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Dienstag, 17. Juli 2018

Unter dem Schatten der Sense

Bis vor kurzem war ich mit nur drei Werken aus dem Oeuvre des britischen Bühnen- und Drehbuchautors David Rudkin vertraut:  Mit seinem Fernsehspiel Penda's Fen (1974), das ich vor über fünf Jahren hier besprochen habe; der M.R. James - Adaption The Ash Tree (1975), Rudkins Beitrag zur A Ghost Story for Christmas - Serie; sowie dem eigenartigen Film Artemis 81 (1981), an den ich zugegebenermaßen nur noch recht verschwommene Erinnerungen habe.

Alle drei hatten mir zu ihrer Zeit ziemlich gut gefallen. Und was ich sonst so über Rudkin in Erfahrung bringen konnte, klang gleichfalls recht interessant.

So war z.B. sein erstes Theaterstück Afore Night Come in einer Inszenierung der Royal Shakespeare Company 1962 nicht öffentlich aufgeführt worden, da dies die Zensurbehörden unmöglich zugelassen hätten. Die Premiere hatte deshalb im Londoner "members-only" - Art Theatre stattgefunden, das 1927 genau zu dem Zweck gegründet worden war, der Zensur derartige kleine Streiche zu spielen. 
Was unausweichlich den Zorn der staatlichen Hüter der öffentlichen Moral heraufbeschworen hätte, wäre nicht nur die homosexuelle Thematik des Stücks gewesen, sondern auch dessen extreme Brutalität. Wie Rudkin später einmal erzählt hat:
[T]he logical moral outcome of the play's process would be a climactic act of violence of a sort that I don't think had been done on an English stage since the Jacobeans. So I had to choose: back off and not follow the logical implications of the play; or go through with it and be damned. If I was going to be a writer, there wasn't any choice.
Ich habe Afore Night Come ja leider noch nicht selbst gelesen, aber schon sein Theaterdebüt scheint viel von dem enthalten zu haben, was einem immer wieder in Rudkins Oeuvre begegnet. Zumindest soweit ich das beurteilen kann. Themen von Außenseitertum, unterdrückter Sexualität und gesellschaftlicher Grausamkeit. Eine symbolistisch-surreale Ästhetik. Elemente aus Mythos und Folklore. Das Stück gipfelt offenbar in einem bizarren Ritualmord, der als eine Art Fruchtbarkeitsopfer gedacht ist. Um Clive Barnes' Rezension einer amerikanischen Inszenierung aus dem Jahre 1975 zu zitieren:
The play starts with hints of some kind of ritual murder of the outsider, the hints become stronger and stronger until the play erupts into an Artaud‐like scene of pure horror. The tramp is captured, his body bloodily slashed with the sign of the cross, stabbed to death and then decapitated. Through all this grisly scene an airplane is spraying the orchard with insecticide. After the murder one of the murderers slobbers over the dead man's head (like some all too credible Salome) drinking the dead man's blood as a cure for his impotence. It is more shocking in a Genet‐like fashion than even the climax of “Oedipus Rex.”
Das Motiv des Menschenopfers, mit dessen Hilfe die Fruchtbarkeit der Felder wiederhergestellt werden soll, würde sich ein paar Jahre später im Folk Horror - Film großer Beliebtheit erfreuen. Man denke nur an J. Lee Thompsons Eye of the Devil (1966), John Bowens & James MacTaggarts Robin Redbreast (1970; hier besprochen) und natürlich Robin Hardys The Wicker Man (1973). Aber es scheint ziemlich klar, dass es bei David Rudkin mit einer sehr modernen Thematik verknüpft wurde: der Brutalität und Grausamkeit, die sich unter der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft verbirgt. Es verwundert nicht, dass Rudkin scheinbar immer mal wieder mit Harold Pinter verglichen wurde.

Einige weitere spannende Punkte aus Rudkins Karriere: Er arbeitete am Drehbuch für François Truffauts großartige Adaption von Ray Bradburys Fahrenheit 451 (1966) mit, schrieb das Script für eine Version von Sir Gawain and the Green Knight (1991) und erarbeitete eine Bühnenfassung von Michail Bulgakows Der Meister und Margarita (2004).

Man kann sich denken, wie begeistert ich war, als ich letzte Woche via Twitter erfuhr, dass irgendein freundlicher Zeitgenosse David Rudkins kurzes Fernsehspiel White Lady (1986) auf Youtube hochgeladen hat. Bild- und Tonqualität sind zwar ziemlich bescheiden. Ganz offensichtlich handelt es sich um eine alte Videoaufzeichnung. Aber jede Gelegenheit, einen weiteren Einblick in das Oeuvre dieses faszinierenden Künstlers zu erhalten, ist überaus begrüßenswert. Auch ist dies der einzige Film, bei dem der Autor zugleich auch der Regisseur war.

Eines gleich vorweg: White Lady reicht nicht an die anderen Werke Rudkins heran, die ich kenne. Der Film besitzt weder die Vielschichtigkeit und tiefe Humanität von Penda's Fen, noch die verstörende Qualität von The Ash Tree oder die schiere Weirdness von Artemis 81. Sehenswert ist er dennoch ganz sicher. Und vielleicht auch etwas komplexer, als man auf den ersten Blick meinen könnte.

Der Film macht keinen Hehl daraus, dass er als Parabel verstanden werden will. Und zumindest, soweit es dabei um die Gefahr geht, die Pestizide für Mensch und Umwelt darstellen, geht er dabei nicht eben subtil vor. Ein Thema, das in den 80er Jahren im öffentlichen Bewusstsein glaube ich sehr viel präsenter war, als heutzutage, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt. Doch wie gesagt: In White Lady mag mehr verborgen liegen, als diese offensichtliche Öko-Botschaft.

Irgendwo im ländlichen England versucht Gil (Cornelius Garrett), eine neue Existenz für sich und seine beiden kleinen Töchter Amy (Sophie Tompson) und Tess (Jessica Martin) aufzubauen. Wir wissen nicht, wie die drei in diese Situation geraten sind, aber Gils Ehrgeiz scheint darin zu bestehen, ein bäuerliches Leben zu führen. Er bemüht sich, ein herunter gekommenes Cottage auf Vordermann zu bringen, und das verwilderte Grundstück mit der Sichel von wild wucherndem Gras und Unkraut zu befreien. Es ist eine ärmliche Existenz, und die beiden kleinen Mädchen sind nicht unbedingt glücklich, zumal das Verhalten ihres Vaters ständig zwischen Zärtlichkeit, Strenge und cholerischer Wut hin und her schwankt.
Die Handlung wird unvermittelt immer wieder von Röntgenaufnahmen mutierter Versuchstiere und ähnlichem Bildmaterial unterbrochen, womit einerseits das ökologische Thema eingeführt wird, was dem ganzen andererseits aber auch ein beunruhigend surreales Flair verleiht. Daneben bekommen wir Luftaufnahmen von einer in monotonen Baum- oder Buschreihen angelegten Obstplantage zu sehen, die zusammen mit dem knatternden Geräusch eines Helikopters einmal mehr auf die Pestizid-Thematik verweisen.   
Mit dem ersten Auftritt der Weißen Lady (Meg Wynn Owen), die eine Sense haltend die Kinder erst aus der Ferne beobachtet, um dann nächtens in ihrer Kammer aufzutauchen, erhält der Film zudem eine an Penda's Fen erinnernde symbolistische Qualität. Wenn dabei der Schatten der Sense über die Gestalten der schlafenden Mädchen fällt, zitiert Rudkin außerdem Carl Theodor Dreyers Klassiker Vampyr (1932) an, den er offensichtlich tief verehrt.
Schließlich zeigt sich die Weiße Lady den beiden Kindern in einem benachbarten Wäldchen, wobei ihr Verhalten ganz dem einer übelwollenden Feenkönigin aus der keltischen Folklore gleicht. Sie lockt die Mädchen mit von prachtvollem Obst und Gemüse überquellenden Tischen an, verführt sie dazu, von den magischen Früchten zu kosten, und erklärt ihnen daraufhin, sie werde sie mit in ihr Reich nehmen und an ihrer Statt zwei Wechselbälger bei ihrem Vater zurücklassen, die das "Mal meines Kusses" tragen werden.
Wenn wir gezeigt bekommen, dass sich unter den blütenweißen Tischdecken in Wirklichkeit metallene Pestizid-Fässer verbergen, wird überdeutlich, was die Weiße Lady verkörpert, und dass wir beim "Mal ihres Kusses" an die Aufnahmen der verkrüppelten und mutierten Tiere denken sollen.

Wie gesagt, die Öko-Botschaft ist nicht eben subtil. Doch ich denke, man wird dem kurzen Film nicht ganz gerecht, wenn man ihn auf eine simple Warnung vor den Gefahren der Agrochemie reduziert. Vor allem die Figur des Vaters scheint mir mit komplexeren sozialen Themen verknüpft zu sein.

Gil ist ganz offensichtlich kein "echter" Bauer. Die Gründe dafür bleiben zwar ungenannt, doch sein Bemühen, zu einem ländlichen Leben zurückzukehren, war eine bewusste Entscheidung. Als seine Töchter ihn fragen, ob die Familie "arm" sei {was sie ohne Zweifel ist}, antwortet er, sein Ziel sei es, seine Kinder dazu zu erziehen, "to need very little. - strong against all harm". Die Weiße Lady wiederum sagt später über ihn: "Poor sheep of a man. Once, long ago, he lost the land he lived from. Next he lost his country."
Soll Gil den Arbeiter verkörpern, der vor Jahrhunderten gewaltsam von seinem Grundbesitz und damit von der bäuerlichen Welt getrennt wurde {was in England ein besonders brutaler Akt war}, und der nun auch im modernen bürgerlichen Staat zu einer macht- und stimmlosen Existenz verdammt ist? Und ist sein Handeln als der verzweifelte Versuch zu interpretieren, diese verlorene Verbundenheit zum Land {und damit seine Würde und Freiheit} wieder zurückzugewinnen? Ein Bemühen, das schon deshalb zum Scheitern verurteilt ist, weil er nicht erkennt, dass die eigentliche Wurzel seiner momentanen Lage im Privateigentum zu suchen ist? Ermahnt er seine Töchter doch immer wieder wütend, dass sie nicht "auf anderer Leute Land" spielen sollen?

Zieht man zum Vergleich Penda's Fen heran, scheint mir eine derartige Interpretation nicht gar zu weit hergeholt. Aber auch wenn man sich in dieser Frage nicht endgültig festlegen will {und ich selbst würde das auch nicht tun}, hat White Lady in seiner für Rudkin so typischen surreal-symbolistischen Art auf jedenfall mehr zu bieten als eine simple Öko-Message.

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