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Montag, 6. August 2012

Dr. Dr. Weinreich und die Politik des "Herr der Ringe" (V)

XIII

Tolkien hatte das Gefühl, in einer Zeit des allgemeinen Niedergangs zu leben. Alles, was er liebte und schätzte, schien ihm von zahlreichen Seiten unter Angriff zu stehen. Da war zum einen der "amerikanische Kosmopolitismus", der spätestens mit dem Ende des 2. Weltkriegs über die ganze westliche Welt zu triumphieren schien. Schon im Dezember 1943 schrieb der 'Professor' in hoffnungslos-ironischem Tonfall an seinen Sohn Christopher:
"Ich frage mich, ob es (wenn wir diesen Krieg überleben) nachher für reaktionäre Fossilien wie mich (und Dich) noch irgendeine Nische geben wird, wenn auch nur ein Plätzchen zum Leiden. Je mehr sich die Dinge ins Große auswachsen, desto kleiner, öder und platter wird der Erdball. Alles wird so, wie ein einziger verdammter kleiner Provinzvorort. Wenn einmal die amerikanische Hygiene, Moralreklame, Frauenrechte und Massenproduktion in ganz Nah-, Fern- und Mittelost eingeführt sind, in der UdSSR, den Pampas, im Gran Chaco, im Donaubecken, Äquatorialafrika, in Obernichtswieweghier und der Inneren Tandaradei, Gondhwanaland, Lhasa und den Dörfern im finsteren Berkshire, was werden wir dann erst froh sein! Immerhin wird es den Reiseverkehr vermindern, denn man wird nirgends mehr hin wollen. [...] Ich denke, ich werde es noch ablehnen müssen, irgend etwas außer Altmercianisch zu sprechen." (1)
Auf der anderen Seite standen die 'kommunistischen' "Verehrer des Staatsgottes" mit ihrem "Hohepriester" Stalin, die der konservative Tolkien selbstverständlich noch mehr hasste. (2)
Doch die Bedrohung kam nicht nur von außen. Es war die ganze moderne industrialisierte, kapitalistische Gesellschaft, die in seinen Augen Kultur und Menschlichkeit zu vernichten drohte, die eine "Roboterzeit" heraufbeschworen hatte, "in der sich Reichtum und Perfektion der Mittel mit Häßlichkeit zu einem (oftmals minderwertigen) Produkt vereinen", und "das Leben und Arbeiten der Menschen [...] mit beängstigender Geschwindigkeit immer barbarischer" wird. (3)
Um sich herum sah er eine Gesellschaft, in der "die Diener Morgoths angebetet werden" (4), und gegen Ende seines Lebens schrieb er voller Verzweifelung: "Was für eine grauenhafte, angstverdunkelte, kummerbeladene Welt, in der wir leben [...] Chesterton hat einmal gesagt, es sei unsere Pflicht, die Fahne dieser Welt hochzuhalten, aber heute erfordert dies einen stärkeren und erhabeneren Patriotismus als damals. [...] der Geist der Bosheit ist höheren Orts nun so mächtig und so vielköpfig in seinen Inkarnationen, daß es scheint, als könne man nicht mehr tun, als sich persönlich zu weigern, irgendeinen von den Köpfen der Hydra anzubeten ..." (5)

Angesichts dieser allgegenwärtigen Bedrohung die Restbestände der ‘abendländischen Kultur’ zu hüten und zu pflegen, schien ihm die vielleicht bedeutendste Aufgabe der Gegenwart zu sein. Doch der Staat, das dürfte wohl inzwischen klargeworden sein, konnte unmöglich die Rolle des Verteidigers übernehmen. Auf einen Messiaskönig im Stile Aragorns wartete Tolkien ganz sicher nicht. Doch gab es da noch eine andere Autorität, auf die er seine Hoffnungen setzen konnte, und die ebenso gottgegeben und absolut war wie das Königtum Gondors: "Wie in früheren dunklen Zeiten wird die christliche Kirche allein größere (doch nicht unveränderte und vielleicht auch nicht unbeschädigte) Traditionsbestände einer höheren geistigen Zivilisation retten können, allerdings nur, wenn sie nicht abermals in die Katakomben getrieben wird." (6) Und für Tolkien gab es selbstverständlich nur eine christliche Kirche, und an ihrer Spitze stand eine von Gott berufene Person: "Ich selbst bin überzeugt von den Petrinischen Ansprüchen, und wenn ich mich in der Welt umsehe, scheint mir nicht viel Zweifel möglich zu sein, welches (wenn das Christentum wahr ist) die Wahre Kirche ist, der Tempel des sterbenden, doch lebendigen Geistes, korrupt, doch heilig, sich selbst erneuernd und wiedererstehend." (7) Die Alleinseligmachende als letztes Bollwerk gegen die anschwellende Flut der Finsternis! (8)

XIV

Wenn Frank Weinreich ganz ernsthaft behauptet, Tolkien sei natürlich kein Reaktionär, sondern vielmehr ein Vertreter der "Ideale der Aufklärung" gewesen, kann ich bloß kichern. Aber die Welt besteht nicht aus Schwarz und Weiß. Ein Künstler kann sehr wohl einer reaktionären Philosophie anhängen und dennoch Werke von großem Wert schaffen. Ich zitiere noch einmal Rosa Luxemburgs ursprünglich auf Dostojewski gemünzten Ausspruch: "[B]eim wahren Künstler ist das soziale Rezept, das er empfiehlt, Nebensache: die Quelle seiner Kunst, ihr belebender Geist, nicht das Ziel, das er sich bewußt steckt, ist das Ausschlaggebende." Dieser Geist aber ist beim Schöpfer Mittelerdes einerseits erfüllt vom christlichen Ideal des Mitgefühls und besitzt andererseits einen deutlich antibürgerlichen Charakter. Letzteres im Detail zu belegen, möchte ich auf ein andermal verschieben. Für den Moment muss es genügen, einen Satz aus seinem Essay Über Märchen zu zitieren: "Wo es [das Schöpfungsverlangen] nicht verderbt ist, strebt es nicht nach Trug, Herrschaft und Behexung: Nach gemeinsamen Reichtum sucht es, nach Gefährten beim Schaffen und Genießen, nicht nach Sklaven." (9) Tolkien glaubte nicht, dass Menschen eine nach diesem Ideal eingerichtete Gesellschaftsordnung schaffen könnten. Doch trotzdem liegt das Verlangen nach eben einer solchen Welt seinem künstlerischen Schaffen zugrunde. 

ß


(1) Brief an Christopher Tolkien [9. Dezember 1943]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 53. S. 89.
(2) Anmerkung zu W.H. Audens Besprechung von Return of the King. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 183. S. 320f.
(3) J.R.R. Tolkien: Über Märchen. In: Ders.: Die Ungeheuer und ihre Kritiker. Gesammelte Aufsätze. S. 191f.
(4) Brief an Michael Tolkien [24. Januar 1972]. In: J:R:R: Tolkien: Briefe. Nr.332. S. 542.
(5) Brief an Amy Ronald [16. November 1969]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 312. S. 523.
(6) Brief an Christopher Tolkien [22. August 1944]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 79. S. 123.
(7) Brief an Michael Tolkien [1. November 1963]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 250. S. 442f.
(8) Die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65), mit denen sich die katholische Kirche zumindest partiell der Moderne anzupassen versuchte, ließen für Tolkien allerdings dann auch diese letzte Schutzwehr gegen die Übel des 20. Jahrhunderts immer brüchiger erscheinen.
(9) J.R.R. Tolkien: Über Märchen. In: Ders.: Die Ungeheuer und ihre Kritiker. S. 184. Hervorhebungen von mir.

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