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Samstag, 21. November 2020

Retro Hugos und der Derleth-Mythos

Die Verleihung des diesjährigen Hugo Award war bekanntlich eine mittelprächtige Katastrophe, die berechtigterweise zu einer Menge Aufruhr in Phantastik-Kreisen führte. Auch wenn, wie in solchen Fällen üblich, einige der Reaktionen in meinen Augen etwas hyperbolisch ausfielen. 
Doch es war nicht allein die völlig missglückte Form der Präsentation durch George R.R. Martin und Robert Silverberg, die auf viele zurecht herabsetzend und beleidigend wirkte, welche Kritik auf sich zog. Auch die Retro Hugos riefen wütende Proteste hervor, die sich zum Teil bis zu der Forderung steigerten, diesen Preis ganz abzuschaffen. 
Dafür waren vor allem die Gewinner in zwei Kategorien verantwortlich.
 
Zum einen war in der Sparte "Best Editor, Short Form" einmal mehr John W. Campbell zum Sieger gekürt worden. Was aus nachvollziehbaren Gründen auf viele als eine bewusste Provokation wirken musste. Immerhin hatte die Dankesrede der letztjährigen Hugo-Gewinnerin Jeannette Ng zu einer heilsamen Diskussion über die Rolle des Herausgebers geführt, die schließlich zur Umbenenung des John W. Campell Awards in den Astounding Award geführt hatte. Dass ihm nun erneut ein Retro Hugo verliehen wurde, ließ sich kaum anders denn als eine Gegen-Proklamation seitens des konservativen Fandom-Flügels interpretieren. Wenn's nach mir gegangen wäre, hätte übrigens Dorothy McIlwraith die Auszeichnung erhalten.
Zum anderen ging der Preis in der Kategorie "Series" an den "Cthulhu Mythos, by H. P. Lovecraft, August Derleth, and others".
Zu diesem Preis möchte ich heute einen verspäteten Kommentar abgeben. 
Zuvor aber noch kurz darauf hinweisen, dass andere Retro Hugos in diesem Jahr an Leigh Brackett (für Shadow Over Mars und The Science-Fiction Field), Margaret Brundage ("Best Professional Artist") und Myrtle "Morojo" R. Douglas (als Mitherausgeberin des Fanzines Voice of the Imagi-Nation) gingen.* Der Retro Hugo ist also keineswegs die ausschließliche Domäne der immer gleichen "alten, weißen Männer", wie manchmal behauptet wird. Er besitzt durchaus das Potential, ein Licht auf die Diversität der Stimmen zu werfen, die es auch in der Pulp-Ära bereits gab. Dass gar zuviele Wahlberechtigte ihre Stimme lieber immer noch Leuten wie Campbell geben, ist ein anderes Problem. 
 
H.P. Lovecraft ist für einen Gutteil des "progressiven" Fandom-Flügels inzwischen ja zu einer Art bête noire geworden. Sobald sein Name fällt, braucht man darum nicht lange auf einen  entsprechenden Aufschrei der Empörung zu warten. Verantwortlich dafür ist beinah ausschließlich der unleugbare und äußerst abstoßende Rassismus des Autors, der sich auch in einer Reihe seiner literarischen Werke deutlich ausgedrückt findet.**
Aber mit dieser Debatte will ich mich für den Moment gar nicht beschäftigen. Denn genau genommen hat ja nicht der alte Gentleman einen Retro Hugo verliehen bekommen, sondern der "Cthulhu-Mythos". Ob es überhaupt Sinn macht, den unter die Kategorie "Serie" zu packen, ist natürlich auch noch so eine Frage. Aber akzeptieren wir das der Einfachheit halber mal.
Wie die regulären Hugos werden ja auch die Retros für Werke verliehen, die in einem bestimmten Jahr erschienen sind. Diesmal war das 1944. Und da stellt sich mir dann schon die Frage, welch cthulhuides Material denn in diesem Jahr das Licht der Welt erblickte? Und ob dasselbige ausreichend Grundlage für das Verleihen eines Preises darstellt?
Lovecraft selbst können wir da gleich von Anfang an beiseite lassen. Von dem hat das Jahr nämlich keinerlei Erstveröffentlichungen zu bieten. Das Hauptaugenmerk muss vielmehr auf den zweiten namentlich genannten Autor fallen: August Derleth, von dem im März und November 1944 in Weird Tales zwei etwas längere Mythos-Geschichten erschienen: The Trail of Cthulhu und The Dweller in Darkness. Und damit bekommt die Sache gleich eine ganz andere Wendung.
 
Derleth hatte zusammen mit Donald Wandrei 1939 Arkham House gegründet. Der Verlag leistete durch die Herausgabe mehrerer Sammelbände ohne Zweifel einen großen Beitrag für das Fortleben nicht nur von Lovecraft, sondern auch von anderen Autoren wie Clark Ashton Smith oder Henry S. Whitehead. Daneben veröffentlichte er später u.a. Evangeline Waltons Roman Witch House (1945), Ray Bradburys erste Anthologie Dark Carnival (1947) und Neuauflagen von William Hope Hodgson, Algernon Blackwood und Lord Dunsany. In den 60ern und frühen 70ern erschienen dort auch die ersten Storysammlungen von Ramsey Campbell (The Inhabitant of the Lake and Less Welcome Tenants [1964]) und Brian Lumley (The Caller of the Black [1971]). Doch in Sachen Cthulhu Mythos spielte Derleth noch eine ganz andere Rolle.
Zu Zeiten des alten Gentlemans war der Mythos eine Spielwiese gewesen, offen für alle, die sich darauf tummeln wollten. Es gab keine Regeln und keine festgefügte Lore. In Lovecrafts eigenen Geschichten änderte der Mythos seine Gestalt, je nach den augenblicklichen Erfordernissen. Bei Clark Ashton Smith besaß er eher den Charakter einer humorvollen Groteske. Howard vermischte ihn stellenweise mit seiner eigenen Sword & Sorcery. Derleth fügte ihm bereits einige seiner eigenen bevorzugten Elemente, wie die "Elementals", hinzu. Niemand (auch nicht HPL) spielte den obersten Schiedsrichter, der entscheiden durfte, was aufgenommen wurde und was nicht. 
Dieser freie, spielerische Charakter ging verloren, als August Derleth begann, das Ruder an sich zu reißen. Es begann das große Kodifizieren und Systematisieren. 
Solche Bestrebungen hatte es zwar schon früher gegeben. So etwa hatte Clark Ashton Smith im Juni 1934 auf eine entsprechende Anfrage R.H. Barlows einen Stammbaum der cthulhuiden Götter entworfen. Doch dieser war offensichtlich eher als eine Parodie gedacht gewesen. Derleths Herangehensweise hingegen war völlig frei von jedem ironischen Vibe. Ganz allgemein habe ich das Gefühl, dass sein Umgang mit dem Mythos sehr humorlos und pedantisch war.***
Solange es sich dabei bloß um eine persönliche Vorliebe handelte, stellte das natürlich weiter kein Problem dar. Doch August Derleth startete nach Lovecrafts Tod mit ziemlich rücksichtslosen Methoden den Versuch, die Kontrolle über dessen literarisches Erbe zu erlangen. 
Am Anfang davon stand eine zusammen mit Donald Wandrei geführte Diffamierungskampagne gegen R.H. Barlow, den der alte Gentleman offiziell als seinen Nachlassverwalter eingesetzt hatte. Dies führte u.a. dazu, dass Clark Ashton Smith den freundschaftlichen Kontakt zu Barlow abbrach, was ein furchtbarer Schlag für den sensiblen jungen Mann gewesen sein muss: Der Effekt "was of cutting out my entrails with a meat cleaver." Als 1946/47 mit C. Hall Thompson erstmals ein Schriftsteller, der nicht zum ursprünglichen Zirkel gehört hatte, lovecraftianische Geschichten veröffentlichte und dabei scheinbar auf ein äußerst positives Echo bei der Leserschaft stieß, bedrängte Derleth aufs aggressivste Weird Tales, keine weiteren Stories von ihm zu kaufen. Er erreichte sein Ziel, und Thompson verließ die Weird Fiction und wandte sich ausschließlich Western und Crime/Detective Stories zu.
Mit Hilfe von Arkham House gelang es Derleth schließlich, die Entwicklung der Mythos-Literatur für mehrere Jahrzehnte fast vollständig zu dominieren.
Dazu gehörte es auch, seine Interpretation des Mythos als die "kanonische" durchzusetzen, obwohl sie sehr deutlich von Lovecrafts ursprünglicher Vision abwich. Zum einen führte er eine scharfe Gut-Böse-Dichotomie ein, die vermutlich stark von seinen eigenen christlichen Überzeugungen geprägt war. Er stellte den "bösen" Großen Alten (Great Old Ones) die "guten" Älteren Götter (Elder Gods) entgegen. Zum anderen ordnete er die verschiedenen Großen Alten den vier Elementen zu: Cthulhu = Wasser; Hastur = Luft; Nyarlathotep & Yog-Sothoth = Erde; Cthuga = Feuer usw. Dabei herrschen zwischen diesen "Elementarsphären" Konflikte, die von "eingeweihten" Menschen ausgenutzt werden können, um sie gegeneinander auszuspielen. Beides zusammen bedeutete eine deutliche Entschärfung von Lovecrafts ursprünglichem "kosmischen Horror".
Freilich überlebte diese Version des Cthulhu-Mythos ihren Schöpfer nicht sehr lange. Derleth starb 1971 und bereits zwei Jahre später erschien Richard L. Tierneys Aufsatz The Derleth Mythos, mit dem die Dekonstruktion einsetzte. Zugleich begann die allmähliche Öffnung der Mythosliteratur für neue und unkoventionellere Stimmen und Visionen, was schließlich zu der großen Vielgestaltigkeit führte, durch die sie sich heute auszeichnet.

Werfen wir nun also einen kurzen Blick auf die beiden 1944 veröffentlichten Derleth-Geschichten. Viel zu sagen habe allerdings ich über keine von ihnen, denn sie sind wirklich nicht besonders gut.  
The Trail of Cthulhu ist sogar ausgesprochen mies. Selbst wenn man die gar zu unverhüllte (und dabei wenig geglückte) Art, in der Derleth den Stil seines Vorbilds Lovecraft nachzuahmen versucht, einmal beiseite lässt, ist der Aufbau der Geschichte so ungelenk und alle vermeintlich "mysteriösen" Wendungen so offensichtlich, dass man ein wiederholtes Gähnen und Aufstöhnen kaum wird unterdrücken können. Freilich ist der Versuch, Mythos-Geschichte und Pulp-Abenteuer miteinander zu kombinieren, schon geeignet, leichtes Amüsement hervorzurufen. Immerhin dürfen wir miterleben, wie ein Professor und sein Assistent unter dem Einfluss von göttlichem Met auf riesigen Fledermäusen durch die Gegend fliegen, um verschiedene magische Portale, aus denen Cthulhu hervorgekrochen kommen könnte, mit Nitroglyzerin in die Luft zu sprengen. Doch liest sich das als Konzept spaßiger als es in Wirklichkeit ist.
The Dweller in Darkness wirkt da zumindest schon ein wenig gelungener. Auch hier ist der Pastiche-Charakter zwar nicht zu übersehen. Vor allem der Eingangsparagraph erinnert doch sehr stark an die entsprechende Passage aus Lovecrafts The Dunwich Horror. Auch ist der Aufbau immer noch ziemlich holprig. Doch gelingt es Derleth zumindest hier und da etwas echte Atmosphäre zu erzeugen. Was vielleicht auch daran liegt, dass die Geschichte in seinem heimatlichen Wisconsin und nicht im neuenglischen Lovecraft Country angesiedelt ist. Inhaltlich hat sie jedoch nichts originelles zu bieten.
Was beide Geschichten miteinander verbindet, ist, dass sie auf geradezu aufdringliche Weise, die derleth'sche Version des Cthulhu-Mythos propagieren. Nun habe ich zwar nur wenige Geschichten aus seiner Feder gelesen, doch scheint die Figur des "alten Gelehrten", der an irgendeinem Punkt der Handlung plötzlich anfängt, auf recht prosaische Weise die Details des Mythos darzulegen, häufiger bei ihm aufzutauchen. Nicht gerade das geschickteste erzählerische Instrument.
 
Einige der Bestandteile des Derleth-Mythos waren freilich schon deutlich älter. So tauchen die "Elementals" erstmals in der im Januar 1931 in Strange Tales of Mystery and Terror erschienenen Geschichte The Thing That Walked On The Wind auf. Der dort beschriebene "Lufteelementar" wird zwar nicht ausdrücklich als ein Großer Alter bezeichnet. Er erinnert eher an den Wendigo.**** Aber die ihm zugeschriebenen Aktivitäten ähneln sehr stark bestimmten "mysteriösen Ereignissen" aus The Lurker at the Threshold (1945), der ersten von Derleths berüchtigten "posthumen Kollaborationen" mit Lovecraft. Ein weiterer wichtiger Schritt hin zur "Elementartheorie" war Francis T. Laneys im Winter 1942 in The Acolyte veröffentlichter Essay The Cthulhu Mythology, den Derleth in überarbeiteter Fassung in seinen Lovecraft-Sammelband Beyond the Wall of Sleep (1943) aufnahm.

Dennoch dürfen wir die beiden Geschichten als zwei frühe Vertreter des voll ausgewachsenen Derleth-Mythos betrachten. Und damit hätte wohl eigentlich der den diesjährigen Retro Hugo gewonnen. Nicht dass ich glauben würde, dies sei tatsächlich die Absicht jener gewesen, die ihm zu dieser Auszeichnung verholfen haben. 
 
Die einzige andere mögliche Grundlage für den Retro, die ich habe finden können, wären die drei 1944 erschienen Ausgaben des von Francis Laney in Los Angeles herausgegebenen Fanzines The Acolyte. Das seit 1942 erscheinende Heft war zwar nicht ausschließlich Lovecraft und dem Cthulhu-Mythos gewidmet, aber die beiden nahmen darin doch stets eine sehr prominente Stellung ein. Hier war unter anderem auch im Winter '42 das erste "cthulhuide" Gedicht aus der Feder einer Frau erschienen, Virginia "Nanek" Andersons Shadow Over Innsmouth. Wer mehr über die Dichterin und ihr Werk erfahren will, sei auf diesen Beitrag von Bobby Derie verwiesen. 1944 erschien im Acolyte ihre sehr kurze Kurzgeschichte Fifth Column, die zwar nichts mit Lovecraft zu tun hat, in der dafür aber zwei Katzen die Eroberung der Weltherrschaft planen. Im selben Jahr druckte das Fanzine auch einige Verse der SF-Pionierin Lilith Lorraine ab. In Bezug auf den Cthulhu-Mythos verdient vor allem Fritz Leibers in der Herbstnummer veröffentlichter Essay The Works of H. P. Lovecraft: Suggestions for a Critical Appraisal Erwähnung. Und dieser wirkt ironischerweise fast wie ein Gegenentwurf zum Derleth-Mythos. Betont Leiber doch gleich am Anfang die "kosmizistische" Qualität des lovecraftschen Horrors:
Perhaps Lovecraft's most important single contribution was the adaptation of science-fiction material for the purpose of supernatural terror. The decline of at least naive belief in Christian theology, resulting in an immense loss of prestige for Satan and his hosts, left the emotion of supernatural fear swinging around loose, without any well-recognized object. Lovecraft took up this loose end and tied it to the unknown but possible denizens of other planets and regions beyond the space-time continuum.*****     
Zumindet ansatzweise können wir hier bereits die Gedanken erkennen, die Leiber fünf Jahre später in seinem Essay A Literary Copernicus genauer ausführen würde. Und diese standen wenigstens implizit im Widerspruch zum quasi-christlichen Gut vs Böse des Derleth-Mythos.                    

Freilich glaube ich ebensowenig, dass dies die Grundlage für den diesjährigen  Retro Hugo gewesen ist. Letztenendes dürfte der "Cthulhu-Mythos" seine Auszeichnung gar nicht dem verdanken, was 1944 tatsächlich erschienen ist. War der Preis als Provokation gedacht, wie ich das im Falle Campbells durchaus nicht für unwahrscheinlich halte? Möglich, dass das bei einigen derer, die ihm ihm ihre Stimme gegeben haben, die Intention gewesen ist. Doch glaube ich eher, dass sich darin ganz einfach die popkulturelle Popularität des Mythos widerspiegelt. Vor allem, wenn man sich die anderen Finalisten in der Kategorie "Series" anschaut: Captain Future, Doc Savage, Jules de Grandin, Pellucidar und The Shadow. Persönlich hätte ich wahrscheinlich Pellucidar gewählt, weil ich die Amicus-Verfilmung von At the Earth's Core mit Doug McClure, Peter Cushing & Caroline Munro so mag. Oder Captain Future, in Erinnerung an die alte Zeichentrickserie und kindliches Fanboytum. Aber es wundert mich nicht, dass Cthulhu den Vorzug erhalten hat. Winden sich seine Tentakel inzwischen doch in alle möglichen Ecken und Winkel der zeitgenössischen Popkultur.         

  
 
 
 
 
* Myrtle Douglas gewann den Preis zusammen mit Forrest J. Ackerman, der zwar gleichfalls eine "problematische" Figur ist, aber bei weitem nicht so viel Zorn hervorruft wie Campbell und Lovecraft.

** Wobei man aber vielleicht hinzufügen sollte, dass Lovecrafts Erzählungen in dieser Hinsicht nicht extremer sind als viele andere Werke der Pulp-Ära. Was nicht als Entschuldigung missverstanden werden soll. Ich habe 2012 selbst einen zweiteiligen Artikel über Lovecrafts Rassismus auf diesem Blog veröffentlicht: Teil 1 * Teil 2. Hier und da würde ich manches heute vielleicht etwas anders formulieren, doch in allen wichtigen Punkten stehe ich nach wie vor zu dem Text.

*** Es wird gerne übersehen, dass Lovecraft einen sehr ausgeprägten Sinn für Humor hatte. 

**** Der Name fällt nicht in der Geschichte. Dafür wird gleich mehrfach auf Algernon Blackwood verwiesen. Dessen Wendigo nebenbei bemerkt ein sehr viel besseres Stück Weird Fiction ist.  

***** In: Fritz Leiber and H.P. Lovecraft: Writers of the Dark. S. 273.    

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