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Montag, 6. Februar 2012

Die Rückkehr der Revolution (II)

Ein Jahr Tahrir-Platz

In dieser Situation, als die Revolution einem neuen Höhepunkt entgegenzustreben scheint, kommt es zu einem der auf den ersten Blick bizarrsten Ereignisse dieses Jahres. Es bildet sich ein äußerst kurzlebiges Bündnis zwischen der radikalen Linken – Parteien wie den Revolutionären Sozialisten und der Sozialistischen Volksallianz – und der islamistischen Rechten, einschließlich der klerikal-faschistischen Gama'a al-Islamiyya. Unter der Bezeichnung 'Friday of the People's Will and United Front' rufen sie gemeinsam für den 29. Juli zu Protesten auf.
Die Islamisten verfügen, nicht zuletzt dank ihrer finanzstarken Hintermänner, über eine sehr viel besser funktionierende Organisation als die relativ kleinen linken Gruppierungen. Ihre Anhänger, die zu einem Gutteil aus ländlichen Regionen nach Kairo gekarrt worden sind, dominieren deshalb völlig die Demonstration, die zur ersten islamistisch geprägten Massenversammlung seit Beginn der Revolution wird. Der geplante 'Freitag der Einheit' verwanelt sich in einen "Friday of Reaction and Bigotry", wie sich Blogger Hossam el-Hamalawy – Mitglied der Revolutionären Sozialisten – ausdrückt. Selbstverständlich halten sich Muslimbrüder, Salafisten und Klerikalfaschisten nicht an ihr absurdes 'Versprechen', keine islamistischen Forderungen aufzustellen. Vielmehr schreien ihre Gefolgsleute lautstark nach der Einführung der Sh'aria.
Kein einigermaßen intelligenter Mensch hatte etwas anderes erwarten können, hatte doch z.B. die Salafi-Front eine Erklärung veröffentlicht, in der zu lesen war, die Sh'aria sei "the Basis of National Consensus". In dem selben Dokument hatte sie ihre Anerkennung "for the position of the Military Council for its protection of the revolution and its achievements" erklärt und alle Versuche verurteilt, "to destabilize or shake the Egyptian Military". Die Islamisten hatten die Demonstration bereits im Vorfeld 'Freitag der Stabilität' getauft und damit ihre Unterstützung für die Junta zum Ausdruck gebracht.
Die Linken fühlen sich verraten und ziehen sich zwei Tage später von den Sit-ins auf dem Tahrir-Platz zurück. Damit überlassen sie das Feld den islamisten und dem Militär, das kurz darauf gegen die zurückgebliebenen Demonstranten vorgeht. Erneut rollen Panzer durch die Straßen der Hauptstadt.

Das Fehlen einer revolutionären Führung führt zusammen mit den Repressalien und dem Beginn des Fastenmonats Ramadan zu einem zeitweiligen Abebben der Bewegung. Anfang September jedoch setzt erneut eine Streikwelle in der Textilindustrie, im Öffentlichen Dienst, im Energiesektor, unter Lehrern und Ärzten ein. Sie bildet den Hintergrund für die landesweiten Massendemonstrationen vom 9. September, in deren Verlauf u.a. die israelische Botschaft gestürmt wird. Drei Demonstranten werden von den Sicherheitskräften getötet. Die Islamisten beteiligen sich erneut nicht an den Protesten.
Angesichts der sich national wie international verschärfenden Wirtschaftskrise reagiert Ägyptens Elite zunehmend nervös auf den ungebrochenen Kampfeswillen der Arbeiterklasse. In ihrem Bemühen, die Streiks zu unterdrücken, erhält sie – für viele unerwartet – Unterstützung von einer Reihe der neu gegründeten 'Unabhängigen' Gewerkschaften, deren Führer sich aufgrund schwammigster Gesprächs- oder Kompromissangebote oft sehr schnell bereit erklären, angedrohte Streikaktionen abzublasen. Ein Kommentar im Egypt Independent beschreibt die Situation im Land Anfang Oktober dennoch so: "On the streets, the revolution is intensifying, with strikes and sit-ins spreading to factories and schools. Egypt’s social contradictions are boiling over, and institutional corruption, poor living standards and the collapse of social services are all being exposed and challenged." Zur gleichen Zeit sichern die liberalen und islamistischen Parteien der Junta in einem Abkommen vom 2. Oktober, das die Modalitäten der kommenden Wahlen festlegt, ihre Unterstützung zu. Al Ahram Online zufolge erklären sie "their full support for the Supreme Council of the Armed Forces and their appreciation of its role in protecting the revolution and its process of transferring power to the people." Der ehemalige CIA-Chef und neue US-Verteidigungsminister Leon Panetta stützt den Militärmachthabern gleichfalls den Rücken. Nach einem Treffen mit Tantawi preist er "the council's ability to bypass all obstacles during the transitional period" und erklärt: "I really do have full confidence in the process that the Egyptian military is overseeing. I think they're making good progress."
Kurz darauf kommt es zum bisher blutigsten Einschreiten des Militärs seit dem Sturz Mubaraks. In Reaktion auf die Verwüstung einer Kirche in Asswan durch die Salafisten marschieren Tausende von Kopten, denen sich auch muslimische Demonstranten anschließen, am 9. Oktober vom Kairoer Arbeiterviertel Shubra aus zum Maspiro-Gebäude des staatlichen Fernsehsenders. Sie fordern das Ende der religiösen Diskriminierung und den Sturz Tantawis und seiner Junta. Schon auf dem Marsch kommt es zu ersten Attacken, am Zielort verantstaltet das Militär dann ein regelrechtes Massaker. Militärpolizisten fallen mit Schlagstöcken über die Menschen her, gepanzerte Fahrzeuge rollen in die Menge, Tränengas liegt über der Straße, Soldaten beginnen mit scharfer Munition zu schießen. Eine Demonstrantin erzählt später gegenüber den Daily News Egypt: "People in army uniforms were shooting live rounds at us like we were flies, some people were able to run and others hid inside buildings". Ein anderer berichtet gegenüber Al Jazeera: "Security forces attacked us as if we were stray dogs. We were like cats fleeing, we were crushed. We were jumping into the Nile, this is real, a massacre. Why? Because we were demanding our rights". Siebenundzwanzig Demonstranten werden getötet. Während die Soldaten und Polizisten ihr blutiges Handwerk verrichten, erschallen weiterhin die Rufe: ‘Muslime und Christen vereint!’ und ‘Tod dem Feldmarschall!’. Derweil verbreiten die staatlichen Medien antichristliche Hetzpropaganda und behaupten, drei Soldaten seien von den Kopten umgebracht worden. Bewaffnete Islamisten-gruppen beginnen daraufhin, Jagd auf Christen zu machen.
Das Maspiro-Massaker ist in erster Linie nicht Ausdruck religiöser Konflikte, sondern Teil einer allgemeinen Attacke der ägyptischen Elite auf die arbeitende Bevölkerung. Schon in der nächsten Woche richtet sich die brutale Gewalt der Militärpolizei nicht gegen Kopten, sondern gegen Streikende der Mega Textiles Company in Shebin al-Kom und der Telecom Egypt. Eine Arbeiterin kommt dabei zu Tode. Außerdem beginnt die Junta verstärkt gegen die unabhängigen Medien im Land vorzugehen.

Der Monat November, für den die Wahlen geplant sind, beginnt mit Verlautbarungen der Generäle, die keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass sie nicht gewillt sind, ihre Macht durch ein kommendes Parlament ernsthaft beschneiden zu lassen. Je näher der Wahltermin rückt, desto aufgeheizter wird die Atmosphäre. Als das Militär am 19. des Monats gewaltsam gegen eine kleine Gruppe von Demonstranten auf dem Tahrir-Platz vorgeht, eskaliert die Situation sehr rasch. Tausende strömen am nächsten Tag auf dem Platz zusammen, erneut greifen die Sicherheitskräfte an. Die Menschen ziehen sich zurück, nur um in verstärkter Zahl wiederzukommen und den Tahrir zurückzuerobern. Kairo wird zum Schauplatz heftiger Straßenkämpfe, wie es sie seit der berühmten ‘Schlacht des Kamels’ vom 2. Februar nicht mehr gegeben hat. Im Verlauf weniger Tage schwillt die Menge der Demonstranten erneut auf Hunderttausende an, die nicht nur in Kairo, sondern überall in Ägypten nach dem Ende der Militärdiktatur rufen. Wie bei praktisch allen Massenaktionen der Revolution marschieren Muslime und Kopten Seite an Seite. Die Junta antwortet mit exzessiver Gewalt (es gibt mehrere Dutzend Todesopfer und Tausende Verletzte), wilden Drohungen und dreisten Lügen. Feldmarschall Tantawi behauptet während einer Fernsehansprache am 22. November: "The army has not shot one bullet at an Egyptian citizen." Hunderttausende antworten ihm mit dem Ruf: ‘Irhal! Irhal! (‘Hau ab! Hau ab!’).
Wie zu Beginn der Revolution haben die Massen auch diesmal spontan und unabhängig von allen Parteien gehandelt. Erst am Montag dem 21. setzen sich die bürgerlichen Oppositionsgruppen zusammen und koordinieren ihre Reaktion auf die Ereignisse des Wochendes. Sie ‘entschuldigen’ sich für ihr Zuspätkommen, greifen jedoch keineswegs die populäre Forderung nach einem sofortigen Ende der Militärherrschaft auf, sondern propagieren stattdessen die Bildung einer ‘Regierung der nationalen Rettung’. Mohammed ElBaradei ruft wie stets zum ‘Dialog’ auf (eine Woche später setzen er und Amr Mussa sich tatsächlich zu einem Plausch mit dem Feldmarschall zusammen). Wieder ist es die Muslimbruderschaft, die ihre Feindschaft gegenüber der Revolution am offensten zum Ausdruck bringt. Die Brüder rechnen sich gute Chancen auf einen Sieg bei den Wahlen aus. Fortgesetzte Unruhen könnten, ganz gleich wie deren Ergebnis aussehen sollte, ihren Griff nach den Fleischtöpfen der politischen Macht gefährden. Einer ihrer Führer Mohammed Beltagy erklärt, die Demonstranten sollten "not be involved in an escalation that could lead to a case of chaos and damage" oder "give a chance to those who seek to justify delaying a complete transition of power to an elected civilian power with full authority (parliament, government and president) so that we can continue on the path of our glorious revolution." Als einzige Partei schließen sie sich nicht dem Aufruf zu weiteren Demonstrationen an. Noch am selben Abend wird Beltagy vom Tahrir-Platz gejagt.
Am 24. November setzt die Junta eine neue Regierung mit Kamal El-Ghanzouri als Ministerpräsident ein, der diesen Posten bereits von 1996 bis 1999 innegehabt hatte. Der Demonstrant Mohammed el-Famouyi bringt die Reaktion der Massen auf den Punkt, als er gegenüber Associated Press erklärt: "Not only was he prime minister under Mubarak, but also part of the old regime for a total of 18 years. Why did we have a revolution then?" US-Präsident Obama hingegen sagt der neuen Regierung umgehend seine Unterstützung zu.

Wenn die revolutionäre Energie dieser Woche dennoch wie im Nichts zu verpuffen scheint, liegt die Hauptverantwortung dafür bei den politischen Organisationen der Linken. Einige der Jugend- und Protestgruppen auf dem Tahrir-Platz greifen die von den bürgerlichen Parteien lancierte Parole von einer ‘Regierung der nationalen Rettung’ auf und legen auch gleich eine Kabinettsliste vor. Ministerpräsident sollte ElBaradei werden, dem als Stellvertreter der Führer der nasseristischen Karama-Partei Hamdeen Sabahi und der ehemalige Muslimbruder Abdel-Moneim Aboul-Futtouh zur Seite stehen sollten. Für Ministerposten werden der Wirtschaftsjournalist Ahmed El-Naggar und der Richter Ashraf Baroudy vorgeschlagen. Wie eine solche Regierung die Wünsche und Forderungen der Massen erfüllen könnte, muss schleierhaft bleiben. Die ‘radikale’ Linke zeigt sich in einem nicht viel besseren Licht. Zusammen mit siebzehn anderen Gruppen fordern die Revolutionären Sozialisten "a total relinquishing of political power on the part of the Military Council" und "the transfer of power to a National Revolutionary Salvation Government with absolute power to direct the transitional phase – This Government will be committed to achieving Egyptians’ aspirations in the areas of security and the economy, and setting a clear time table for the transfer of power to an elected parliament and president." Das klingt zwar radikaler als die Verlautbarungen von ElBaradei und Konsorten, ist jedoch keineswegs als Auruf zum Sturz des Systems gemeint. Aus dem Dokument geht nicht hervor, wer die neue Regierung einsetzen und wie diese zusammengesetzt sein soll. Ganz offensichtlicht geht jedoch nicht darum, dass die Massen eigene, demokratisch konstituierte Machtorgane schaffen sollen, aus denen eine revolutionäre hervorgehen würde. Selbst diese angeblichen Sozialisten beschränken die Rolle des Volkes darauf, 'Druck auszuüben'. In einem Interview mit Al Jazeera bringt Hossam el-Hamalawy zwar die Idee eines Generalstreiks ins Spiel, weist jedoch ausdrücklich die Perspektive einer 'zweiten Revolution' zurück: "It's still the first revolution [...] we're just trying to finish up the job". Implizit gibt er damit zu verstehen, dass einige demokratische und soziale Reformen das Maximum seien, was sich das ägyptische Volk erkämpfen könne.

Und so endet der November nicht mit dem Sturz der SCAF-Junta, sondern mit der Farce der Parlamentswahlen. Trotz massiver Propaganda seitens der 'offiziellen' Opposition und Drohungen der Militärs, die Wahlboykott als Verbrechen darstellen, liegt die Wahlbeteiligung gerade einmal bei 54%. Die Islamisten gehen als klare Sieger aus den Wahlen hervor. Die Partei der Muslimbruderschaft (Freiheit und Gerechtigkeit; FJP) erhält 37,6% der abgegebenen Stimmen, was 235 der insgesamt 498 Sitzen entspricht, die salafistische Al-Nour 27,8% (=127 Sitze). Man muss schon sehr naiv sein, um glauben zu können, die sei der Beginn eines demokratischen Ägypten. Die Brüder haben kein Interesse an einem offenen Konflikt mit den herrschenden Militärs. Kaum ist die Nachricht von ihrem Wahlsieg an die Öffentlichkeit gedrungen, da erklärt ihr Führer Mohammed Badie: "We must live in harmony, not only with the military council, but with all of Egypt's factions, or else the conclusion is zero [...] There will be reconciliation between the three powers: the parliament, the government and the military ruling council." Die Zeitung Al-Tahrir zitiert den stellvertretenden Vorsitzenden der FJP Essam al-Erian gar mit den Worten: "The military has the right to enjoy a special position in the upcoming constitution, more than in previous ones". Die Bildung einer zivilen Regierung nach den Präsidentschaftswahlen "should not result in the disappearance of the SCAF from the political scene". Ebenso schnell sind die Islamisten dabei, den USA und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) ihre Vertrauenswürdigkeit und Loyalität zu versichern.

Die Massenproteste zum ersten Jahrestag der Revolution auf der einen, Berichte über ein hinter verschlossenen Türen ausgehandeltes Abkommen zwischen den Muslimbrüdern und der Junta auf der anderen Seite, verdeutlichen, dass die Wahlen nichts am grundsätzlichen Frontverlauf der Revolution geändert haben. Immer noch stehen sich die Massen des ägyptischen Volkes und die herrschende Elite – Militärs, Islamisten, Liberale – als unversöhnliche Feinde gegenüber.

Fortsetzung folgt ...

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