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Montag, 9. April 2012

Zwei Arten Nostalgie (I)


Ich habe mich hier vor einiger Zeit bereits einmal etwas ausführlicher über Steampunk ausgelassen. Nun hat Ann VanderMeer das Inhaltsverzeichnis ihrer in Arbeit befindlichen dritten Steampunk-Anthologie Steampunk Revolution veröffentlicht. Die Liste der Autorinnen und Autoren liest sich recht beeindruckend, sie enthält u.a. Jeffrey Ford, Lev Grossman, N.K. Jemison, Garth Nix, Bruce Sterling, Catherynne M.Valente, Genevieve Valentine und Jeff VanderMeer. Der Band wird auch Amal El-Mohtars großartige Kurzgeschichte To Follow the Waves, sowie eine erweitere Version ihres Essays Towards a Steampunk Without Steam enthalten. In letzterem stellt die Autorin nicht nur die begrüßenswerte Forderung auf, das Subgenre möge endlich aus dem selbstgebauten Gefängnis eines pseudoviktorianischen London ausbrechen, sondern macht auch folgende interessante Bemerkung: "I could write about how steampunk is our Victorian Medievalism – how our present obsession with bustles and steam engines mirrors Victorian obsessions with Gothic cathedrals and courtly love. I could write about nostalgia, about the aesthetics of historical distance, and geek out!"


Ist die viktorianische Ära für Steampunk-Autorinnen und -Autoren tatsächlich das gleiche, was das Mittelalter für romantische und viktorianische Dichter und Dichterinnen gewesen ist? Ist die Sehnsucht nach einer verklärten Vergangenheit wirklich ein- und dieselbe?


Parallelen sind ganz ohne Zweifel vorhanden. Aus einer als negativ wahrgenommenen Gegenwart versetzt man sich zurück in eine Vergangenheit, die übersichtlicher, schöner, ‘menschlicher’ und kultivierter erscheint. Das Bild, das von dieser Vergangenheit entworfen wird, orientiert sich in beiden Fällen eher an literarischen Darstellungen als an der historischen Realität. Die Gentleman-Abenteurer und genialen Erfinder des Steampunk haben so wenig oder viel mit dem 19. Jahrhundert zu tun wie Tennysons edle Rittersleut mit dem Europa des Hochmittelalters.
Dennoch existieren da meiner Meinung nach gravierende Unterschiede. Die viktorianischen Künstler lebten in einer Zeit des triumphierenden Industriekapitalismus, und wenn sie ihre sehnsuchtsvollen Blicke zurück auf das Mittelalter lenkten, schauten sie dabei auf ein vorbürgerliches Zeitalter.

Natürlich darf man nicht alle von ihnen über einen Kamm scheren. Der schon erwähnte Alfred Lord Tennyson etwa steckte in seinen Idylls of the King die viktorianische – also bürgerliche – Moral ganz einfach in eine mittelalterliche Ritterrüstung und verlieh ihr so eine romantische Aura. Und Walter Scotts Ivanhoe verkündet in erster Linie die Heilslehre von der nationalen Einheit, in deren Dienst sogar eine so urrebellische Gestalt wie Robin Hood gestellt wird. Doch ausgehend von der englischen Romantik existierte daneben auch eine mehr oder weniger deutlich sich artikulierende antibürgerliche Strömung.

Es würde zu lange dauern, die Beziehung zwischen Romantik und Revolution genauer darzulegen. Doch da dies ein wenig in Vergessenheit geraten zu scheint, sei zumindest auf die bedeutende Rolle hingewiesen, die William Godwin in den romantischen Kreisen gespielt hatte. Der Ehemann der feministischen Pionierin Mary Wollstonecraft (A Vindication of the Rights of Woman) war einer der ersten Theoretiker des Anarchismus, der in seinem Hauptwerk An Inquiry Concerning Political Justice erklärt hatte, dass die Menschheit nach ihrer Befreiung von Privateigentum und staatlicher Gewalt zu quasi grenzenloser Selbstvervollkommnung fähig sei. Selbst Samuel Coleridge, der später zu einem begeisterten Lobsänger von Thron und Altar werden würde, hatte Godwin 1794 als Propheten gefeiert, dessen Stimme "in Passion's stormy day,/ When wild I roam'd the bleak Heath of Distress,/ Bade the bright form of Justice meet my way –/ And told me that her name was Happiness." (1)
Godwins und Wollstonecrafts Tochter Mary erlangte Berühmtheit als Verfasserin von Frankenstein und heiratete Percy Bysshe Shelley, den politisch radikalsten unter den Dichtern der Romantik. Obwohl dieser ganz sicher nichts für die feudalen Überreste in der sozialen und politischen Ordnung seines Vaterlandes übrig hatte, gab er doch der alten Aristokratie mit ihrer Kultiviertheit und ihrem Standesethos in gewisser Hinsicht den Vorzug vor den bürgerlichen Parvenus: "Ihre Mitglieder besitzen eine gewisse edle Großzügigkeit sowie verfeinerte Sitten und Ansichten, die zwar weder Philosophie noch Tugend sind, doch als Ersatz dafür anerkannt werden und zumindest eine Religion darstellen, die gegenüber jenen ehrwürdigen Namen Hochachtung einflößt. Die andere ist eine Aristokratie von Anwälten, Steuereinnehmern, Staatspensionären, Wucherern, Börsenmaklern, Provinzbankiers samit ihrer Gefolg- und Nachkommenschaft. Das ist eine Klassen von Schuften, die anderen die Haut abziehen und in deren Dienst für die Übung der edleren Fähigkeiten des Geistes kein Raum ist, nicht einmal für deren Mißbrauch."(2)

Von dieser Position aus konnte man natürlich sehr leicht zu ausgesprochen reaktionären Ansichten gelangen, hatte doch auch Edmund Burke – der geistige Vater des britischen Konservatismus – in seinen Reflections on the French Revolution gejammert: "[T]he age of chivalry is gone. That of sophisters, economists, and calculators, has succeeded; and the glory of Europe is extinguished for ever." (3) Aber während Burke den Kapitalismus rechtfertigte, indem er erklärte: "[The laws of commerce [...] are the laws of nature, and consequently the laws of God"(4), konnte die Sehnsucht nach dem Mittelalter bei anderen Denkern mit einem heftigen Angriff auf das bürgerliche Gesellschaftssystem einhergehen. Thomas Carlyle etwa sprach in seinem 1843 erschienen Buch Past and Present seinen Bannfluch über das bürgerliche England aus und stellte ihm zugleich das mittelalterliche Kloster von St. Edmundsbury als positiven Gesellschaftsentwurf entgegen. Wortgewaltig verurteilte er die ‘aufgeklärte Selbstsucht’ der liberalen Ökonomen: "Free-trade, Competition, and Devil take the hindmost, our latest Gospel yet preached!" Anders als diese sah er in einem Zustand, in dem die Gesellschaft in isolierte Individuen zerfallen war, die in ständiger Konkurrenz zueinander standen, und das Geld zum einzigen Vermittler gesellschaftlicher Beziehungen geworden war, nichts natürliches. Ganz im Gegenteil: "[W]e for the present, with our Mammon-Gospel, have come to strange conclusions. We call it a Society; and go about professing openly the totalest separation, isolation. Our life is not a mutual helpfulness; but rather, cloaked under due laws-of-war, named 'fair competition' and so forth, it is a mutual hostility. We have profoundly forgotten everywhere that Cash-payment is not the sole relation of human beings; we think, nothing doubting, that it absolves and liquidates all engagements of man. [...] Cash-payment never was, or could except for a few years, be the union-bond of man to man. Cash never yet paid one man fully his deserts to another; nor could it, nor can it, now or henceforth to the end of the world." (5) Im Feudalismus des Mittelalters erblickte Carlyle nicht zu unrecht eine Gesellschaft, die auf völlig anderen Grundlagen beruht hatte. Sein Freund und ‘Schüler’ John Ruskin, der bedeutendste Kunstkritiker des Viktorianismus, führte diese Gedanken weiter fort.

Ruskin ist eine der faszinierendsten Gestalten des viktorianischen Englands. Berühmt geworden durch sein entschiedenes Eintreten für das Werk des Landschaftsmalers J.M.W. Turner im ersten Band seiner Modern Painters (1843), wurde er ab 1848 zum Inspirator und Förderer der Präraffaeliten und leistete mit The Seven Lamps of Architecture (1849) und The Stones of Venice (1851-53) einen wichtigen Beitrag zur neuerlichen Wertschätzung der gotischen Architektur. Zudem formulierte er in seinen Schriften Grundsätze wie den der ‘Materialgerechtigkeit’, die die Arts and Crafts - Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts und auch noch das Bauhaus beeinflussen sollten. Bis 1848 von strenger evangelikaler Frömmigkeit, wandte er sich nach einer zehnjährigen, schmerzhaften Glaubenskrise 1858 von der Religion ab. Hatte bisher Gott im Zentrum seiner Weltanschauung und Ästhetik gestanden, so nahm diesen Platz von da ab der Mensch ein. Dies führte ihn u.a. dazu, sich verstärkt mit sozialen und ökonomischen Fragen zu beschäftigen, was ihn schließlich mit Büchern wie Unto this Last (1860), Munera Pulveris (1862/63), The Crown of Wild Olive (1866), Time and Tide (1867) und Fors Clavigera (1871-80) zum vielleicht bekanntesten radikalen Gesellschaftskritiker seiner Zeit machte.
Im fünften Band von Modern Painters (1860) beschreibt Ruskin im Rahmen einer allegorischen Interpretation von Turners Gemälde The Goddess of Discord Choosing the Apple of Contention in the Garden of the Hesperides, worin für ihn das ‘große spirituelle Faktum’ seiner Zeit bestand: im Aufstieg des ‘Drachen’, des "evil spirit of wealth", der als neuer Gott Britanniens über einem schwefelfarbenen "paradise of smoke" thront. (6) Ebenfalls in Modern Painters formuliert er das ‘Gesetz der Hilfe’, das sich als grundlegendes Gesetz des Lebens in der Komposition eines Gemäldes ebenso ausdrücken müsse wie in der Organisation einer Gesellschaft: "Composition may best be defined as the help of everything in the picture by everything else. [...] Government and cooperation are in all things and eternally the laws of life. Anarchy and competition, eternally, and in all things, the laws of death." (7) Wie Carlyle erschien deshalb auch ihm die durch den Kapitalismus herbeigeführte Atomisierung der Gesellschaft als zutiefst unnatürlich. Sie war in seinen Augen das Symptom einer schleichenden und tödlichen Krankheit. Die liberale politische Ökonomie Adam Smiths und David Ricardos verwarf er in Unto this Last als pseudowissenschaftliche Rechtfertigung nackter Selbstsucht. Die Wirtschaft habe nicht der blinden Akkumulation des Kapitals, sondern der Bereicherung des Lebens zu dienen: "[T]he real science of political economy, which has yet to be distinguished from the bastard science, as medicine from witchcraft, and astronomy from astrology, is that which teaches nations to desire and labour for the things that lead to life: and which teaches them to scorn and destroy the things that lead to destruction." Der Gedankengang gipfelt in Ruskins berühmter Definition des Reichtums: "THERE IS NO WEALTH BUT LIFE. Life, including all its powers of love, of joy, and of admiration. That country is the richest which nourishes the greatest number of noble and happy human beings; that man is richest who, having perfected the functions of his own life to the utmost, has also the widest helpful influence, both personal, and by means of his possessions, over the lives of others." (8) Doch eben diese Art Reichtum kann der Kapitalismus nicht schaffen.

Amal El-Mohtar schreibt von der Begeisterung der Viktorianer für gotische Kathedralen, und es war gerade Ruskins intensive Beschäftigung mit gotischer Kunst und Architektur, die ihn zu einigen seiner interessantesten Ideen führte. In The Nature if Gothic hebt er die ‘Grobheit’ (‘Roughness’) als einen der charakteristischen Züge dieser Kunstform hervor. Gotische Bauten, Steinmetzarbeiten und Skulpturen sind nicht perfekt, aber gerade das ist Teil ihrer künstlerischen Größe. Denn diese Unvollkommenheit ist Ausdruck wahrer Menschlichkeit. Jeder Mensch besitzt ein kreatives Potential, aber kein Mensch ist perfekt. Wünscht man eine makellose Ausführung, so muss man – anders als die gotischen Baumeister – die Kreativität des einzelnen Handwerkers ersticken: "Observe, you are put to a stern choice in this matter. You must either make a tool of the creature, or a man of him. You cannot make both. Men were not intended to work with the accuracy of tools, to be precise and perfect in all their actions. If you will have that precision out of them, and make their fingers measure degrees like cog-wheels, and their arms strike curves like compasses, you must inhumanize them. All the energy of their spirits must be given to make cogs and compasses of themselves [...] On the other hand, if you will make a man of the working creature, you cannot make a tool. Let him but begin to imagine, to think, to try to do anything worth doing; and the engine-turned precision is lost at once. Out come all his roughness, all his dulness, all his incapability [...]: but out comes the whole majesty of him also." Das Studium der Gotik führte Ruskin so ganz wie von selbst zu einer scharfen Kritik der modernen, industriellen Produktionsweise, die den Arbeiter seiner Menschlichkeit beraubt, sein schöpferisches Potential abtötet, ihn zu einer ‘lebenden Maschine’ macht. "[T]o feel their souls withering within them, unthanked, to find their whole being sunk into an unrecognized abyss, to be counted off into a heap of mechanism numbered with its wheels, and weighed with its hammer strokes, this nature bade not; this God blesses not; this humanity for no long time is able to endure." Eine wichtige Rolle spielt dabei die immer weiter fortschreitende Arbeitsteilung: "We have much studied, and much perfected, of late, the great civilized invention of the division of labour; only we give it a false name. It is not, truly speaking, the labour that is divided; but the men: – Divided into mere segments of men – broken into small fragments and crumbs of life; so that all the piece of intelligence that is left in a man is not enough to make a pin, or a nail, but exhausts itself in making the point or the head of a nail." Dazu gehört vor allem auch die strikte Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit: "We are always in these days endeavouring to separate the two; we want one man to be always thinking, and another to be always working, and we call one a gentleman, and the other an operative; whereas the workman ought often to be thinking, and the thinker often to be working, and both should be gentlemen, in the best sense. As it is, we make both ungentle, the one envying, the other despising, his brother; and the mass of society is made up of morbid thinkers, and miserable workers. Now it is only by labour that thought can be made healthy, and only by thought that labour can be made happy, and the two cannot be separated with impunity."
Ruskin gelangte auf diese Weise zu Einsichten, wie wir sie ganz ähnlich auch bei Fourier und Marx finden. In seiner Gegenüberstellung von feudalem und bürgerlichem England zeigte sich wie nie zuvor das revolutionäre Potential der romantischen Mittelalterbegeisterung:
"There might be more freedom in [medieval] England, though her feudal lords’ lightest words were worth men's lives, and though the blood of the vexed husbandman dropped in the furrows of her fields, than there is while the animation of her multitudes is sent like fuel to feed the factory smoke, and the strength of them is given daily to be wasted into the fineness of a web, or racked into the exactness of a line.
And, on the other hand, go forth again to gaze upon the old cathedral front, where you have smiled so often at the fantastic ignorance of the old sculptors; examine once more those ugly goblins, and formless monsters, and stern statues, anatomiless and rigid; but do not mock at them, for they are signs of the life and liberty of every workman who struck the stone; a freedom of thought, and rank in scale of being, such as no laws, no charters, no charities can secure; but which it must be the first aim of all Europe at this day to regain for her children."
Der widernatürliche und unmenschliche Charakter, den die Arbeit im industriellen Kapitalismus angenommen hat, bildet für Ruskin den Kern der modernen Misere. Diese kann deshalb auch nicht behoben werden, indem man die Arbeiter belehrt oder ihnen Moralpredigten hält, "for to teach them is but to show them their misery, and to preach to them, if we do nothing more than preach, is to mock at it. It can be met only by a right understanding, on the part of all classes, of what kinds of labour are good for men, raising them, and making them happy; by a determined sacrifice of such convenience, or beauty, or cheapness as is to be got only by the degradation of the workman; and by equally determined demand for the products and results of healthy and ennobling labour." (9)

John Ruskin war der wohl bedeutendste Vertreter eines romantisch-konservativen Antikapitalismus im viktorianischen England, und er und seine Ideen spielen eine zwar wenig beachtete, aber dennoch nicht ganz unwichtige Rolle in der ‘Vorgeschichte’ der modernen Fantasy. Nicht nur gehörte zu seinen engen Freunden George MacDonald, der mit Büchern wie Phantastes und Lilith zurecht als einer der Gründerväter des Genres gilt, von ihm führt auch eine direkte Entwicklungslinie zu G.K. Chesterton & Hilaire Belloc, sowie darüber hinaus – so zumindest meine Überzeugung – zu J.R.R. Tolkien. Vor allem aber war er der große Vorgänger und Inspirator von William Morris.

Zeigen uns Ruskins Werke einerseits, zu was der konservative Antikapitalismus in seinen besten Momenten fähig war, so demonstriert uns sein Leben andererseits, dass diese Philosophie in eine Sackgasse führen musste. Auch wenn er sich mitunter als ‘Kommunist’ bezeichnete, liefen seine Reformbestrebungen, zu deren Umsetzung er 1871 die Guild of St.George gründete, letztenendes auf eine Wiederbelebung des zünftigen Handwerks hinaus. Seine Größe bestand darin, in einer Zeit, in der die Bourgeoisie nach dem Zerfall der Chartistenbewegung die britische Gesellschaft so gut wie unangefochten dominierte, seine geistige Unabhängigkeit bewahrt zu haben. Doch es war nicht allein die Feindschaft der ‘guten Gesellschaft’, die ihn zu jener immer größeren Isolation verdammte, die schließlich auf tragische Weise sein Schicksal besiegeln sollte. Voller Verbitterung schrieb er 1873 im siebzehnten Brief von Fors Clavigera: "St. George’s war! Here since last May [...] have I been asking whether any one would volunteer for such a battle? Not one human creature, except a personal friend or two, for mere love of me, has answered." (10) Es fanden sich weder die wohlmeinenden Geschäftsleute, die seine Gilde finanziert hätten, noch die respektvollen Proletarier, die wild darauf gewesen wären, sich in zünftige Handwerker verwandeln zu lassen. Fünf Jahre später wandte Ruskin sich erneut der Religion zu und entwickelte außerdem eine Faszination für den damals äußerst populären Spiritismus, wobei seine unglückliche Liebe zu der im selben Jahr verstorbenen Rose la Touche eine wohl nicht unbeträchtliche Rolle spielte. Die von Halluzinationen begleiteten psychischen Zusammenbrüche, die ihn ab Februar 1878 heimsuchten, mögen vielfältige Ursachen gehabt haben. So besteht kein Zweifel, dass er ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität hatte. Aber das schreckliche Gefühl der Verlorenheit und Hilflosigkeit, das ihn nächtliche Kämpfe mit dem Satan ausfechten ließ, während sich die Gegenstände in seinem Zimmer in "fantastic, malignant, and awful imps and devils and witches" (11) verwandelten, verschmolz zunehmend mit seiner Sicht auf die gesellschaftliche Entwicklung. Er sah sich umgeben von einer vom Teufel beherrschten Welt, die scheinbar unaufhaltsam auf den Abgrund der Hölle zusteuerte. Blickte er aus dem Fenster seines Refugiums Brantwood im idyllischen Lake District, so sah er über dem Horizont Englands – einer apokalyptischen Warnung gleich – jene pestilenzialischen Wolken auftauchen, die er 1884 in seiner bizarren Schrift The Storm-Cloud of the Nineteenth Century beschrieben hat. So gesehen gewinnt Ruskins Wahnsinn symbolische Bedeutung.
Der romantisch-konservative Antikapitalismus war an einem Scheidepunkt angelangt. Aus sich selbst heraus konnte er keine lebensfähige Alternative zur herrschenden Gesellschaftsordnung entwickeln, sondern war dazu verurteilt, zu einem bloßen Antimodernismus zu degenerieren – durchsetzt mit wirren Träumen von einer Rückkehr zum Feudalismus und erfüllt vom Geist der Hoffnungslosigkeit. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden wir viele seiner Vertreter im Umfeld der faschistischen Bewegungen.
Die einzige Alternative zu dieser Entwicklung bestand darin, die Grenzen des radikalen Toryismus endgültig zu überschreiten und sich einem Sozialismus zuzuwenden, der nicht wie Ruskins ‘Kommunismus der alten Schule’ in einer Mischung aus Thomas Mores Utopia, radikaler Agrarreform und mittelalterlichem Zunfthandwerk bestand. Der Aufstand der Pariser Kommune von 1871 brachte Ruskin beinahe dazu, die Bedeutung des Klassenkampfes zu verstehen. Im siebten Brief von Fors Clavigera schrieb er: "The Real War in Europe, of which this fighting in Paris is the Inauguration, is between these [Capitalists] and the workmen, such as these have made him." (12) Aber auch wenn er die Kapitalisten für den Ausbruch der Revolution verantwortlich machte, folgte er in seiner Darstellung der Aufständischen als brandschatzende Vandalen ganz der bürgerlichen Propaganda. Wäre er auf unmittelbarere Weise mit einer revolutionären Massenbewegung konfrontiert worden, so hätte er vermutlich ähnlich wie Carlyle reagiert, der die europäische Revolution von 1848 mit seinen protofaschistischen Latter-Day Pamphlets beantwortet hatte. Im England seiner Zeit war dies jedoch nicht der Fall. Die Jahrzehnte, in denen Ruskin seine Gedanken entwickelte, waren geprägt durch einen mächtigen Wirtschaftsauf-schwung, der bis 1873 – dem Beginn der sog. ‘Großen Depression des 19. Jahrhunderts’ – anhielt. Auf dieser Grundlage entstand eine Gewerkschaftsbewegung, die ausschließlich ökonomische und sozialreformerische Ziele verfolgte und der es tatsächlich gelang, den Lebensstandard eines Teils der britischen Arbeiterklasse anzuheben. Auf das bürgerliche Publikum mussten Ruskins Ideen fürchterlich radikal wirken, doch in Wirklichkeit bildeten auch sie nur einen Teil dieser reformistischen Strömung. Erst William Morris würde den alles entscheidenden Schritt tun, und damit der dem konservativen Antikapitalismus entwachsenen Tradition eine neue Entwicklungsmöglichkeit eröffnen.


(1) To William Godwin, Author of 'Political Justice'. In: The Complete Poetical Works of Samuel Taylor Coleridge. Bd. 1. S. 86
(2) Percy Bysshe Shelley: Die Reform aus philosophischer Sicht. In: Ders.: Dichtung und Prosa. S. 582f.
(3) Edmund Burke: Reflections on the French Revolution. S. 126.
(4) Edmund Burke: Scarcity. S. 22. Zit. nach: Linda C. Raeder: The Liberalism/Conservatism of Edmund Burke and F.A. Hayek: A Critical Comparison.
(5) Thomas Carlyle: Past and Present. S. 99; 87 & 109.
(6) Vgl.: George P. Landow: The Aesthetic and Critical Theories of John Ruskin. Kap. 5-6.
(7) Zit. nach: George P. Landow: Ruskin. Kap. 3.
(8) John Ruskin: Unto This Last: Ad Valorem.
(9) John Ruskin: The Nature of Gothic. S. 17f.; 22; 22f.; 29; 19f.; 23.
(10) John Ruskin: Fors Clavigera. Bd. 1. S. 226.
(11) Zit. nach: George P. Landow: The Aesthetic and Critical Theories of John Ruskin. Kap. 4-3.
(12) John Ruskin: Fors Clavigera. Bd. 1. S. 97.

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