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Samstag, 14. April 2012

Exotische Gefilde?

Der Verlag Zubaan Books, inoffizieller Nachfolger von Indiens erstem feministischen Verlag Kali for Women, wird unter dem Titel Breaking the Bow eine Anthologie phantastischer Kurzgeschichten herausgeben, die vom Ramayana inspiriert wurden. Die Autorinnen und Autoren stellen sich damit in eine jahrhundertealte Tradition, die immer neue Varianten der Geschichte von Rama, Sita, dem Affengeneral Hanuman und dem Dämonenfürsten Ravana hervorgebracht hat – von Valmikis berühmten Sanskrit-Epos über südindische Schattenspiele bis zu thailändischen Tanztheaterstücken. Wie die indische Historikerin Romila Thapar schreibt: "The Ramayana does not belong to any one moment in history for it has its own history which lies embedded in the many versions which were woven around the theme at different times and places. [...] The appropriation of the story by a multiplicity of groups meant a multiplicity of versions through which the social aspirations and ideological concerns of each group were articulated. The story in these versions included significant variations which changed the conceptualization of character, event and meaning."* Im heutigen Indien wird das Ramayana leider immer wieder von den Hindu-Chauvinisten der Bharatiya Janata Party und ihren faschistischen Verbündeten für ihre reaktionären politischen Ziele missbraucht.** Um so erfreulicher ist es, wenn gezeigt wird, dass es auch ganz andere Möglichkeiten des Umgangs mit dem reichen kulturellen Erbes des Landes gibt.***

Für uns ‘westliche’ Fans des Phantastischen könnte das Buch außerdem Anlass sein, wieder einmal über die zwar nicht länger unangefochtene, aber immer noch sehr deutliche Dominanz des pseudoeuropäischen Pseudomittelalters in der Fantasy nachzudenken.

Immer wenn es darum geht, die Fantasy gegen ihre Kritiker zu verteidigen, wird eine gewaltige internationale literarische Tradition heraufbeschworen, in deren Nachfolge das Genre angeblich stehe und die vom Gilgamesch-Epos bis Shakespeare reiche. Wenn dem tatsächlich so ist, warum macht das Genre dann fast immer nur einen winzigen (den westeuropäisch-mittelalterlichen) Teil dieses Erbes fruchtbar? Trauen sich die Autorinnen und Autoren nicht, über den Tellerrand der europäischen Kulturtradition hinauszuschauen? Scheuen sie die dafür nötige Arbeit? Fürchten sie, der Sünde der ‘kulturellen Aneignung’ (‘cultural appropriation’) angeklagt zu werden? Doch das sollte kein Grund sein, sich auf die europäische Tradition zu beschränken. Man muss sich nur darüber im Klaren sein, dass der Zugriff auf das kulturelle Erbe anderer Völker Sensibilität, Fleiß und ein klares Bewusstsein für die von Kolonialismus und Ausbeutung geprägte Geschichte der Interaktion zwischen Europa und dem Rest der Welt erfordert.

Die Gefahr des Exotismus, des Missbrauchs einer fremden Kultur als Projektionsfläche für die Sehnsüchte eines Teils der westlichen Gesellschaft, ist natürlich eine sehr reale. Was mich zu einem in meinen Augen höchst problematischen Text führt, über den ich kürzlich gestolpert bin: Friedhelm Schneidewinds Vortrag Fantastik als Friedensstifter? Gehalten wurde dieser sowohl auf der Gründungskonferenz der Gesellschaft für Fantastikforschung als auch auf dem letztjährigen Tolkien Thing. Schneidewind – Autor von Büchern wie Mythologie und phantastische Literatur, Das große Tolkien-Lexikon und Das kleine Vampir-ABC – ist insbesondere in deutschen Tolkienistenkreisen eine recht bekannte Persönlichkeit, und das allein bereits lässt eine kritische Auseinandersetzung mit den von ihm entwickelten Ideen geboten erscheinen.

Seine Grundthese lautet: "Fantastik und insbesondere die Fantasy kann als Vermittler kultureller Kenntnisse und kulturübergreifenden Verständnisses dienen, und Verständnis ist EINE Grundlage für Toleranz und für friedlichen Umgang miteinander."

Wenn dies nur als eine Beschreibung des möglichen Potentials der Fantasy gemeint wäre, würde ich mich dem sofort anschließen. Schneidewind scheint jedoch der Ansicht zu sein, dass die Fantasy in ihrer überwältigenden Mehrheit dies schon heute leiste. Dabei übergeht er die unbestreitbare Tatsache, dass der Fremde, ‘Andere’ in sehr vielen Werken der Fantasy als der Bedrohliche, Feindselige, Böse erscheint.
Besonders ironisch wirkt auf mich dabei der Umstand, dass dieser Vortrag auf einem Tolkien Thing gehalten wurde. Denn das Werk des ‘Professors’ zeichnet sich ja gerade nicht durch Offenheit gegenüber dem Fremden aus. Die Welt, in der seine Geschichten spielen, ist ganz bewusst als mittel- und nordwesteuropäisch angelegt. Was sich jenseits der Grenzen dieses Kulturraums befindet wird als fremdartige, barbarische Bedrohung wahrgenommen. Die Völker des Südens und Ostens leben ‘unter dem Schatten’, und es ist Gondors göttliche Mission, als Schutzwall gegen sie zu fungieren.
Was mich jedoch wirklich erschreckt hat ist, dass Schneidewind die exotistische Darstellung fremder Kulturen offenbar nicht als Problem, sondern als etwas Positives betrachtet.
Er beginnt seinen Vortrag mit Erinnerungen an die Lektüre seiner frühen Jugend. Eine besonders verehrte Stellung kommt dabei Karl May zu, den er auch heute noch zu seinen Lieblingsschriftstellern zählt. Man kann über die literarischen Qualitäten Mays denken wie man will, als einen ernstzunehmenden ‘Vermittler kultureller Kenntnisse’ kann man ihn ganz sicher nicht bezeichnen. Auch ich war als Kind ein begeisterter Leser der Abenteuer von Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar, aber einem einigermaßen gebildeten Erwachsenen sollte doch klar sein, dass diese Bücher das Paradebeispiel für Orientalismus in der deutschen Unterhaltungsliteratur sind. Und wie Schneidewind gar im Stande war, aus dem legendär rassistischen Blauroten Methusalem eine ehrliche Bewunderung für die chinesische Kultur herauszulesen, entzieht sich meiner Vorstellungskraft.
Einen aktuelleren Beleg für seine These glaubt er in James Camerons Avatar gefunden zu haben. Dabei ist dieser Film doch nun wirklich ein besonders krasses und primtives Beispiel für das uralte Klischee vom ’edlen Wilden’. In englischsprachigen Kreisen hat man ihm nicht ohne Grund den Spottnamen Dances With Smurfs (Der mit dem Schlumpf tanzt) verpasst.
Aber es wird noch schlimmer. Schneidewind schreibt: "Durch übernatürlich schöne, romantische usw. Darstellungen, wie sie in der Fantasy möglich sind, können emotionale Reize gesetzt oder Klischeevorstellungen bedient werden, die in einer ‘natürlichen’ Welt nicht möglich oder zumindest nur über Umwege erreichbar sind." Und hierin sieht er einen Vorteil der Fantasy! Wie können die Romantisierung fremder Kulturen und das Bedienen von Klischeevorstellungen etwas begrüßenswertes sein?! Ich bin ehrlich verwirrt. Wenn es ihm tatsächlich darum geht, das Verständnis für die 'Anderen' zu fördern, dann sollte ihm doch eigentlich klar sein, dass diesem Anliegen nicht durch eine 'übernatürlich schöne' Darstellung ihrer Kultur (oder deren Fantasyäquivalent) gedient wird. Mein Lieblingsbeispiel ist da immer Tibet. Wie kein anderes Land der Welt ist das Schneeland zur Projektionsfläche für die Sehnsucht westlicher Intellektueller nach einem 'spirituellen', 'friedvollen', 'naturverbundenen' Leben geworden. Blockbuster wie Kundun oder Seven Years in Tibet haben alles getan, um dieses Bild in den Köpfen der Menschen in Europa und Amerika zu verankern.  Zum Verständnis der tibetischen Gesellschaft – der ‘alten’ wie der heutigen – hat all dieser Shangri-la - Kitsch ganz sicher nicht beigetragen. Wenn ich mich recht entsinne war es der nationalistische Aktivist und Schriftsteller Jamyang Norbu (The Mandala of Sherlock Holmes), der im Zusammenhang mit Hollywoods Tibetstreifen erklärte, dass es ihn einfach bloß wütend mache, wenn man seine Landsleute im Westen so darstelle, als müssten sie bloß den Mund aufmachen, um sofort irgendwelche 'buddhistischen Weisheiten' von sich zu geben. In politischer Hinsicht fühle ich mich ihm ganz und gar nicht verbunden, hier jedoch kann ich ihn voll und ganz verstehen.

Wenn die Fantasy die Rolle einer Vermittlerin zwischen den Kulturen spielen soll, dann müssen ihre Vertreter erkennen, dass Exotismus auch eine Form von Rassismus ist. Für Schneidewind scheint dies allerdings ein Buch mit sieben Siegeln zu sein.

* Romila Thapar: The Ramayana Syndrome. S. 72. Zit. nach: Paula Richman (Hg.): Many Ramayanas: The Diversity of a Narrative Tradition in South Asia. S. 4.
** Man denke nur an die Zerstörung der Babri Masjid (Moschee) in Ayodhya, dem ‘Geburtsort’ Ramas, im Jahre 1992 durch die Anhänger des rechtsextremen Vishwa Hindu Parishad (‘Weltrat der Hindus’).
*** Ein weiteres Beispiel hierfür ist Deepa Mehtas großartiger Film Fire, der der Regisseurin den mörderischen Hass der Hindu-Fundamentalisten einbrachte.

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