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Sonntag, 19. Mai 2019

Zombies im feudalen Korea

Ich beschäftige mich auf diesem Blog ja eigentlich nie mit aktuellen Filmen oder Fernsehserien, schon allein weil ich so gut wie keinen Zugang zu ihnen besitze. Doch als ich vor kurzem meinem guten Kumpel Molo einen Besuch abstattete, hatte ich die Gelegenheit, einmal ganz hemmungslos im Angebot einiger Streaming-Anbieter herumzustöbern. Und so ergab es sich, dass ich den Gutteil eines verregneten Samstagnachmittags mit einer Serie verbrachte, auf die ich zuvor bereits durch einige Bemerkungen von Black Dog's Lee Medcalf aufmerksam geworden war: Der sechsteiligen ersten Staffel von Kim Seong-huns in Südkorea für Netflix produzierten Zombie-Show Kingdom. Ich habe es nicht bereut.

Einmal mehr sind es die Koreaner, die nach Yeon Sang-hos Train to Busan (2016) erneut beweisen, dass man dem Genre selbst nach Jahren inflationärer Überflutung des Marktes mit unzähligen Filmen, Büchern, Comics und Videospielen sowie neun Staffeln The Walking Dead immer noch etwas interessantes abgewinnen kann. Die Lebenden Toten als Vehikel für Gesellschaftskritik zu benutzen, ist für sich genommen natürlich alles andere als neu. Dieses Element findet sich schließlich mehr oder weniger deutlich ausgeprägt bereits in George A. Romeros ursprünglicher Trilogie Night of the Living Dead (1968), Dawn of the Dead (1978) und Day of the Dead (1985). Und auch wenn die meisten Vertreter der ersten großen Zombiewelle dem Schöpfer des Genres hierin wohl eher nicht folgten, was ja selbst für unbestrittene Klassiker wie Lucio Fulcis Zombi 2 (1979) gilt, gab es doch auch damals schon Filme wie Jörge Graus Non si deve profanare il sonno dei morti / The Living Dead at the Manchester Morgue (1974). Dies allein macht also nicht die Originalität von Kim Seong-huns auf einem Webcomic von Kim Eun-hee & Yang Kyung-il basierenden TV-Serie aus. Aber es ist ein sehr wichtiger Bestandteil dessen, was mich an ihr so stark angesprochen hat.

Das erste, was an Kingdom hervorsticht, ist das historische und kulturelle Setting. Alle mir bekannten Zombieflicks spielen in der Gegenwart oder nahen Zukunft, hier hingegen ist die Geschichte im Korea der Joseon-Dynastie an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert angesiedelt. Und das ist mehr als ein exotischer Hintergrund. Der Ausbruch einer Zombieepidemie wird aufs engste verwoben mit den Machtkämpfen innerhalb der feudalen Elite des Landes, wobei ein scharfes Licht auf die barbarische Grausamkeit dieser Klassengesellschaft fällt.

Die japanischen Invasionen von 1592 und 1596 sind zwar erfolgreich zurückgeschlagen worden, doch das Reich befindet sich trotzdem in einer tiefen Krise. Insbesondere in den südlichen Provinzen leidet die einfache Bevölkerung unter Seuchen und heftigen Hungersnöten. Derweil versucht der Haewon-Cho-Klan, dessen Aufstieg scheinbar von den Kriegswirren begünstigt wurde, die Macht vollständig an sich zu reißen. Dem ebenso intriganten wie rücksichtslosen Erzkanzler Cho Hak-ju (Ryu Seung-ryong) ist es gelungen, seine Tochter (Kim Hye-jun) mit dem König zu verheiraten. Wie die Serie sehr deutlich zeigt, sieht er in ihr bloß ein Werkzeug seiner eigenen Ambitionen, das er bedenkenlos opfern würde, wenn sie ihm nicht länger dienlich wäre oder es wagen sollte, unabhängige Entscheidungen zu fällen. Während Angehörige und Gefolgsleute des Haewon-Cho-Klans nach und nach auf alle einflussreichen Posten im Staat aufrücken, formiert sich  Opposition um eine Gruppe anderer Aristokraten und die Führungsriege des konfuzianischen Gelehrtenstandes.
Kronprinz Yi-Chang (Ju Ji-hoon) spielt eine zentrale Rolle in diesen Machtkämpfen. Da seine Mutter bloß eine der vielen Konkubinen des Königs war, wuchs er als Außenseiter in der höfischen Gesellschaft des Palastes von Hanyang (heute Seoul) auf. Nur sein Lehrmeister Fürst Ahn Hyeon (Heo Joon-ho) erwies sich ihm gegenüber als väterlicher Freund. Doch da er der einzige Sohn des Königs ist, steht ihm dennoch die Thronfolge zu. Dies ändert sich, als die junge Königin schwanger wird. Sollte sie einen Sohn gebären, würde Yi-Chang nicht bloß den Thron, sondern vermutlich auch sein Leben verlieren. Als der König aufgrund einer mysteriösen Krankheit {offiziell heißt es die Pocken} nicht länger in der Öffentlichkeit auftaucht, spitzt sich die Lage dramatisch zu. Würde er vor der Geburt seines zweiten Kindes sterben, könnte der Prinz ganz legitim den Thron besteigen. Kein Wunder, dass in den Kreisen der Opposition schon bald das Gerücht umgeht, der Monarch sei bereits tot und sein Ableben werde von Cho Hak-ju geheim gehalten, um die engültige Machtübernahme durch den Haewon-Cho-Klan sicherzustellen. Aus den Reihen des Gelehrtenstandes erklingt bereits der Ruf nach einem Staatsstreich, worauf der Erzkanzler mit brutalem Terror antwortet.
Yi-Chang zögert zuerst noch. Doch als er bei einem letzten Versuch, gegen den ausdrücklichen Befehl der Königin zu seinem Vater vorzudringen, im nächtlichen Palast der schattenhaften Gestalt eines bestialisch anmutenden Monsters begegnet, beschließt er, sich in den Süden des Reiches aufzumachen, um den Arzt Lee Seong-hui aufzusuchen, der den König vor kurzem behandelt hat. Begleitet wird er nur von seinem Leibwächter Muyeong (Kim Sang-ho), der nicht gerade begeistert davon ist, seine hochschwangere Frau in der Hauptstadt zurückzulassen. Der Erzkanzler stellt die "Flucht" des Prinzen als Beweis für eine Verschwörung hin, erklärt den Prinzen zum Verräter und jagt ihm einen Trupp Palastwachen unter Führung seines Sohnes Cho Beom-il (Jung Suk-won) hinterher.
Als Yi-Chang und Muyeong das Hospital Jiyulheon erreichen, stoßen sie dort auf die Spuren eines gewaltigen Massakers. So zumindest interpretieren sie es anfangs. Doch kaum versinkt die Sonne hinter dem Horizont, erwachen die zahllossen, inzwischen in die Provinzstadt Dongnae gebrachten Leichen zu untotem Leben und stürzen sich voll Heißhunger auf Menschenfleisch auf die wehrlose Bevölkerung. Zusammen mit der Heilkundigen Seo-bi (Bae Doona) und dem ehemaligen Soldaten Yeong-shin (Kim Seong-kyu), den letzten Überlebenden von Jiyulheon, sehen sich die beiden schon bald zwischen einer ausgewachsenen Zombieapokalypse im Süden und der von Cho Hak-ju mobilisierten Armee im Norden.

Wer jetzt denkt, das klinge mehr nach einer eingeschrumpften koreanischen Version von Game of Thrones als nach einer waschechten Zombiestory, der sei beruhigt. Die sechs Episoden haben genug Gore und "Gut Munching" zu bieten, um Fans des Genres zufriedenzustellen. Aber darüberhinaus halt noch sehr viel mehr. Und damit meine ich nicht bloß die atemberaubend schönen Landschaften.

Nicht zufällig vergehen in Episode #1 gut vierzig Minuten, bevor wir die ersten echten Zombies zu sehen bekommen. Kim Seong-hun nimmt sich Zeit, seine Figuren, ihre Beziehungen untereinander und den Charakter der Gesellschaft, in der sie leben, zu etablieren, bevor er die Hölle losbrechen lässt.
So könnte man z.B. spontan annehmen, Muyeong sei der archetypische "treue Diener", doch es zeigt sich sehr schnell, dass die Beziehung zwischen ihm und dem Prinzen deutlich komplexer ist. Offenbar ist er bereits seit Yi-Changs Kindheit für dessen Sicherheit verantwortlich, und es exisitiert ein starkes emotionales Band zwischen den beiden. Das ändert jedoch nichts an Standesunterschied und Machtgefälle. Der Prinz erzwingt Muyeongs Mithilfe, indem er ihm droht, andernfalls einige "Vergehen" des Wächters bekannt zu machen, die zwar völlig unbedeutend klingen {"Diebstahl" eines Desserts}, aber vermutlich ziemlich drastische Strafen nach sich ziehen würden. Wie ernst es ihm damit ist, lässt sich nur schwer einschätzen. Es  macht ihm großen Spaß, Muyeong immer wieder damit zu drohen, seine Familie auszulöschen.  Der Prinz hält das für einen grandiosen Witz, doch der Leibwächter  kann daran nichts amüsantes finden. Schließlich haben die Aristokraten tatsächlich die Macht, solche Drohungen wahr zu machen, und bedienen sich dieser auch recht gerne.     
Kleine Details und Dialogfetzen beleuchten immer wieder sehr eindringlich die Unmenschlichkeit einer Gesellschaft, in der die einfachen Leute völlig der Willkür ihrer adeligen Herren ausgeliefert sind. Da spielt z.B. eine Gruppe von Kindern mit einem Korbball. Aus Versehen treffen sie dabei den in der Nähe stehenden Kronprinzen. Zutiefst verängstigt wiederholen sie immer wieder: "Wir verdienen es nicht, am Leben zu bleiben. Wir verdienen es nicht, am Leben zu bleiben." Dies scheint die formelle Entschuldigung gegenüber Ranghöreren zu sein! Schon kleine Kinder haben die grausame Wahrheit verinnerlicht, dass ihr Leben in den Augen der Adeligen ohne Wert ist!

Anders als klassische Romero-Zombies sind die Lebenden Toten in Kingdom nur nachts aktiv {so scheint es zumindest}. Tagsüber kehren sie in ihren natürlichen Zustand als Leichen zurück. Das vernünftigste wäre es darum, die Körper einfach zu zerstören, solange die Sonne am Himmel steht. Doch dem steht das ständische Denken entgegen. Die selbst der Grundbesitzerelite der Yangban angehörenden Beamten wären zwar durchaus bereit, die Leichen von Bauern zu verbrennen, doch es erscheint ihnen völlig undenkbar, die sterblichen Überreste von Aristokraten auf diese Weise zu entehren. Die beste Chance, die Epidemie frühzeitig einzudämmen, geht damit verloren.

Aber die Feudalordnung steht nicht nur der Bekämpfung der Zombiebedrohung im Weg, sie ist selbst auf mehrfache Weise mit ihrem Ausbruch verknüpft.
Wenn sich Yi-Chang und Muyeong dem Hospital von Jiyulheon nähern, fällt ihnen die unnatürliche Stille in den umgebenden Wäldern auf. Ein klassisches Horrormotiv, das jedoch später in der Serie eine höchst ungewöhnliche und keineswegs übernatürliche Erklärung findet. Die Hungersnot, unter der die Südprovinzen leiden, ist so gewaltig, dass die einfache Bevölkerung alles aufgegessen hat, dessen sie habhaft werden konnte, bis hinunter zu den Insekten! 
Die Patienten von Jiyulheon sind gleichfalls Opfer dieser Hungersnot, und als die versprochene Reislieferung der Zentralregierung nicht eintrifft, beschließt Yeong-shin schließlich, eine menschliche Leiche zu Suppe für seine Mitleidenden zu verarbeiten. Gegenüber der völlig geschockten Seo-bi erklärt er, dass Kannibalismus im Süden schon lange nichts mehr ungewöhnliches sei. Andernfalls wären schon viel mehr Bauern in der Provinz den Hungertod gestorben. Unglücklicherweise führt dieser Akt von Kannibalismus aber zum Ausbruch der Zombieepidemie, die deshalb anfangs wie eine symbolische Darstellung der völligen Entmenschlichung erscheint, zu der Elend und Unterdrückung die einfachen Leute schließlich führen können. 
Hunger ist eines der immer wiederkehrenden Motive der Serie. Mehrfach bekommen wir zu sehen, wie Leute hemmungslos Essen in sich hineinstopfen. Der Anblick ist leicht übelkeitserregend, aber all das wüste Mampfen und Herunterschlingen erscheint nur zu verständlich, wenn wir uns klar machen, dass diese Menschen unter permanentem Hunger leiden. Ein wenig haben mich diese Szenen an die regelmäßigen Fressorgien der mittelalterlichen Literatur erinnert, die auf  den heutigen Leser auch eher eklig wirken, aber bloß den Geisteszustand einer Gesellschaft widerspiegeln, die in ständiger Furcht vor Hungersnöten lebte. Das kannibalistische Treiben der Zombies wirkt in gewisser Weise bloß wie eine barbarisierte Steigerung dieses Verhaltens.
In krassem Gegensatz zu diesen wüsten Fressorgien stehen die gepflegten Tischmanieren der Aristokraten. Denn natürlich haben diese selbst in den völlig verelendeten Südprovinzen keinerlei Mangel zu leiden, sondern feiern weiter prachtvolle Feste und erfreuen sich an reichgedeckten Tafeln. Aber wie sich schließlich herausstellt, ist der eigentliche Beginn der Zombiebedrohung in Wahrheit in ihren gu situierten Kreisen zu suchen. Der erste Lebende Tote, Ausgangspunkt des ganzen Übels, befindet sich nämlich nicht unter den halbverhungerten Insassen von Jiyulheon, sondern im innersten Bereich des Königspalastes von Hanyang. Und Cho Hak-ju ist für seine Existenz verantwortlich. Um die Machtübernahme seines Klans sicherzustellen, hat er den tatsächlich an den Pocken verstorbenen König ins Leben zurückrufen lassen und verfüttert nun regelmäßig niedere Hofdamen an den in goldene Ketten gelegten königlichen Zombie.  

Der einzige richtige Wermustropfen in Kingdom ist für mich die bedrohliche Tendenz, dass die Story am Ende auf das Klischee des "edelmütigen Prinzen" hinauslaufen könnte, der das Volk rettet und die "gerechte (Feudal)Ordnung" wieder aufrichtet. Vor allem in der zweiten Hälfte der Serie wird die Figur Yi-Changs immer stärker idealisiert. Mit Yeong-Shin {und in geringerem Maße Seo-Bi} haben wir freilich immer noch Charaktere, die das einfache Volk repräsentieren und die Feudalordnung ziemlich illusionslos betrachten. 
Erst die zweite Staffel wird zeigen, inwieweit Kingdom seinem Potential wirklich gerecht wird. Doch schon jetzt würde ich die Serie als einen spannenden und sehenswerten Eintrag in das Genre bezeichnen. 

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