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Donnerstag, 3. Oktober 2024

Valerie und ihre Woche der Wunder (2)

Im ersten Teil dieses Beitrags war es hauptsächlich darum gegangen, in Abgrenzung zu der verbreiteten verklärten Vorstellung der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-1938) als einer blühenden Demokratie ein etwas kritischeres Bild von der sozialen und politischen Realität zu zeichnen, in deren Kontext sich die Avantgarde der 20er und 30er Jahre entwickelte, zu deren führenden Vertretern Vítězslav Nezval, der Autor von  Valerie a týden divů, gehörte. Nun werden wir uns den künstlerischen Strömungen selbst zuwenden.  

(2)

Ohne die relativ liberale Atmosphäre von Masaryks Republik hätte sich die tschechoslowakische Avantgarde wohl nicht (oder nicht so) entwickeln können. Aber sie war ganz sicher nicht einfach deren kulturelle Begleitmusik, affirmativer Ausdruck ihres sozialen Wesens. Ich glaube, es war der trotzkistische Filmkritiker David Walsh, der in Bezug auf die kulturelle Blüte der Weimarer Republik einmal von einem "Ausdruck des Versprechens einer nicht stattgefundenen Revolution" gesprochen hat. Was ich recht treffend fand. Und was sich mit der nötigen Akzentverschiebung meiner Meinung nach auch auf die Situation in der Tschechoslowakei übertragen lässt.

Womit ich selbstverständlich nicht gesagt haben will, dass alle bedeutenden Künstler*innen der Zeit bewusste politische Revolutionäre gewesen wären. Karel Čapek etwa war ein persönlicher Freund Masaryks, und der Präsident war regelmäßiger Besucher der Pátečníci ("Freitagsrunde"), bei der sich eine ausgewählte Gruppe von Intellektuellen in der Wohnung des Schriftstellers versammelte. Als Publizist wird Čapek manchmal sogar zur sog. "Hrad" ("Burg") gezählt. Dennoch wird man ein Werk wie den famosen Krieg mit den Molchen schwerlich als bürgerlich-affirmativ bezeichnen können. Und wenn er sich 1924 gedrängt fühlte, einen Artikel mit dem Titel Warum ich kein Kommunist bin zu veröffentlichen, dann wohl auch, weil in den kulturellen Kreisen, zu denen er gehörte, starke Sympathien für den Kommunismus existierten.
 
Das furchtbare Gemetzel des Ersten Weltkriegs hatte die tiefe Unmenschlichkeit und innere Fäulnis der herrschenden Ordnung auf denkbar drastische Weise bloßgelegt. Wie es Rosa Luxemburg 1916 am Beginn ihrer "Junius"-Broschüre ausgedrückt hatte:
Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit –, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.
Die Welt, die aus diesem Blutbad hervorgegangen war, konnte unmöglich eine bloße Wiederbelebung der Vorkriegsgesellschaft sein. Und das nicht nur wegen des Zusammenbruchs der K.u.K. - Monarchie. Rückblickend schrieb Karel Teige 1928 in seinem Manifest des Poetismus:
Die ersten Jahre nach dem Weltkrieg, als wir in einer von Grund auf veränderten, von den schwarzen Jahren des Blutvergießens entsetzten, schmerzlich zerrütteten Welt lebten, in den Tagen ständiger Tragödien, in den Tagen politischer und sozialer Erschütterungen, in der zerfleischenden Unsicherheit der Zukunft, in der elektro-dramatischen Spannung der globalen Atmosphäre, in der die Alarmschreie der wirtschaftlichen und kulturellen Krisen und der sozialen Erdbeben, die Drohungen der Revolutionen vor den Toren der Welt tönten, -- diese ersten Jahre nach dem Krieg stellten uns vor ganz neue Verhältnisse und Wirklichkeiten, mitten in eine Welt, die der Welt, in der die vorige Generation gelebt, gearbeitet hatte und alt geworden war, überhaupt nicht ähnlich sah. (1)
Für viele Künstler*innen gerade der jungen Generation war die bürgerliche Republik keine adäquate Antwort auf diese Herausforderungen. Denn repräsentierte und verteidigte sie nicht dasselbe Gesellschaftssystem, das Europa für vier Jahre in ein blutiges Schlachtfeld verwandelt hatte? Zwei Tage nach der Unabhängigkeitserklärung vom 18. Oktober 1918 schrieb der siebzehnjährige Teige in sein Tagebuch:
After all not even the form of the state has been decided yet -- it’s not yet clear, though it almost is, that we’ll have a republic. Obviously I don’t want anything to do with any sort of monarchy. I would betray and undermine that just as I did the previous, hated Austria. But any sort of non-socialist republic is also unacceptable. A republic without socialism is truly no better than despotism. (2)
In ihren Augen brauchte es eine sehr viel fundamentalere Umwälzung. Nicht mehr und nicht weniger als die Errichtung einer neuen Welt. Ähnlich wie die jungen Radikalen auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie blickten viele von ihnen voller Hoffnung und Begeisterung auf das revolutionäre Russland, schien man dort doch dabei zu sein, den Grundstein für eine solche zu legen.
Licht in diesen zerrrütteten Tagen ist die Morgendämmerung der sozialen Revolution. Lenin. Sowjetrussland. Die Dritte Internationale. Sozialismus, das Versprechen neuer Lebensformen. Der rohe Geruch des Umbruchs und der Gärung eröffnet dem schöpferischen Geist neue Perspektiven. (3)
Der Ruf nach einer neuen, "proletarischen" Kultur wurde für viele zur Losung der Stunde. Ihr vielleicht bedeutendster früher Verfechter war der Dichter, Übersetzer und Kritiker Stanislav Kostka Neumann. Ehemals Anarchist und als Herausgeber der Magazine Červen und Kmen ein wichtiger Wegbereiter des Modernismus in der Tschechopslowakei (4), forderte er nun eine parteiliche und leicht zugängliche Kunst im Dienste der Revolution. Im August 1921 wurde unter seiner Mitwirkung eine tschechoslowakische Version des Proletkult gegründet. Wie eng sich diese an ihrem sowjetischen Vorbild orientierte, entzieht sich meiner Kenntnis. (5)
Marta Filipová schreibt über die Ziele der Organisation, die nur einige Jahre Bestand haben sollte:

Neumann’s articles “Proletkult,” published in Červen in September, and “Proletářská kultura” (Proletarian Culture) outlined its main aims. These were: the education of culturally neglected people, and the removal of cultural divides between different classes. The means by which this should be achieved were identifed by Neumann and the Proletkult committee as a foundation of various workers clubs, schools, and universities to engage workers in science, physical education, art, and general education. (6)

Wie groß die Rolle war, die der Begriff der "proletarischen Kultur" auch über kommunistische Kreise hinaus in den Debatten der Zeit spielte, zeigt sich darin, dass Karel Čapek ihm 1925 einen ausführlichen Artikel widmete. Freilich erteilte er darin nicht nur Neumanns Bemühungen, sondern implizit auch denen der linken Avantgarde eine Absage.
 
Anfangs positionierte sich auch die 1920 in Prag gegründete Künstlergruppe Devětsil ("Pestwurz") unter dem Banner der "proletarischen Kultur", vielleicht am deutlichsten repräsentiert von dem jungen Dichter Jiří Wolker. Doch schon sehr bald entwickelte Karel Teige, von Beginn an der führende Theoretiker des Zirkels, eine sehr eigene Interpretation dieses Begriffs, was dann in kürzester Zeit zum völligen Bruch mit ihm führen und Devětsil zum Zentrum der tschechoslowakischen Avantgarde machen sollte. Sein Ende 1922 im zweiten Almanach (Revoluční sborník) der Gruppe veröffentlicher Essay Nové umění proletářské (Neue proletarische Kunst) dokumentiert die Übergangsphase sehr schön.
 
Revoluční sborník Devětsil

Ganz wie S. K. Neumann beruft auch Teige sich auf Anatoli Lunatscharskis Die kulturellen Aufgaben der Arbeiterklasse. Doch die Schrift des bolschewistischen Volkskommissars für Kultur ist sehr allgemein gehalten und gibt kaum Anhaltspunkte dafür, wie die "proletarische" Kunst in Form und Inhalt ausschauen solle. Neumann sah in ihr beinah ausschließlich eine Form der Agitation. Alle ästhetischen Belange hätten dabei gegenüber der Nützlichkeit im revolutionären Kampf zurückzustehen: 
A poem is not a slogan, but if our proletarian poems cannot be as simple, clear, and effective as our slogans, then to the devil with all poetry, to the devil with all art, and let us become good orators for the proletariat rather than good poets for the petite bourgeosie (7)
Teige leugnet nicht die Bedeutung einer solchen Agit-Kunst. Aber er räumt ihr nur einen sehr untergeordneten Platz in seinem Konzept der "proletarischen Kultur" ein.  Sie mit den Karrikaturen und Satiren aus der Ära der Französischen Revolution vergleichend, sieht er in ihr den Ausdruck der unmittelbaren Umbruchszeit. Als solche besitzt sie ihre Berechtigung und er überlässt sie bereitwillig dem Proletkult. Nicht ohne nebenbei ein paar abfällige Bemerkungen über "didaktische, lesebuchhafte kommunistische Sprüche" zu machen, "die in ihrer Formimpotenz und Naivität an ähnliche tendenziöse und dilettantische patriotische Geschichten aus den Zeiten der nationalen Wiedergeburt erinnern." Doch dann erklärt er:
Wir sagen, dass diese Tendenz nicht das wesentliche Kennzeichen des Ganzen der proletarischen Kunst ist, sondern nur ein charakteristischer Zug eines einzigen Zweigs davon.
Teige stellt der "proletarischen Kultur" eine sehr viel größere Aufgabe. Mit ihr sollte es zu einer harmonischen Vereinigung von Kunst und gesellschaftlichem Leben kommen. Die Entwicklung des Kapitalismus habe das zwischen den beiden bestehende Band zerrissen. Die Atomisierung der Gesellschaft und der permanente Konkurrenzkampf, die ihn auszeichnen, machen die Entstehung eines kollektiven Ideals unmöglich, an dem die Kunst sich orientieren könnte. Dies habe mehrere negative Auswirkungen. Zum einen könne sich deshalb kein allumfassender künstlerischer Stil herausbilden, wie ihn frühere Epochen (die Gotik etwa) gekannt hätten:
Die wirtschaftlichen Bedingungen des 19. Jahrhunderts führen die Gesellschaft zum Individualismus, zu jener kriminellen ideologischen Anarchie des Lebens, die den Stil unmöglich macht, das ursprüngliche kollektive Pathos der Empire-zeit auflöst und mit der Stildegeneration die unbarmherzige Pest des historisierenden Eklektizismus in der Architektur verbreitet, die aus den Straßen und Städten ein fertiges Museum abschreckender Beispiele macht.
Zum anderen führe dies zu einer immer stärkeren Isolation der Künstler*innen, die sich aus völlig nachvollziehbaren Gründen gedrängt fühlten, sich selbst und ihr Schaffen im Gegensatz zu der sie umgebenden Gesellschaft zu positionieren. "Denn die bourgeoise Gesellschaft, unästhetisch in ihrem Wesen, gab der Kunst keine positiven Impulse". Alle bisherigen Versuche der Kunst, sich aus dieser Lage zu befreien, hätten in Sackgassen geendet und das Problem eher noch verschärft. Sei es die Hinwendung zum Historismus oder einer romantisch verklärten Vergangenheit. Sei es das formale Experimentieren der sich immer rascher ablösenden Avantgarde-Strömungen des beginnenden 20. Jahrhunderts (Expressionismus, Kubismus, Futurismus). Ihren vielleicht extremsten Ausdruck habe das Dilemma im Symbolismus gefunden, als die Kunst sich selbst zum Produkt metaphysischer, "göttlicher" Kräfte erklärte.
Die Kunst hat vergessen, dass sie für den Zuschauer, für die Welt, für den Menschen auf der Welt ist: weil sie aus dem Leben ausgeschieden wurde, außerhalb der Welt stand, glaubte sie über dem Leben und über der Welt zu stehen
Wenn Teige von der "Tendenziosität" als einem der Hauptmerkmale der "proletarischen" Kunst spricht, meint er damit weniger eine politische Ausrichtung als vielmehr die Überwindung dieser Isolation. Die Kunst soll nicht länger abseits der Welt in eingebildeter Selbstgenügsamkeit verharren, sondern erneut zum Ausdruck eines kollektiven Lebensgefühls werden. Dieses Ziel kann sie freilich nicht aus eigener Kraft realisieren. So wie sie auch nicht aus eigenem Verschulden in ihre aktuelle Lage geraten ist. Erst eine revolutionäre Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird die Grundlage schaffen, auf der sich eine solche neue Kunst in voller Kraft entfalten und schließlich zu einem kollektiven "Stil"; einer "sozialistischen Gotik", heranwachsen kann. Für den Moment kann es nur darum gehen, all jene Tendenzen zu unterstützen, deren Entwicklung zumindest in diese Richtung weist.
 
Ähnlich allumfassende Visionen waren auch dem sowjetischen Proletkult nicht fremd. Schon gar nicht seinem eigentlichen spiritus rector Alexander Bogdanow, dessen philosophische und kulturtheoretische Schriften in der Tschechoslowakei jedoch anscheinend wenig oder gar nicht rezipiert wurden. Was Teiges Sicht allerdings deutlich von vielen vergleichbaren Konzepten unterscheidet, ist die Art, in der er in diesem Kontext an die existierende Populärkultur herangeht. Wenn die neue Kunst im besten Sinne "volkstümlich" sein soll, scheint es angeraten, sich einmal umzuschauen, wovon das Proletariat sich denn tatsächlich angesprochen fühlt, worin seine wirklichen Wünsche und Bedürfnisse bestehen.
Die Erfordernisse, mit denen heute der proletarische Leser und Zuschauer an die Kunst herantreten, liegen klar zutage. Es ist offenbar nicht nur Sehnsucht nach kämpferischen Fanfaren, sondern auch der Wunsch nach einer verständlichen und fesselnden Kunst. Indianer-, Buffalo-Bill-, Nick Carter-, sentimentale Romane, im Kino ein amerikanisches Serial oder eine groteske Chaplinade, die Komödie des Liebhabertheaters, die Jongleure im Varieté, wandernde Sänger, Kunstreiterinnen und Zirkusclowns, das Volksfest, der sonntägliche Fußballkampf, das ist fast alles, womit das Proletariat in seiner überwältigenden Mehrheit kulturell lebt.
Was andere Kritiker als "Schund" oder "Afterkunst" abtaten, ist für Teige wichtiges Anschauungsmaterial, aus dem die neue Kunst so manche Inspiration beziehen könnte. Er leugnet zwar nicht, dass es sich bei den "Dreigroschenheften" oft um "literarische Fabrikarbeit" handelt, aber das sei noch lange kein Grund, "moralisierend" und naserümpfend auf sie herabzuschauen. Denn es gäbe gute Gründe, warum das proletarische Publikum sie in vielen Fällen wohlmeinenden Sozialromanen oder "politisch korrekter" Parteiliteratur vorziehe. Sie sprechen "unsere glühende Sehnsucht nach einem tätigen, vollen, aktiven Leben" an. Hier gelte es anzuknüpfen:
Nicht Erzählungen über das Leben in Not, nicht Bilder von Schächten und Werkstätten, sondern von tropischen, fernen Landschaften. Gedichte eines freien und aktiven Lebens, die dem Arbeiter nicht niederschmetternde Wirklichkeiten näherbringen, sondern Wirklichkeiten und Visionen, die begeistern und stärken! Der Schreiberling der sittenschildernden kommunistischen Kalendergeschichten kann keinen Erfolg erwarten und erregt niemanden: nur die pathetische Geste des Redners, das Ereignis auf der Kinoleinwand, eine Begebenheit aus der unbekannten großartigen Welt, die dereinst eines unserer Heimatländer sein wird, kann das Herz des Proletariers erobern.    
Für Teige ist das kein "Eskapismus" im negativen Sinn, sondern Ausdruck des Verlangens nach einem freien und wahrhaft menschlichen Dasein. Natürlich setzt er die populäre Unterhaltungsliteratur nicht einfach mit "proletarischer" Kunst gleich. Aber er entdeckt in ihr Elemente, die es aufzugreifen und weiterzuentwickeln gelte. Und er sieht darin eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe:
[E]in Gedicht über die Spiegelung der Mondsichel im sehnsüchtigen See oder über das Brüllen des Industrieviertels und den stolzen Flug eines Zweideckers kann man leichter schreiben als einen guten Abenteuerroman, der mit allen schönen Eigenschaften der proskribierten Sensationsliteratur und der anerkannten Literatur auf kulturellem Niveau ausgerüstet wäre.  
[D]eshalb kann die Lehre, die die junge Literatur aus dem Buffalo-Bill-Roman und aus dem Kino davonträgt, ergiebiger und wirksamer sein als jene, die sie sich bei Goethe oder Vrchlický holt. [...] Denn hier sind sie dem Menschen und dem Leben näher. (8)
Im gleichfalls im zweiten Almanach abgedruckten Aufsatz Umění dnes a zítra (Die Kunst von heute und morgen) zählt Teige die Detektiv- und Abenteuergeschichten offenbar zusammen mit so unterschiedlichen Phänomenen des modernen städtischen Lebens wie Kino, Dance-hall, Jazz und Reklameschildern zu den Ausdrucksformen einer "neuen Schönheit" -- sie sind ihm allesamt "faces of modern beauty, this many-headed hydra of modernity and revolution" (9) Von hier führt ein direkter Weg zum späteren Poetismus, wie wir noch sehen werden.
  
In den ersten Jahren seines dichterischen Schaffens hatte Vítězslav Nezval abseits von irgendwelchen Künstlergruppen gestanden. Das galt auch für den Devětsil während seiner "Proletkult-Phase", trotz einer persönlichen Freundschaft mit Jiří Wolker. Ob sich daraus auch eine Abneigung Nezvals gegen die Agit-Kunst ableiten lässt, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Allerdings schreibt er in seinen Memoiren:
Die offizielle junge Literatur der zwanziger Jahre, die sich schlecht oder recht an Stanislav Kostka Neumann anschloss, ließ mich gleichgültig. Mir missfiel der flatternde, halb freie, halb willkürlich gereimte und fast immer rhetorische Vers. (10)
Peter Zusi schreibt in The Integrity of the Avant-Garde: "When Nezval first arrived in Prague he had strong reservations about Devětsil and what he assumed was their dogmatic Marxism and dour concern for the plight of the workers." (11) Eigenen Angaben zufolge war der Dichter zu diesem Zeitpunkt noch glühender Verehrer der anarchistischen Lehren Prjotr Kropotkins.
Es war ein glücklicher Zufall, dass die erste Veranstaltung des Devětsil, zu der er sich im April 1922 von einem Bekannten mitschleppen ließ, genau mit der ästhetischen Wende der Gruppe zusammenfiel:  
Ich weiß nicht mehr, wer mich zu der Veranstaltung mitnahm, vielleicht Zdeněk Kalista, sicher aber jemand, dem daran lag, dass mehr Feinde als Freunde des Devětsil an der Veranstaltung teilnahmen, und der mich schon im voraus bearbeitete, um mich dagegen einzunehmen [...] Wie war ich überrascht, als anstelle reformistischer Phrasen über die Arbeiterschaft, über Schwielen, anstelle von Krokodilstränen über die Not der Armen, der Arbeiter in einer neuen Schönheit erstrahlte, in der Schönheit eines Menschen, dem es bestimmt ist zu siegen und eine neue, lichte Welt aufzubauen. Anstelle jämmerlichen Klagens über die Leiden der Armen erstrahlte vor meinen Augen der schöne und ausgeglichene Träger der Klasse, der sich in der Welt noch nicht von der Schönheit der kindlichen Vorstellungen verabschiedet hat, in der Welt der Volksvergnügungen. Denn auch ich liebte die volkstümliche Exotik der Zirkusse und Lunaparks, denn auch ich liebte Chaplin mehr als die Ibsenschen Dramen, denn auch ich spürte, dass eine Theaterkunst von sozial düsterer Art, wie sie manchen Redakteuren der Zeitung Právo lidu behagte, eine Totengräberkunst war, und ich spürte, dass die neue Kunst frohgemut voranschreiten, dass sie explodieren würde [...] (12)

Wenig später kam es zu einem ersten längeren Treffen Nezvals mit Teige. Nachdem er ihm sein Gedicht Der wundersame Zauberer vorgetragen hatte, war Teige sofort Feuer und Flamme, dasselbe in den zweiten Almanach aufzunehmen. Es dauerte nicht lange, und Nezval war nicht bloß festes Mitglied des Devětsil, sondern spielte zusammen mit Teige auch eine zentrale Rolle bei der weiteren Ausarbeitung der ästhetischen Positionen der Gruppe. Doch dazu später mehr.

In jüngerer Vergangenheit ist verschiedentlich versucht worden, die Avantgarden der 20er und 30er Jahre gerade in Osteuropa einer nationalistischen Ideologie und Mythenbildung dienstbar zu machen. (13) Um so wichtiger scheint es mir, deren internationalistischen Charakter zu betonen.
Für alle Versuche, eine "nationale Volkskultur" zu schaffen, hatte Teige nichts als Spott und Verachtung übrig. Wie er 1921 voll beißender Ironie schrieb:

Folk art [lidové umění]? Ah, yes, our glorious national costumes, which we say the whole world should envy! The regional costumes of Moravia and Slovácko, reveling in reds and a multitude of colors, the essential yield of the artistic labors of the Czechoslovak people! What a feast for the eyes to see national and Slavic flags unfurled and garnishing the facades of tall buildings, otherwise gray and sullen. And at every festive opportunity the wide avenues overflow with gallant lads and fine lasses, for it is customary to display the national consciousness and Hussite nature of our tribe by donning slovácký national dress! (14)

Zusammen mit Jaroslaw Seifert hatte Teige im Sommer 1922 Paris besucht und dabei die Bekanntschaft von Künstlern wie Le Corbusier, Amédée Ozenfant, Fernand Léger, Yvan Goll, Constantin Brâncuși und Man Ray gemacht. Diese Begegnungen stärkten ohne Zweifel seine Überzeugung, Teil einer internationalen Bewegung zu sein. Der zweite Almanach des Devětsil enthielt u.a. auch einen Auszug aus Ilja Ehrenburgs Und sie bewegt sich doch! Von dem russischen Schriftsteller übernahm Teige nicht nur den Slogan "Die neue Kunst hört auf, Kunst zu sein", er teilte auch dessen kosmopolitische Sichtweise:

Die neue Kunst überwindet unwahrscheinliche Hindernisse, sie ist allenthalben von den schäumenden Krämern Europas umgeben, gleichwohl fließt sie in einen internationalen Strom zusammen (...) 
Es kommt die neue Kunst -- sie organisiert das Leben. 
Es gibt sie in allen Ländern. Sie ist international.
Die brüderliche Verbindung zwischen diesen  Wegbereitern ist nicht zufällig. Es handelt sich hier um keinen strategischen Kunstgriff. All diese Versuche beruhen auf einer grundlegenden Überzeugung: der lange Tag hat ein Ende, die Menschheit ist zu einer neuen Kultur herangereift, zu einer neuen Organisation. Die Völker wachsen über die Grenzen hinaus, die sie bisher getrennt haben. Der Akademismus mag französischer oder deutscher Couleur sein. Die junge Kunst ist tot, wenn sie an den Staatsgrenzen halt macht. (15)
Der russische Autor war später auch der (in Nezvals Worten) "erste weltbekannte Schriftsteller, der Prag besuchte und der zu uns gehörte". Der Ehrenburg, der bei diesem Anlass mit den Devětsil-Avantgardisten im Kaffeehaus Julis zusammenhockte, war freilich noch der Ehrenburg des prachtvoll grotesken und respektlosen "Schelmenromans" Julio Jurenito (16), dessen damalige Sichtweise Nezval so beschreibt: "Er verteidigte die Weltkultur, insbesondere die moderne, in ihrer Gesamtheit, ohne Rücksicht auf seine eigenen Anschauungen." (17) Dass derselbe Ehrenburg ein paar Jahre später zu einem giftigen Verleumder des Surrealismus und servilen Speichellecker Stalins werden sollte, gehört zu den bitteren Ironien, die einem allenthalben bei der Beschäftigung mit dieser Ära begegnen.
 

Stärker noch als im zweiten Almanach fand der Internationalismus des Devětsil seinen Ausdruck im wenig später veröffentlichten Sammelband Život ("Leben"). Schon das Titelblatt war zweisprachig (tschechisch / französisch) gestaltet und die Liste der "Mitwirkenden" umfasste u.a. Alexander Archipenko, Tsuguharu Foujita, Man Ray, Modigliani, Ossip Zadkine, Frank Llloyd Wright, Charlie Chaplin, Douglas Fairbanks und Mary Pickford. Was in den meisten Fällen freilich nur bedeutete, dass Fotos ihrer Werke (oder ihrer selbst) in dem Band abgedruckt waren. Mit eigenen Essays waren u.a. Le Corbusier, Ozenfant und erneut Ilja Ehrenburg vertreten. Aus Nezvals Feder stammte das Theaterstück Depeše na kolečkách (Depesche auf Rädern), das er Karel Teige widmete -- "Prag II, Černá 12a, Europa". Europa, nicht Tschechoslowakei! (18) In Design, Layout und Typographie war der Band, der sich als "Feier der neuen Schönheit" verstand, ganz einer avantgardistischen Ästhetik verpflichtet.
 
In mindestens einem Punkt divergierte Teige allerdings sehr deutlich von Leuten wie Ehrenburg. In Neue proletarische Kunst kritisierte er heftig den "zerstörerischen, verblendeten Irrsinn" und die "technische Megalomanie" des (italienischen) Futurismus, in dem er die künstlerische Widerspiegelung der imperialistischen Epoche sah:
Die Kunst, hingerissen von der uneingeschränkten Bewunderung für die äußere Erscheinung der Welt, sang in Bildern, die von der kommerziellen und mechanischen Zivilisation des Allerweltsamerikanismus bereitgestellt wurden, das Lob der Gegenwart, d.h. bewusst oder unbewusst, das Lob des heranreifenden Kapitalismus und Kolonialismus, die den Krieg vorbereiteten. (19)
Der Weltkrieg habe dem auf blutige Weise den Boden entzogen. 
Doch nun gab es auch in der sowjetischen Avantgarde durchaus Strömungen, die einer reichlich kritiklosen Verherrlichung der "Maschine" frönten und zu einem gewissen Gigantismus neigten. Folgerichtig begegnete Teige auch diesen mit gehöriger Skepsis. In Život fand das seinen Ausdruck u.a. in folgendem Vergleich zwischen dem Eiffelturm und Tatlins berühmtem Entwurf eines Monuments für die Dritte Internationale:
The Eiffel Tower, an excellent constructive work, was built for the World Exhibition; it is conceived as a lookout-tower and amusement enterprise of its own type, and certainly it faithfully answers to its task. As a whole it is beautiful, if we overlook the bad taste of the time in some of its details. But why does Tatlin construct a memorial to the Third International with the most varied official halls in the form of a tower? It is a blind imitation and craze for “the machine age,” which thoughtlessly transplants certain accomplishments into a setting in which they have neither place nor purpose. (20)
Das mag verwundern, sollte Karel Teige doch schon bald zu einem der prominentesten (manche würden wohl auch sagen: dogmatischsten) Vertreter des europäischen Konstruktivismus werden. Dennoch ist der Bruch hier nicht gar so groß. Denn auch wenn sich im Zuge dessen seine Einstellung zum "Maschinenzeitalter" natürlich etwas verändern würde, verfiel er dabei nie in eine blinde Anbetung. Was sich vor allem in seinem Bemühen zeigte, mit Poetismus und Konstruktivismus zwei extreme (und auf den ersten Blick gegensätzliche) Pole der Avantgarde dialektisch zu vereinigen.         
 
Doch darauf werden wir im nächsten Teil zurückkommen, in dem wir dann (endlich) nicht nur den Poetismus selbst etwas genauer unter die Lupe nehmen, sondern auch die weitere Entwicklung hin zum Surrealismus nachskizzieren wollen.     
 


(1) Karel Teige: Manifest des Poetismus. In: Ders.: Liquidierung der >Kunst<. Analysen, Manifeste. S. 71.

(2) Zit. nach: Peter Zusi: The Integrity of the Avant-Garde. Karel Teige and the Biography of an Ambition. S. 16.

(3) Karel Teige: Manifest des Poetismus. In: Ders.: Liquidierung der >Kunst<. Analysen, Manifeste. S. 71.

(4) Er veröffentlichte u.a. 1919 Karel Čapeks Übersetzung von Guillaume Apollinaires Zone, die einen tiefgreifenden Einfluss auf die Dichter der Avantgarde hatte, sowie 1921 mit  Milena Jesenskás Übersetzung von Der Heizer die erste tschechische Übertragung einer Kafka-Geschichte.

(5) Im Anschluss an den zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale im August 1920 war in Moskau ein internationales Büro des Proletkult unter Leitung von Anatoli Lunatscharski gegründet worden. Ob dies den Anstoß zur tschechoslowakischen Gründung gegeben hat, weiß ich leider nicht. Für eine ausführlichere Behandlung der sowjetischen Proletkult-Bewegung vgl.: Lynn Mally: Culture of the Future. The Proletkult Movement in Revolutionary Russia.

(6) Marta Filipová: Modernity, History, and Politics in Czech Art. S. 93. 

(7)  Stanislav Kostka Neumann: Umění v sociální revoluci (Art in the Social Revolution; 1923). Zit. nach: Peter A. Zusi: Tendentious Modernism: Karel Teige's Path to Functionalism. S. 3.

(8) Karel Teige: Neue proletarische Kunst. In: Ders.: Liquidierung der >Kunst<. Analysen, Manifeste. S. 20f.; 23f.; 37; 38f.; 39; 39f.

(9) Zit. nach: Derek Sayer: Prague, Capital of the Twentieth Century. A Surrealist History. S. 199.

(10) Vítězslav Nezval: Aus meinem Leben. S. 27.

(11) Peter Zusi: The Integrity of the Avant-Garde. Karel Teige and the Biography of an Ambition. S. 22f.

(12) Vítězslav Nezval: Aus meinem Leben. S. 111. Právo lidu ("Volksrecht") war die Tageszeitung der Sozialdemokratischen Partei, vergleichbar mit dem deutschen Vorwärts.

(13) So etwa in einigen der Beiträge zu der Ausstellung In the Eye of the Storm -- Modernismen in der Ukraine.

(14) Karel Teige: Nové umění a lidová tvorba (The New Art and Popular Artistic Production; 1921). Zit. nach: Peter A. Zusi: Tendentious Modernism: Karel Teige's Path to Functionalism. S. 9.

(15) Ilja Ehrenburg: Und sie bewegt sich doch! S. 31; 35.

(16) Der volle Titel lautet: Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito und seiner Jünger: Monsieur Delhaye, Karl Schmidt, Mister Cool, Alexei Tischin, Ercole Bambucci, Ilja Ehrenburg und des Negers Ayscha in den Tagen des Friedens, des Krieges und der Revolution in Paris, Mexiko, Rom, am Senegal, in Kineschma, Moskau und an anderen Orten, ebenso verschiedene Urteile des Meisters über Pfeifen, über den Tod, über die Liebe, über die Freiheit, über das Schachspiel, das Volk der Juden, Konstruktionen und einige andere Dinge.

(17) Vítězslav Nezval: Aus meinem Leben. S. 216f.  

(18) In seinen 1957/58 geschriebenen Memoiren versuchte Nezval diesen Internationalismus und Kosmopolitismus der Avantgarde im Rückblick zu relativieren und kleinzureden: "Wir waren viel mehr national, als wir dachten oder wünschten." (Aus meinem Leben; S. 149.) Grund dafür dürfte vor allem die Rehabilitierung des Nationalismus durch die Stalinisten gewesen sein, die im Zuge des 2. Weltkriegs in der Tschechoslowakei die Form einer Wiederbelebung panslawistischer Ideen angenommen hatte. Derweil war der "wurzellose Kosmopolitismus" zu einer der verwerflichsten Verfehlungen im stalinistischen Sündenregister erklärt worden, wobei nicht selten antisemitische Untertöne mitschwangen.

(19) Karel Teige: Neue proletarische Kunst. In: Ders.: Liquidierung der >Kunst<. Analysen, Manifeste. S. 21; 28 

(20) Zit. nach: Derek Sayer: Prague, Capital of the Twentieth Century. A Surrealist History. S. 208.