identifiziert den bösen Welteroberer mit der islamischen Messiasgestalt des Mahdi und erwähnt im Zusammenhang mit ihm die Städte Bagdad und Mekka, sowie Adam, Noah, Abraham, Moses, Jesus, Mohammed und den mysteriösen 'Weißgekleideten' (shvestavastri) als seine Vorgänger. (3) 
Der ausgeprägte Dualismus zwischen Gut und Böse sowie das Motiv einer apokalyptischen Endschlacht unterscheiden das Kalacakra Tantra sehr deutlich von älteren buddhistisch-messianischen Texten, in deren Zentrum für gewöhnlich der Buddha der Zukunft Maitreya gestanden hatte. Als Vorbilder mochten dabei so unterschiedliche Quellen wie die jüdische und christliche Tradition, die zoroastrische Figur des Letzten Weltenheilands Saoshyant oder die unter den Anhängern Vishnus verbreitete Vorstellung von Kalki als dem Zehnten Avatar ihres Gottes gedient haben. Auch manichäisches Gedankengut hat offenbar seinen Weg in den heiligen Text gefunden. Am stärksten dürfte jedoch ironischerweise der islamische Einfluss gewesen sein. Zumal die Region, in der das Tantra entstand, seit geraumer Zeit der Tummelplatz aller möglichen muslimischen Sekten war, in deren Gedankenwelt die Gestalt des Mahdi stets eine zentrale Rolle spielte. Die Buddhisten eigneten sich die eschatologischen Ideen ihrer muslimischen Rivalen an, integrierten sie in ihre eigene Gedankenwelt und wandten sie dann gegen den Islam. So dürfte z.B. das direkte Vorbild für den bösen Mahdi des Kalacakra Tantra im 'Lügenden Messias'  al-Masihu’d Dadschal zu suchen sein, dem dämonischen Widersacher des endzeitlichen Heilsbringers im Islam.
Als das Tantra im Jahr 1026 ins Tibetische übertragen wurde, gelangte es damit in einen buddhistischen Kulturraum, der sich keiner islamischen Herausforderung gegenübersah. Dadurch verloren seine Prophezeiungen ihren Bezugspunkt in der Wirklichkeit und wurden offen für Neuinterpretationen. Die antimuslimische Stoßrichtung spielte von nun an keine entscheidende Rolle mehr in der Rezepetion des Textes. Was blieb war die Prophezeiung von einem gewaltigen Krieg zwischen den Mächten des Lichtes und der Finsternis und die Hoffnung auf ein zukünftiges Reich des Friedens und der Gerechtigkeit, in dem Armut und Elend unbekannt sein würden. Vor allem jedoch die Vision von einem verborgenen Reich, einem Irdischen Paradies inmitten dieser grausamen und leiderfüllten Welt: Shambala. Mit diesem Namen waren von nun an die Träume und Sehnsüchte der Buddhisten Tibets und Zentralasiens verbunden. Jamyang Norbus Vergleich mit den Gesellschaftsutopien von Morus, Bacon und Campanella ist allerdings etwas irreführend. Eher sollte man dabei an die Sehnsucht des christlichen Mittelalters nach dem Garten Eden denken.  Über die genaue geographische Lage Shambalas waren sich die gelehrten Mönche Tibets nie ganz einig. Die älteste uns heute noch zugängliche Version des heiligen Textes, das Laghu Kalacakra Tantra, lokalisiert das Reich der Kulika-Könige irgendwo südlich des Berges Kailash, doch konnte sich diese Tradition offenbar nicht auf Dauer durchsetzen. Der Grund hierfür ist leicht einzusehen. Die Region um den Kailash ist zwar wild und unwegsam, war den Tibetern aber nicht völlig unbekannt. Sie wussten, dass sich dort weder eine glanzvolle Stadt noch ein idyllischer Paradiesesgarten befanden. Das hinderte die eifrigen Lamas freilich nicht daran, sich auch weiterhin den Kopf über die Lage Shambalas zu zerbrechen. Wie auch hätte man die Suche nach diesem heiligen Ort des Friedens und der Erleuchtung aufgeben sollen? Im Vimalaprabha heißt es, das geheimnisvolle Land befände sich nördlich des Flusses Sita, während arya-visaya ("das Land der Arier" = Indien) südlich des Stromes zwischen dem Himalaya und Lanka liege. Doch auch diese Angaben brachten die sehnsuchtsvoll Suchenden nicht wirklich weiter. Der Fluss Sita ist zwar in der buddhistischen Kosmologie und dem heiligen Schrifttum Indiens wohlbekannt, in der realen Welt jedoch leider nur sehr schwer zu lokalisieren. Möglicherweise verbirgt sich hinter dem mythischen Gewässer der Tarim in Ostturkestan. Auf jedenfall suchte man Shambala von nun an nördlich von Tibet. (4)

An westliche Ohren drang der Name des Verborgenen Königreiches erstmals im 17. Jahrhundert, als einige Jesuiten das Schneeland besuchten. Einen tieferen Eindruck scheint der Mythos jedoch nicht bei ihnen hinterlassen zu haben. Erst als im 19. Jahrhundert Helena Blavatsky (1831-91), die Gründerin der Theosophie, Shambala in ihren Schriften erwähnte, legte sie damit den Samen für die rasch wachsende Beliebtheit des geheimnisvollen Landes unter westlichen Okkultisten, Esoterikern und phantastischen Schriftstellern. Dabei wurden die aufgeschnappten Bruchstücke des alten buddhistischen Mythos oft mit der von Alexandre Saint-Yves d’Alveydre (1842-1909) in die Welt gesetzten Idee eines unterirdischen Wunderreiches namens Agharta vermischt. Besondere Popularität erlangte diese Mixtur in den 1920er Jahren durch Ferdynand Ossendowskis Schmöker Tiere, Menschen und Götter. Ebenfalls sehr gerne verknüpften westliche Autoren das Verborgene Königreich mit der auf Blavatskys "weiße Loge" der Mahatmas zurückgehende Idee einer geheimen Bruderschaft von weisen 'Hütern der Welt', die dort residieren soll. Ein besonders prominenter Vertreter dieser ganzen buntscheckigen Sippschaft war der russische Maler und Gründer des Agni Yoga Nikolai Roerich (1874-1947), der sogar ein Buch mit dem Titel Shambala verfasste. Dass er namentliche Erwähnung in Das Mandala des Dalai Lama findet, ist kein Zufall, wie wir gleich sehen werden.

Zuerst einmal wollen wir jedoch zu Sherlock Holmes und dem wackeren Hurree zurückkehren. Denn kaum hat Norbu das Kalacakra - Mandala und den "Finsteren" ins Spiel gebracht, da scheint er auch schon jeden Rest an schriftstellerischem Gespür verloren zu haben. Von einem leidlich charmanten Conan Doyle - Pastiche verwandelt sich der Roman in einen sich immer höher auftürmenden Berg an Abstrusitäten. Aus dem Lachen und Stöhnen kommt man von nun an nur noch selten heraus.
Holmes und Hurree dringen in die chinesische Gesandtschaft ein, um das aus dem Norbulingka entwendete Thangka (Rollbild) des Mandalas zurückzuholen. Was sie dort erwartet, ist die erste der bizarren 'Enthüllungen', aus denen der Rest des Romans besteht. Der "Finstere" entpuppt sich als ... Professor Moriarty! Ja, der "Napoleon des Verbrechens" ist in Wirklichkeit ein böser tibetischer Tantrameister, der den Sturz in die Reichenbachfälle dank seiner Zauberkräfte überlebt hat! Und ganz, wie man es von Norbu inzwischen erwartet, schafft es dieser tatsächlich, auch noch für die kriminelle Karriere des guten Professors in England die Chinesen verantwortlich zu machen. Jene halfen ihm "in Europa Fuß zu fassen, weil sie sich an jenen Nationen rächen wollten, die China so gedemütigt hatten". (5) Moriarty als eine Art verfrühter Fu Manchu! Dass sein Äußeres weder bei Conan Doyle noch in seinem eigenen Buch irgendwelche Anzeichen einer asiatischen Herkunft aufweist, scheint Norbu nicht weiter zu stören.
Aber das ist erst der Anfang. Das Mandala erweist sich als Schlüssel zu einem fantastischen unterirdischen Palast, dessen zentrales Gewölbe Hurree wie folgt beschreibt:
Nun befanden wir uns in einer gewaltigen, runden, hallenartigen Anlage, die gut ein paar Tausend Meter Durchmesser hatte und von einer riesigen Eiskuppel überwölbt wurde, die in ihrem Zentrum mindestens 800m hoch war. Um die ganze kolossale Rundhalle standen große Statuen, zwanzig an der Zahl. Es waren grimmig aussehende Krieger in fremdartiger Rüstung. Die Ausmaße der Statuen waren riesig, vergleichbar mit den großen Buddha-Statuen, die ich im Bamiyan-Tal in Afghanistan gesehen hatte.
Die völlig übertriebenen Dimensionen machen deutlich, dass wir das reale Tibet verlassen und die Fantasiegefilde von Shangri-la betreten haben, eben jene Gefilde also, die Norbu in den Erzeugnissen westlicher Tibetromantiker so unbarmherzig kritisiert.Dieses Gewölbe ist der Aufbewahrungsort des "Norbu Rinpoche", des "großen Juwels der Macht von Shambala." Die Lama Yönten in den Mund gelegte Beschreibung des magischen Edelsteins zeigt erst recht, dass sich der Autor spätestens an diesem Punkt in seiner Erzählung von den authentischen Traditionen des Buddhismus ab- und den  esoterischen Fantastereien von Blavatsky, Roerich & Co. zugewandt hat:
Es steht geschrieben, dass der Sendbote Shambalas zwei solcher Steine an jedem der beiden spirituellen Pole unseres Planeten anbrachte. Der erste ging verloren, als Ata-Ling, der heilige Kontinent, von der großen Flut verschlungen wurde. Der zweite wurde hierher nach Tibet gebracht. (6)
Mit dem Wunscherfüllenden Juwel Cintamani der indischen und tibetischen Überlieferung hat dieser Stein nichts mehr zu tun. Die peinlich offensichtliche Anspielung auf den Atlantismythos lässt einen vielmehr augenblicklich an die theosophische Obsession mit untergegangenen 'Rassen'
und Kontinenten denken. (7) Kein Wunder, dass Norbu an dieser Stelle ausdrücklich auf Nikolai Roerich und dessen Beschreibung des Norbu-rin-poche/Chintamani verweist:
Es heißt, Tamerlane und Akbar hätten Bruchstücke eines solchen Steines besessen und der Stein im magischen Ring des Suleimans (Solomon) wäre ein Teil des Chintamani gewesen. Nicholas Roerich, der berühmte weißrussische Mystiker, Künstler und Reisende, war überzeugt davon, dass der Chintamani der Lapis Exilis sei, der Wanderstein der alten Meistersänger. (8) 
Doch auch damit noch nicht genug. Es erwartet uns noch ein wahrhaft 'fantastisches' Finale. Wie man sich denken kann, will Moriarty den Stein in seine Hände bekommen, um damit in der Manier jedes echten Superschurken 'die Welt zu beherrschen'. Doch als bereits alles verloren scheint, erwartet uns eine erneute 'Enthüllung'. Der Professor ist gerade dabei, unsere Helden mit seinen durch den Stein verstärkten magischen Kräften auszulöschen, da schreit Lama Yönten:
Mr Holmes, Mr Holmes. Hören Sie mir genau zu. Sie sind nicht Sherlock Holmes! Sie sind der berühmte Gangsar-trulku, der ehemalige Abt des Klosters des Weißen Garuda, einer der größten Meister der okkulten Wissenschaften. Der Finstre hat Euch vor achtzehn Jahren ermordet, doch kurz bevor Euch Eure Lebensgeister verlassen haben, ist es uns mithilfe des Pho-wa-Yoga gelungen, diese in einen anderen, weit entfernten Körper zu transferieren. (9)
Und tatsächlich entdeckt Holmes die in ihm verborgen liegenden tantrischen Kräfte und beginnt ein munteres Magierduell mit dem bösen Moriarty.
An dieser Stelle bin ich dann wirklich wütend geworden. Sherlock Holmes ist die vielleicht berühmteste literarische Verkörperung des rationalen, analytischen Denkens. Arthur Conan Doyle selbst glaubte zwar an allen möglichen Unsinn wie die berüchtigten Feenfotografien von Cottingley oder spiritistische Séancen, sein Meisterdetektiv aber erklärte bestimmt: "This agency stands flat-footed upon the ground, and there it must remain. The world is big enough for us. No ghosts need apply." (10) Ihn in einen wiedergeborenen Tantrameister und Magier zu verwandeln, ist für mich ungefähr dasselbe wie die Darstellung von Merlin als billigem Scharlatan in Mark Twains A Connecticut Yankee in King Arthur's Court – mit dem entscheidenden Unterschied, dass Twains Buch eine Satire ist.
Im letzten Kapitel seines Romans deutet Jamyang Norbu schließlich zu allem Überfluss auch noch an, dass Holmes zu jener aus theosophischen Schriften so bekannten 'geheimen Bruderschaft der Weisen' gehört, die im Auftrag der Herren von Shambala als verborgene Hüter unserer Welt fungieren. Shambala aber könnte vielleicht ein anderer Planet sein. Neben Theosophie und Agni Yoga also auch noch ein bisschen UFO- und Alienquatsch!

Was mich an all dem besonders verärgert hat, ist, dass ich mir nicht sicher bin, ob Norbu all die esoterischen Elemente nicht bloß deshalb in seine Erzählung eingebaut hat, um den Geschmack eines westlichen Lesepublikums zu bedienen. Bisher hatte ich in dem Schriftsteller eher einen Rationalisten gesehen. Die zweite Hälfte seines Buches hat für mich deshalb den Geschmack eines bewussten Betrugs. Während mir die eng an Conan Doyle orientierten Passagen Ausdruck einer vielleicht naiven und unkritischen, aber dafür ehrlichen Begeisterung für den viktorianischen Schriftsteller zu sein scheinen, werde ich bei den phantastischen Kapiteln den Verdacht nicht los, dass Norbu sich hier derselben Methode bedient, die er bei anderen kritisiert. Um seine nationalistische Botschaft unter die Leute zu bringen, ködert er diese mit dem alten exotistischen Klischee von Tibet als einem Land der Wunder.


(1) Jamyang Norbu: Sherlock Holmes - Das Mandala des Dalai Lama. S. 216.
(2) Vgl.: B. Gosh: Emergence of Kalacakratantra. In: Bulletin of Tibetology. Vol. 21. Nr. 2 (1985). S. 19ff.
(3) Vgl.: Alexander Berzin: The Kalachakra Presentation of the Prophets of the Non-Indic Invaders.
(4) Vgl.: Ronald M. Davidson: Hidden Realms and Pure Abodes: Central Asian Buddhism as Frontier Religion in the Literature of India, Nepal, and Tibet. Biswanath Banerjee: Development of the Kalacakra System in Later Buddhism. In: Bulletin of Tibetology. Vol. 24. Nr. 2. (1988). S. 9ff.
(5) Jamyang Norbu: Sherlock Holmes - Das Mandala des Dalai Lama. S. 238f.
(6) Ebd. S. 276ff..
(7) Helena Blavatsky selbst hatte behauptet, "dass, als Lemuria sank, ein Teil seines Volkes in Atlantis überlebte, während ein Teil seiner Auserwählten auf die heilige Insel von 'Shambhala' in der Wüste Gobi auswanderte. Allerdings enthalten weder die Kalachakra-Literatur noch das 'Vishnu Purana' irgend eine Erwähnung von Atlantis, Lemuria, Maitreya, oder Sosiosch. Ihre Verbindung mit Shambhala wurde allerdings unter Blavatskys Anhängern fortgeführt." (Alexander Berzin: Falsche Mythen, die in anderen Ländern über Shambala Verbreitung fanden)
(8) Jamyang Norbu: Sherlock Holmes - Das Mandala des Dalai Lama. S. 277. Norbu bezieht sich hier auf eine Passage aus Roerichs Shambala  (S. 96f.). Meines Wissens nach kannten die Meistersinger keinen 'lapis exilis'. Vermutlich meinte Roerich damit den Gral, der im Parzival Wolframs von Eschenbach mit diesem Namen bezeichnet wird. Wie er auf die Idee gekommen ist, dass der heilige Stein wandere, entzieht sich meiner Kenntnis.
(9) Ebd.: S. 287.
(10) Arthur Conan Doyle: The Adventure of the Sussex Vampire. In: Ders.: The Casebook of Sherlock Holmes.

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