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Freitag, 27. Juli 2012

Dr. Dr. Weinreich und die Politik des "Herr der Ringe" (IV)

X

Nicht dass Frank Weinreich leugnen würde, dass es in Tolkiens Werk zumindest auch ein ständisches oder hierarchischs Ideal gibt. Wie er mit diesem umgeht, finde ich dann allerdings erstaunlich. In seinem Essay Das Gute bei Tolkien erklärt er ganz selbstverständlich, man habe darin die Sehnsucht des englischen Bourgeois nach einem idealisierten viktorianischen Zeitalter zu sehen:

"Das Ideal des untergehenden Empires [war] die viktorianische Zeit und das war eine Zeit, in der die gesellschaftliche Ordnung und der Frieden durch tief verwurzelte Hierarchien und durch Ständedenken garantiert waren. Da es zudem eine Zeit wirtschaftlichen wie intellektuellen Fortschritts war, die sich durchaus positiv von den davor liegenden Jahrhunderten abhob – zumindest für das Bürgertum –, war es nur natürlich, das viktorianische Zeitalter und die Gründe, aus denen es funktionierte, zu idealisieren und zur Grundlage gesellschaftlicher Ideale der erfundenen Welt Mittelerde zu machen: Also ist Mittelerde hierarchisch organisiert und eben keine Basisdemokratie schweizerischer Art. Also hat Mittelerde starke und primär auf Grund ihrer Herkunft legitimierte Führer wie Aragorn und Elrond und wird eben nicht von demokratisch gewählten Abgeordneten regiert."

Natürlich 'funktionierte' das viktorianische Zeitalter in Wirklichkeit nicht deshalb, weil die Gesellschaft hierarchisch organisiert, sondern in erster Linie weil die britische Industrie die fortschrittlichste und produktivste der Welt war. Aber lassen wir das einmal beiseite. So oder so leistet Weinreich seinem Idol hier einen echten Bärendienst. Denn wenn seine Sicht in diesem Punkt korrekt wäre, dann müsste unser Urteil über Tolkien und sein Werk vernichtender ausfallen als alles, was Moorcock in Epic Pooh geschrieben hat. Dann wäre dessen  feudale Romantik ja tatsächlich nicht mehr als das zu epischer Größe aufgeblähte Gejammer eines Spießers um die kleinbürgerliche Sattheit und Selbstzufriedenheit vergangener Tage – als die Welt noch in Ordnung und London das Caput Mundi war, der Proletarier gehorsam in Kohlegrube und Fabrik malochte und Britannia ‘die Wogen beherrschte’. Eine solche Interpretation würde jedoch meiner Ansicht nach viel zu kurz greifen. Tolkiens Träume reichten weit hinaus über die Grenzen der bürgerlichen Ordnung, die für den erklärten Liberalen Weinreich das non plus ultra darstellt. Mehr noch – sie waren geboren aus einem instinktiven Abscheu vor eben dieser Ordnung. Wie hätte ausgerechnet Tolkien die viktorianische Ära verherrlichen sollen, in welcher doch jene 'Maschinengesellschaft', die er so leidenschaftlich hasste, zu ihrer ersten großen Blüte gelangt war? Diese Vorstellung ist in meinen Augen schlicht absurd! Vielmehr bin ich fest davon überzeugt, dass man den Schöpfer Mittelerdes in der Tradition von Carlyle und Ruskin (in gewisser Hinsicht auch in der von William Morris) sehen sollte. Als jemanden, der angesichts der bürgerlichen Gesellschaft seinen Blick zurück auf den Feudalismus lenkte, weil er glaubte, dort menschlichere Formen des Zusammenlebens finden zu können. Weinreichs Bemühen, den 'Professor' zu einem liberalen Demokraten zu machen, nimmt diesem viel von seiner Radikalität. Es stellt den Vetsuch dar, aus ihm einen Schriftsteller zu machen, der sich problemlos mit den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen verträgt, was meiner Meinung nach ganz und gar nicht der Fall ist.

XI

Wir können Tolkiens politisches Ideal zusammen mit China Miéville spöttisch als ‘feudalism lite’ bezeichnen, sollten dabei aber nicht vergessen, dass es ihm weniger um die Romantisierung autoritärer Herrschaftsformen, als vielmehr um einen humaneren Gegenentwurf zur ‘anonymen They-ocracy’ des bürgerlichen Staates und letztlich zum Kapitalismus und den mit ihm verbundenen Wertvorstellungen ging. Einen kleinen Funken utopischen Geistes wollen wir seinem literarischen Werk deshalb auch in dieser Hinsicht nicht absprechen. Gar zu weit sollte man dabei allerdings nicht gehen. Denn sobald die feudale Romantik die Gefilde des poetischen Traums verlässt und die Bühne des politischen Kampfes betritt, wird sie unweigerlich zum Schildknappen der reaktionärsten gesellschaftlichen Kräfte. Das biedere Auenland wie das edle Gondor verkörpern gleichermaßen einen ebenso rückwärtsgewandten wie unerfüllbaren Traum, und Tolkien selbst dachte natürlich nie an eine praktische Umsetzung seiner Wunschvorstellungen. Doch andere betrieben mit ähnlichen Ideen handfeste Politik. Und so gesehen erscheint es dann eben doch mehr als nur ein klein bisschen bedenklich, dass im Herr der Ringe die Rückkehr des rechtmäßigen Königs mit der Wiederherstellung der ‘guten’ Ordnung in Eins fällt, wie es der Adler, der dem Volk von Gondor die Nachricht vom Sturz Sauons überbringt, verkündet:

Sing and be glad, all ye children of the West,
for your King shall come again,
and he shall dwell among you
all the days of your life.
And the Tree that was withered shall be renewed,
and he shall plant it in the high places,
and the City shall be blessed.
Sing all ye people.

Tolkien bedient sich hier einer eindeutig an der Bibel orientierten Sprache und Symbolik, und er tut dies selbstverständlich nicht ohne Grund. Aragorn ist eine quasi messianische Gestalt – der von Gott gesandte König. Bezeichnenderweise findet er den Schößling des Weißen Baumes, das lebendige Symbol seiner Herrschaft, an einer alten Weihestätte oberhalb von Minas Tirith, "wo nur die Könige hinzugehen pflegten" (1), um – so dürfen wir wohl annehmen – wie ihre Vorfahren auf dem Meneltarma in Númenor dem einen wahren Gott zu huldigen.

Um die außergewöhnliche Bedeutung von Aragorns Thronbesteigung zu verstehen, ist es nötig, sich klarzumachen, dass Gondor nicht einfach ein Königreich unter vielen in Mittelerde ist. Wie die Akkalabêth ganz unmissverständlich erklärt, waren die númenórischen Könige Herrscher von Gottes Gnaden. Es waren die Valar gewesen, die Elros Tar-Minyatur "zum ersten König der Dúnedain" (2) ernannt hatten. Für lange Zeit hatte das Inselreich in direktem Kontakt zum Irdischen Paradies gestanden, von wo die Schiffe der Elben über das Meer zu ihm gekommen waren. Die vielleicht wichtigste Aufgabe der Könige hatte in ihrer Rolle als Mittler zwischen Gott und dem Volk bestanden, der sie in alljährlichen Zeremonien an der Weihestätte auf dem Berg Meneltarma nachgekommen waren: "[D]reimal in jedem Jahr sprach der König: In den ersten Tagen des Frühlings, am Erukyerne [‘Gebet an Eru’], betete er für das kommende Jahr, am Erulaitale [‘Lob Erus’] im Mittsommer sprach er ein Lobgebet für Eru Ilúvatar, und am Ende des Herbstes, am Eruhantale [‘Danksagung an Eru’], richtete er ein Dankgebet an ihn. An diesen Tagen bestieg der König zu Fuß den Berg, gefolgt von einer großen Menschenmenge, weiß gekleidet und bekränzt, doch schweigend." (3) Darin hatte der König von Númenor ganz dem des frühen Mittelalters geglichen. Wie dieser war auch er ein Herrscher, "dessen Autorität aus dem Überirdischen erwuchs und dessen Dienst in erster Linie in der Versöhnung beider Welten, der sichtbaren und der unsichtbaren, bestand, in der kosmischen Harmonie zwischen Himmel und Erde, wie es in den laudes regiae feierlich besungen wurde." (4) Mit dem Untergang Númenors und der Gründung der "Reiche in der Verbannung" (5) war diese besondere gottgegebene Würde auf Arnor und Gondor übergegangen. Man könnte in Anlehnung an die mittelalterliche Reichsideologie von einer translatio imperii [‘Übertragung der Herrschaft’] sprechen. Diese Kontinuität findet sich verkörpert im Weißen Baum von Minas Tirith der "aus dem Samen Nimloths des Schönen entsprossen [war], der in den Königsgärten von Armenelos in Númenor stand, bis ihn Sauron verbrannte; Nimloth wieder stammte von dem Baum von Tirion ab, und der war ein Abbild des Ältesten Baumes, Telperions des Weißen, den Yavanna im Lande der Valar hatte wachsen lassen." (6) In Übereinstimmung mit Tolkiens pessimistischer Geschichtsauffassung war die "Wissenschaft und Kunst" Arnors und Gondors zwar "nur ein Nachhall dessen [...], was einst gewesen, ehe Sauron nach Númenor kam" (7), aber inmitten der Finsternis Mittelerdes bildeten die beiden Reiche doch (neben den Refugien der Elben) die letzte Bastion des Wissens um die Altvorderenzeit und den wahren Gott. All jene Elemente der Kultur Gondors, die nur wenig zum feudalen Charakter des Reiches zu passen scheinen, erklären sich aus seiner Rolle als Bewahrer des númenórischen Erbes. Denn das Inselreich müssen wir uns tatsächlich mehr nach dem Vorbild des alten Ägypten oder (oh Wunder!) des platonischen Atlantis vorstellen. Und so wecken z.B. die Kolossalstatuen von Argonath eher Assoziationen zu den riesigen Standbildern Ramses II. in Abu Simbel, als zu irgendetwas, was das mittelalterliche Europa hervorgebracht hätte. Zur Frodos Zeiten waren dies allerdings nur noch Relikte einer fernen, beinahe schon mythischen Vergangenheit, die "schweigenden Hüter eines längst verschwundenen Königreichs" (8), vergleichbar etwa dem Kolosseum oder dem Pantheon im mittelalterlichen Rom. Wie die Könige Númenors waren auch Elendil und seine Erben sakrale Gestalten, "Priesterkönige". (9) Das zeigt nicht nur die Szene mit Weihestätte und weißem Baum, sondern auch das Motiv der ‘heilenden Hände’ – "Life to the dying/ In the king’s hand lying!" –, das Tolkien direkt aus der christlichen Herrscherideologie des Mittelalters entlehnt hat. Um 1040 schrieb Helgaud von Saint-Benoît-sur-Loire über König Robert von Frankreich: "Gottes Macht [...] verlieh diesem vollendeten Mann eine solche Gabe zur Heilung des Körpers, daß er die Kranken von allem Übel erlöste, sobald er den Ort ihres Leidens unter dem Zeichen des Kreuzes mit seiner frommen Hand berührte." (10) Ein Aberglaube, der sich noch bis weit in die Neuzeit erhielt. Nun mögen Aragorns Kräfte nicht ganz so beeindruckend sein – immerhin benötigt er zu ihrer Anwendung das Heilkraut Athelas –, aber die Ähnlichkeit ist doch mehr als offensichtlich und wohl kaum unbeabsichtigt.

Da das Nördliche Königreich zur Zeit, in der der Herr der Ringe spielt, bereits seit über tausend Jahren untergegangen ist, kommt Gondor eine einzigartige Bedeutung für das Schicksal Ardas zu. Neben den Elben, einem schwindenden Volk, sind die Dúnedain die einzigen Verteidiger des Glaubens an den wahren Gott gegen eine Welt des Heidentums mit dem satanischen Gottkönig Sauron an ihrer Spitze. Reichsgeschichte ist deshalb immer auch Heilsgeschichte. Unter diesem Blickwinkel ist der allmähliche Niedergang Gondors im Verlaufe des 3. Zeitalters zu betrachten, der der Rückkehr des Königs vorangeht.

Dieser äußert sich auf vielgestaltige Weise. Da wäre natürlich zunächst einmal der simple Verlust von Macht und Territorien unter dem beständigen Druck feindseliger Völker und Reiche im Osten und Süden. Doch dies ist nur ein äußerliches Symptom. Hinzu kommt ein innerer Verfall. Mehrfach wird auf den ‘biologischen’ Niedergang der Dúnedain-Aristokratie hingewiesen: "[D]urch die flüchtigen Jahre von Mittelerde ermüdet, vefiel Gondor, und die Linie von Menedil, Anárions Sohn, erlosch. Denn das Blut der Númenórer vermischte sich vielfach mit dem anderer Menschen, und ihre Macht und Weisheit schwanden, sie wurden kurzlebiger, und die Wache gegen Mordor wurde nachlässig." (11) Auch wenn man versucht sein könnte, bei diesen Worten an die reaktionären Schreckensvisionen von Sozialdarwinisten und Rassisten zu denken, sollte man Tolkien denk ich zugutehalten, dass in der mittelalterlichen Weltsicht die virtus der Adelsgeschlechter, ihre ‘Tatkraft’ und ‘Tugend’, gleichfalls von der Reinheit ihres ‘Blutes’ abhängig war. Und bezeichnenderweise entspringt das ‘erste große Unheil’, das über Gondor kommt – der Bürgerkrieg des Sippenstreits –, gerade dem ‘rassischen’ Hochmut der Dúnedain, die die Ehe ihres Königs Valacar mit Vidumavi, der Tochter eines Fürsten der Nordmenschen, als Schmach und Bedrohung empfinden: "Denn die edlen Menschen von Gondor sahen schon scheel auf die Nordmenschen unter ihnen; und bisher hatte es das noch nicht gegeben, daß der Erbe der Krone oder irgendein Sohn des Königs eine Frau aus einem geringeren und fremden Geschlecht heiratete.[... Die] Königin war eine schöne und edle Frau gewesen, aber kurzlebig, wie es das Schicksal geringerer Menschen war, und die Dúnedain fürchteten, daß es mit ihren Nachkommen genauso sein könnte und sie die Hoheit der Könige der Menschen mindern würden." (12)  Eigentlich ein eklatanter Widerspruch in Tolkiens Werk, werden die Dúnedain doch einerseits für ihre ‘rassische’ Arroganz getadelt, ihre Befürchtungen hinsichtlich der Folgen einer ‘Verunreinigung’ ihres ‘Blutes’ andererseits bestätigt. Eine wirklich befriedigende Auflösung lässt sich nirgends finden. Tolkien beschreibt eine Welt, in der es eine auf dem ‘Blut’ basierende Aristokratie tatsächlich gibt, doch zugleich schätzte er keinesfalls den Standesdünkel und die Verachtung für die ‘Gemeinen’, welche einer solchen Adelskaste naturgemäß eigen sind. Sein Ideal ähnelte in dieser Hinsicht vermutlich dem paternalistischen Kolonialismus, wie ihn die Númenórer vor ihrer Hinwendung zum Bösen betrieben hatten. (13)
Unter heilsgeschichtlicher Perspektive betrachtet ist die abnehmende Lebensdauer der Dúnedain jedoch ohnehin von völlig anderer Bedeutung. Sie ist Anzeichen dafür, dass sich in Gondor wiederholt, was in Númenor schon einmal zur Katastrophe geführt hat, wie es der klarsichtige Faramir ganz richtig erkannt hat: "Der Tod war allgegenwärtig, weil die Númenórer immer noch, wie sie es auch im alten Königreich getan und es deshalb verloren hatten, nach einem sich niemals ändernden Leben trachteten. Die Könige ließen Grabmäler bauen, die prächtiger waren als die Häuser der Lebenden, und schätzten alte Namen ihres Stammbaumes höher ein als die Namen der Söhne. Kinderlose Fürsten saßen in altersgrauen Hallen und grübelten über Ahnenkunde. In geheimen Kammern mischten verwelkte Greise starke Zaubertränke oder befragten auf hohen, kalten Türmen die Sterne. Und der letzte König von Anarions Stamm hatte keinen Erben." (14) Dieser Wunsch, dem Tod entgehen zu können, ist der erste und entscheidende Schritt in der Abwendung von Gott, eine Art zweiter Sündenfall. Nun ist die Entwicklung in Gondor zwar noch nicht so weit gediehen, dass die Dúnedain sich wie ihre Vorfahren dem Satanskult zuwenden würden. Aber in der Person Denethors zeigt sich doch sehr deutlich, wie weit das Reich bereits vom ‘rechten Weg’ abgekommen ist. Und der Umstand, dass "durch irgendeinen Zufall [...] das Blut von Westernis fast unverfälscht in seinen Adern" (15) rinnt, belegt, dass es dabei letztenendes eben nicht auf die ‘biologische Reinheit’ ankommt. Entscheidend ist vielmehr, dass der Truchsess die besondere Rolle, die Gondor im Weltendrama zukommt, nicht mehr erkennt. Für ihn ist die Auseinandersetzung mit Mordor und seinen Vasallen lediglich ein politischer Konflikt, ein "Zweikampf zwischen dem Herrn des Weißen Turms und dem Herrn von Barad-dûr" (16) – ein Kampf um die Macht, nicht um die Wahrheit. In Sauron sieht er nicht länger den satanischen Widersacher, der sich die Rolle eines irdischen Gottes anmaßt, sondern einen politischen und militärischen Konkurrenten. Blind für den wirklichen Inhalt des Ringkriegs – "Gott und Sein alleiniges Anrecht auf göttliche Ehre" (17) – geht es ihm letzlich nur noch um die Verteidigung seiner eigenen Herrschaft und der seiner Sippe. Doch da, wo es einzig um Machterhalt geht, ist der erste Schritt zum offenen Despotismus bereits getan. Und so erweist sich Denethor nicht nur im Umgang mit seinen Ratgebern und Vasallen als selbstherrlich, er misstraut auch allen, "die Sauron Widerstand leisteten, sofern sie nicht ihm allein dienten". (18)  In Gandalf sieht er bloß einen geschickten Intriganten, dessen Ziel darin bestehe "an meiner Statt zu herrschen" und "hinter jedem Thron zu stehen, im Norden, Süden oder Westen." Aragorn ist für ihn nicht der ersehnte Messiaskönig, sondern ein von Gandalf geschickt ins Spiel gebrachter Thronräuber. Unmittelbar vor seinem Tod erklärt er: "Ich bin Truchseß aus dem Hause Anárions. Ich will mich nicht erniedrigen und der schwachsinnige Kämmerer eines Emporkömmlings sein. Selbst wenn mir sein Anspruch bewiesen würde, so stammt er dennoch nur aus Isildurs Geschlecht. Ich will mich nicht einem solchen beugen, dem letzten aus einem zerlumpten Hause, seit langem der Herrschaft und Würde beraubt." Dass wir hier nicht bloß einen verbitterten alten Tyrannen vor uns haben, sondern einen Herrscher, der an seiner eigenen Gottverlorenheit zugrunde geht, zeigt sich vor allem darin, dass er in der materiellen Macht von Schwert und Speer den alles entscheidenden Faktor im Kampf zwischen Mordor und Gondor sieht. Dieser Glaube führt zu seinem ebenso tragischen wie sündigen Untergang. Frodos Versuch, den Ring zum Schicksalsberg zu bringen und zu zerstören, ist in seinen Augen offensichtlicher Irrsinn. Gandalf hingegen vertraut der göttlichen Vorsehung. Andernfalls müsste er wie Denethor der Verzweifelung anheimfallen, denn was dieser im Palantír erblickt hat, ist ja kein bloßes Trugbild des Dunklen Herrschers: "[G[egen die Macht, die sich jetzt erhebt, gibt es keinen Sieg. Gegen diese Stadt ist nur der erste Finger seiner Hand ausgestreckt worden. Der ganze Osten ist in Bewegung." Die militärische Überlegenheit Saurons vor Augen, an der auch der Sieg auf den Pelennor-Feldern und der Fall des Hexenkönigs nichts ändern können, wählt der in Wahnsinn versinkende Truchsess den Selbstmord, wobei er seinen schwer verletzten Sohn Faramir mit in den Tod zu nehmen gedenkt. Gandalf – hier ganz religiöse Autoritätsperson – versucht ihn aufzuhalten: "Ihr seid nicht befugt, Truchseß von Gondor, die Stunde Eures Todes zu bestimmen [...] Und nur die götzendienerischen Könige unter der Herrschaft der Dunklen Macht verfuhren so, töteten sich selbst in Stolz und Verzweifelung, ermordeten ihre Sippe, um ihren eigenen Tod zu erleichtern". (19) Das Wort ‘pagan’ (‘götzendienerisch’, ‘heidnisch’) ist eines der ganz seltenen Beispiele für die Verwendung eines eindeutig religiös-christlich konnotierten Begriffes im Herr der Ringe. Und wieder einmal unterstreicht ein kleines Detail, um was es eigentlich geht. Gondors Niedergang, Denethors Hochmut und Verzweifelung, sein sündiges Ende – all dies darf nicht isoliert betrachtet, sondern muss als ein unauflöslicher Motivkomplex verstanden werden.

XII

Stände die Figur des tyrannischen Denethor für sich allein, wäre ihre Charakterisierung sozusagen Tolkiens letztes Wort über die Alleinherrschaft, so ließe sie sich als eine Kritik an der Monarchie interpretieren, ohne dass dazu eine im Rahmen der Erzählung völlig unglaubwürdige ‘demokratische’ Alternative beschrieben werden müsste. Doch dies ist nicht der Fall. Auf Denethor folgt Aragorn, auf den drohenden Despotismus die Herrschaft des guten Königs. Ist mit dem Selbstmord des Truchsessen der gottfernste Punkt in der Entwicklung Gondors erreicht, so leitet Elessars Krönung die Wende ein. (20) Die Szene an der alten Weihestätte auf dem Mindolluin ist dafür das klarste Zeichen, und dort ist es auch, wo Gandalf – der ja kein Mensch, sondern ein Abgesandter der Valar und damit letztlich Gottes ist – die Aufgabe des zurückgekehrten Königs beschreibt: "Das Dritte Zeitalter der Welt ist zu Ende, das neue Zeitalter hat begonnen; und es ist deine Aufgabe, seinen Beginn zu ordnen, und das zu bewahren, was bewahrt werden kann." (21)
Neben dem falschen, auf Veränderung ausgerichteten Ordnungsstreben Sarumans und Saurons gibt es also auch das gute, gottgefällige, konservativ-bewahrende Ordnungsamt des Königs. Dieses findet im Wiedervereinigten Königreich, dem sich in den folgenden Jahrzehnten die Völker des Ostens und Südens mehr oder weniger freiwillig unterordnen werden, seinen vollkommenen Ausdruck. Mit Aragorn hat das Reich zu seiner ursprünglichen Bestimmung als Erbwalter Númenors zurückgefunden, was sich bereits im Augenblick seiner Krönung deutlich offenbart: "Doch als Aragorn aufstand, starrten ihn alle, die ihn sahen, stumm an, denn es schien, daß sie ihn jetzt zum ersten Mal erblickten. Groß wie die See-Könige von einst, überragte er alle, die um ihn standen. Hochbetagt erschien er, und doch in der Blüte der Manneskraft; und Weisheit lag auf seiner Stirn, und Kraft und Heilung waren in seinen Händen, und ein Licht war um ihn." (22)

Selbst Weinreich scheint das Pathos hier etwas unheimlich zu werden, und so schreibt er, dass "Aragorn [...] spätestens im Rahmen der Krönungszeremonie in Die Rückkehr des Königs von Tolkien kitschig überhöht" werde.
Allerdings halte ich diese Beurteilung bei näherer Betrachtung für ziemlich unfair. Da er das weltanschaulich Fragwürdige in Tolkiens Darstellung des wiedergekehrten Königs auf Teufel komm raus nicht erkennen will, begibt sich Weinreich auf das sehr viel ungefährlichere Terrain des Stilistischen. Natürlich steht es jedem frei, Tolkiens archaisierende Sprache und sein Pathos ungelenk oder sogar peinlich zu finden, dann aber darf man sich nicht auf die Krönungsszene beschränken. Der ‘hohe Stil’ dominiert schließlich den ganzen ‘heroischen’ Handlungsstrang des Herr der Ringe, von dem die ‘Saga von Aragorn, Arathorns Sohn’ nur ein Teil ist. Worin unterscheiden sich die oben zitierten Sätze von Passagen wie etwa dem letzten Ausfall Théodens an der Hornburg – "Weiß wie der Schnee war sein Pferd, golden sein Schild und lang sein Speer. Zu seiner Rechten ritt Aragorn, Elendils Erbe, und hinter ihm die Ritter des Hauses von Eorl dem Jungen. Licht wurde der Himmel. Die Nacht verging."(23) – oder den Hörnern der Rohirrim zu Beginn der Schlacht auf den Pelennor-Feldern – "Damit nahm er [Théoden] ein großes Horn von Guthláf, seinem Bannerträger, und er blies so schmetternd, daß es zerbarst. Und sogleich erschallten alle Hörner des Heeres wie in einem einzigen Wohllaut, und das Blasen der Hörner von Rohan in jener Stunde war wie ein Sturm über der Ebene und wie ein Donner im Gebirge"? (24) Natürlich sind die ‘heroischen’ Figuren überlebensgroß gezeichnet, sonst wären sie nicht länger ‘heroisch’. Aber wie stets benutzt Tolkien auch in Bezug auf den im wahrsten Sinne des Wortes krönenden Abschluss der ‘heroischen’ Erzählung die Hobbits und ihre Sicht der Dinge, um das Pathos aufzubrechen. Betrachten wir uns nur einmal die Szene auf dem Feld von Cormallen, wenn Frodo und Sam nach ihrer Rettung vom Schicksalsberg vor die Heerführer des Westens geführt werden: "[M]it vor Staunen glänzenden Augen gingen Frodo und Sam weiter und sahen, daß inmitten des lärmenden Heers drei Hochsitze aus grünen Rasensoden aufgebaut waren. Hinter dem Sitz zu Rechten schwebte Weiß auf Grün ein großes Pferd, das frei lief; auf der Linken war ein Banner, Silber auf Blau, ein Schiff, den Bug in Gestalt eines Schwans, zur See fahrend; aber hinter dem höchsten Thron in der Mitte von allen entfaltete sich in der Brise eine große Standarte, und dort blühte ein weißer Baum auf einem schwarzen Feld unter einer schimmernden Krone und sieben glitzernden Sternen. Auf dem Thron saß ein Mann im Panzerhemd, ein großes Schwert lag auf seinen Knien, aber er trug keinen Helm. Als sie näherkamen, stand er auf. Und da erkannten sie ihn, so verändert er auch war, mit einem so edlen und frohen Gesicht, königlich, Herr der Menschen, dunkelhaarig und die Augen grau." Das Bild wirkt leblos und gravitätisch wie die Miniatur aus einem mittelalterlichen Codex. Doch was folgt zerstört augenblicklich die weihevolle Atmosphäre "Frodo rannte ihm entgegen, und Sam kam hinterdrein. ‘Na, wenn das nicht allem die Krone aufsetzt!’ sagte er. ‘Streicher, oder ich schlafe immer noch!’‘Ja, Sam, Streicher’, sagte Aragorn. ‘Es ist ein weiter Weg, nicht wahr, von Bree, wo du mich nicht leiden konntest?’" (25) Man beachte die Ironie in der Wortwahl: ‘Wenn das nicht allem die Krone aufsetzt!’ (‘If that isn’t the crown of all!’). Von Sams Seite her ist das natürlich unbeabsichtigt, aber nicht unbedingt auch von der des Autors. Wie schon der Heldenkönig Théoden wird auch der majestätische Elessar durch die ebenso schlichte wie menschliche Sichtweise der Hobbits aus der Sphäre epischer Überhöhung auf die Erde zurückgeholt. Nicht nur erscheint er selbst dadurch humaner, zugleich wird auch eine gewisse Distanz zwischen der Leserin oder dem Leser und der pathetischen Schilderung des Königtums geschaffen.
Doch auch wenn dieser Kunstgriff meiner Meinung nach Weinreichs Vorwurf des Kitsches entkräftet, ändert er leider nichts an dem sehr viel gravierenderen Problem, dass der König trotz allem als eine Art Heilsbringer dargestellt wird, der ‘altes Recht’ und ‘alte Sitte’ wieder aufrichtet, der wahren Religion neues Leben verleiht –  "Es ist anzunehmen, daß mit der wiedererstandenen Linie der Priesterkönige [...] die Verehrung Gottes erneuert wurde und daß Sein Name (oder Titel) nun wieder öfter zu hören war." (26) und das Reich auf die ihm heilsgeschichtlich zugedachte Position zurückführt. Und dieses Bild ist eben nicht allein auf Vorbilder aus der mittelalterlichen Literatur, sondern ebenso auf bestimmte weltanschauliche Positionen Tolkiens zurückzuführen. Ganz ohne Zweifel verkörpert die Herrschaft Elessars eine Reihe seiner gesellschaftlichen und ‘politischen’ Ideale: Eine starke persönliche Autorität, göttliche Begnadung, die Wiederherstellung der überkommenen Ordnung und damit verbunden der religiösen ‘Wahrheit’.

Aragorns Aufgabe ist es, "zu bewahren, was bewahrt werden kann." Mit der Abfahrt der Hochelbenfürsten von den Grauen Anfurten verlassen all jene Mittelerde, die die Ereignisse der Altvorderenzeit noch selbst miterlebt haben. Das lebendige Band ist zerschnitten, was bleibt sind Überlieferungen. Sie – und damit Bruchstücke einer höheren Kultur, wahrer Schönheit und des Wissens um den Einen Gott – zu behüten und weiterzugeben, ist die ‘heilige’ Mission des Reiches. Denn trotz Saurons Sturz ist Mittelerde auf längere Sicht hin eine dunkler werdende Welt. Auch weiterhin werden dem König des ‘Westens’ dabei die heidnischen Völker des Ostens und Südens gegenüberstehen, denen zwar ihr teuflischer Gottkönig abhanden gekommen ist, die aber durch Jahrtausende der ‘Unwissenheit’ und des Götzendienstes geprägt worden sind. Und in dieser Hinsicht finden sich tatsächlich erstaunliche Parallelen zwischen Tolkiens Mythologie und seiner Sicht der realen Welt.

Fortsetzung folgt ...


ß à


(1) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 280.
(2) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 287.
(3) J.R.R. Tolkien: Eine Beschreibung der Insel Númenor. In: Ders.: Nachrichten aus Mittelerde. S. 226.
(4) Georges Duby: Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980-1420. S. 27.
(5) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Anhänge. S. 18.
(6) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 320.
(7) Ebd. S. 308.
(8) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 473.
(9) Brief an Robert Murray, S.J. (Entwurf) [4. November 1954]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 156. S. 273.
(10) Zit. nach: Georges Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 34.

(11) J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 325.
(12) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Anhänge. S. 29.
(13) "Und bisweilen kamen die Dúnedain an die Ufer der Großen Lande, und sie erbarmten sich der verlassenen Welt von Mittelerde. In den Dunklen Jahren der Menschen setzten die Herren von Númenor wieder den Fuß auf die westlichen Ufer, und noch wagte keiner ihnen zu widerstehen. Denn die meisten Menschen jenes Zeitalters unter dem Schatten waren nun schwach und furchtsam geworden. Vieles lehrten sie die Númenórer, als sie zu ihnen kamen. Den Weizen und den Wein brachten sie mit, und sie unterwiesen die Menschen, wie die Saat auszusäen und das Korn zu mahlen, wie das Holz zu schnitzen und der Stein zu meißeln sei, und wie sich das Leben ordnen lasse, so gut es ging in den Ländern frühen Tods und dürftigen Glücks. Da waren die Menschen von Mittelerde gestärkt, und hier und da an den westlichen Küsten wichen die hauslosen Wälder zurück, und Menschen schüttelten das Joch von Morgoths Sprößlingen ab und verlernten die Angst vor dem Dunkel. Und sie hielten das Andenken der hochgewachsenen Seekönige in Ehren und nannten sie Götter, nachdem sie wieder abgefahren und hofften auf ihre Rückkehr". (J.R.R. Tolkien: Das Silmarillion. S. 289f.)
(14) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. II. S. 328.
(15) Ebd. Bd. III. S. 30.
(16) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Anhänge. S. 40.
(17) Anmerkung zu W.H. Audens Besprechung des Return of the King. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 183. S. 320.
(18) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Anhänge. S. 40.
(19) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 143; 143; 142.
(20) Da der Umgang mit der eigenen Sterblichkeit der Prüfstein des Charakters von Völkern und Individuen ist, bildet die würdevolle und versöhnte Haltung, in der Aragorn dem Tod gegenübertritt, den Gegenpunkt zum verzweifelten Selbstmord des Truchsessen. In ihr offenbart sich das ganze Wesen des Königs: "[Z]uletzt spürte er das Herannahen des Alters und wußte, daß die Spanne seines Lebens ihrem Ende zuging, so lang es auch gewesen war. Da sagte Aragorn zu Arwen: ‘Nun, Frau Abendstern, Schönste in der Welt und Geliebteste, vergeht meine Welt. Sehet! Wir haben eingenommen und wir haben ausgegeben, und nun nähert sich die Zeit der Bezahlung! [...] Daher will ich jetzt schlafen. Ich spreche Euch keinen Trost zu, denn es gibt keinen Trost für solchen Schmerz in den Kreisen der Welt. [...] In Kummer müssen wir gehen, aber nicht in Verzweiflung. Schaut! Wir sind nicht für immer an die Kreise der Welt gebunden, und jenseits von ihnen ist mehr als nur Erinnerung. Lebt wohl!’ ‘Estel, Estel!’ rief sie, und als sie eben seine Hand nahm und sie küßte, fiel er in Schlaf. Da wurde eine große Schönheit in ihm offenbar, so daß alle, die nachher kamen, ihn voll Staunen anblickten; denn sie sahen, daß die Anmut der Jugend und die Kraft seiner Mannesjahre und die Weisheit und königliche Würde seines Alters miteinander verschmolzen waren." (J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Anhänge. S. 48.)
(21) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 281.
(22) Ebd. Bd. III. S. 277.
(23) Ebd. Bd. II. S. 164.
(24) Ebd. Bd. III. S. 124.
(25) Ebd. Bd. III. S. 260f.
(26) Brief an Robert Murray, S.J. (Entwurf) [4. November 1954]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 156. S. 273.

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