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Mittwoch, 28. März 2018

Stumm & Phantastisch (1): "Himmelskibet"

Letzten Monat konnten wir den einhundertsten Geburtstag eines Filmes feiern, der manchmal als der erste Space Opera - Streifen der Geschichte bezeichnet wird. Grund genug, eine alte Idee wieder aufzugreifen und mich auf meinem Blog einmal der Phantastik der Stummfilmära zuzuwenden. Ob daraus mehr werden wird als dieser vereinzelte Beitrag, bleibt abzuwarten. Angesichts der Tatsache, dass ich bisher nur eine einzige meiner vollmundig angekündigten Blogpost - Reihen* tatsächlich zum Abschluss gebracht habe, sollte ich wohl endlich damit anfangen, mich in dieser Hinsicht etwas zurückzuhalten. Trotzdem gebe ich diesem Post den Titel "Stumm & Phantastisch (1)", in der Hoffnung, dass es irgendwann auch ein (2) oder (3) geben wird. Heute jedenfalls wollen wir uns dem dänischen Science Fiction - Streifen Himmelskibet (Das Himmelsschiff) zuwenden, der am 22. Februar 1918 im heimatlichen Kopenhagen das Licht der Kinowelt erblickte.

Der SciFi-Film selbst ist natürlich deutlich älter. Ich verweise da bloß auf George Méliès' von Jules Verne und H.G. Wells inspirierten Le Voyage Dans La Lune (1902), aus dem das ikonische Bild des von einem Projektil ins Auge getroffenen Mondgesichtes stammt und der rasch zu so großer Berühmtheit gelangte, dass Segundo de Chomón bloß sechs Jahre später mit Excursion En La Luna ein wirklich schamloses Rip-off {oder Reboot?} kreierte, das das Original bis in einzelne Szenen hinein kopiert. {Und doch seinen eigenen Charme besitzt. Von dem möglichen antikolonialistischen Subtext findet sich hier zwar nichts mehr, doch dafür können wir uns an dem bezaubernden Auftritt eines kleinen Mondballetts erfreuen.}**

Dass Dänemark zu den führenden filmproduzierenden Nationen der Ära vor dem 1. Weltkrieg gehörte, dürfte den meisten heute wahrscheinlich eher unbekannt sein. Weniger überraschend ist dann vermutlich, dass die von Ole Olsens 1906 gegründetem Unternehmen Nordisk Film dominierte dänische Filmindustrie jener Zeit in erster Linie vom Export lebte. Der Kriegsausbruch bereitete jedoch nicht von vornherein Probleme. Vielmehr bemühte sich Nordisk in den ersten Jahren mit einigem Erfolg darum, den deutschen Markt zu erobern, von dem der große Rivale Pathé nun verbannt war. Doch spätestens 1917 ging es endgültig abwärts. Staatliche Maßnahmen hatten die Firma inzwischen aus Deutschland verdrängt und nun brach mit der Revolution auch der russische Markt zusammen. Die Blütezeit der frühen dänischen Filmindustrie war unwiderruflich zuende. Dennoch gelang es Nordisk ein Jahr später mit Himmelskibet noch rasch, sich  einen fetten Eintrag in die Annalen des Science Fiction - Films zu verdienen.*** Auch wenn die Bezeichnung "erste Space Opera" schon etwas irreführend ist, wie wir gleich sehen werden.

Inspiriert von den visionären Ideen seines Vaters Professor Planetaros (Nicolai Neiiendam) macht sich der stets zu neuen Abenteuern bereite Avanti Planetaros (Gunnar Tolnæs) daran, einen bemannten Raumflug zum Mars auf die Beine zu stellen. Dabei steht ihm sein enger Freund Dr. Krafft (Alf Blütecher), der außerdem eine keusch-leidenschaftliche Liebesbeziehung zu Avantis Schwester Corona (Zanny Petersen) unterhält, als engster Mitstreiter zur Seite. Trotz der gehässigen Versuche des missgünstigen Professors Dubius (Frederik Jacobsen), das Projekt öffentlich lächerlich zu machen, gelingt es den beiden innerhalb eines Jahres, das Raumschiff Excelsior -- das eher einem sympathisch schmerbäuchigen Flugzeug ähnelt -- zu konstruieren und eine Mannschaft für ihre Expedition zu rekrutieren. Selbige ist erstaunlich multinational. Neben dem {leider trunksüchtigen} Amerikaner David Dane (Svend Kornbeck) gehört auch ein äußerst ehrenhafter Vertreter "des Ostens" zur Crew, unter dem wir uns vermutlich einen Chinesen oder Japaner vorstellen sollen, auch wenn der Schauspieler nicht im Entferntesten etwas Asiatisches an sich hat.

Zusammen mit der angenehmen Abwesenheit jedweden patriotischen Traras, an dessen Stelle das Beschwören eines universalen Menschheitsideals tritt, deutet dies bereits darauf hin, dass wir es nicht mit der typischen Weltraumforschersaga zu tun haben. Na ja, die ulkigen Namen sind natürlich auch ein Hint.
Als Himmelskibet gedreht wurde, befand sich Europa im vierten Jahr des großen Völkergemetzels, dem zu diesem Zeitpunkt Millionen zum Opfer gefallen waren und das ganze Landstriche in öde Wüsteneien verwandelt hatte. Vor diesem Hintergrund wollten Ole Olsen und der Schriftsteller Sophus Michaëlis, die zusammen für das Drehbuch verantwortlich waren, mit ihrem SciFi - Film offenbar einen Appell für Frieden und Völkerverbüderung auf die Leinwand bringen. Ein ehrenwertes Anliegen, das jedoch nicht notwendigerweise zu einem gelungenen Film führen musste.

Dem anzitierten Vorbild Kolumbus entsprechend kommt es während des Marsflugs beinah zu einer Meuterei auf der Excelsior, bei der sich Dane als Haupträdelsführer und der "Asiate" als einzig vertrauenswürdiger Kamerad unserer Helden erweist. Doch bevor offene Gewalttätigkeiten ausbrechen, sorgen die Marsianer mit ihrer überlegenen Technik dafür, dass das Erdenschiff früher als geplant auf dem roten Planeten ankommt.
Traditionellerweise gilt Mars natürlich als Planet des Kriegsgottes. Und angesichts des metaphorischen Charakters von Himmelskibet ist es sicher kein Zufall, dass sich unsere mutigen Forscher gerade diesen Himmelskörper als Ziel ausgesucht haben.**** Was sie dort erwartet, ist jedoch das genaue Gegenteil: Ein pazifistisches Paradies, bevölkert von weisen Vegetariern in weißen Roben und Gewändern.
Sich Gedanken über das klügste Vorgehen bei einem Erstkontakt zu machen, gehörte offenbar nicht zu Avantis Expeditionsvorbereitungen, denn um zu demonstrieren, wie wir Erdlinge an unser Essen kommen, zieht er rasch seine Pistole und schießt eine Gans vom Himmel. Als wie zu erwarten ein Tumult unter den geschockten Marsianern ausbricht, schleudert der stumpfsinnige Dane auch noch eine Handgranate in die aufgebrachte Menge. Unsere Helden haben verdammtes Glück, dass die sanftmütigen Marsbewohner in ihrer Gesellschaft das Konzept von "Strafe" schon vor langem abgeschafft haben. Statt wegen versuchten Totschlags vor Gericht gestellt zu werden, gibt man ihnen eine Lektion über die Unsinnigkeit von Gewalt. Nach ihrer mirakulös raschen Bekehrung zu Love & Peace werden die Raumfahrer in die weißen "Mäntel  der Unschuld" gekleidet und dürfen sich in aller Ruhe an der arkadischen Schönheit des Mars erfreuen.
Wie sich's gehört verliebt sich Avanti natürlich sofort in eine marsianische Schönheit (Lilly Jacobson), was uns die Gelegenheit gibt, solch poetisch benamste Orte wie den "Baum des Verlangens" und den "Wald der Liebe" kennenzulernen.
Daheim auf der Erde geht es dem alten Professor Planetaros und Corona allerdings weit weniger gut, müssen sie doch fürchten, dass ihre Liebsten für immer im All verschollen sind. Die ewigen Sticheleien des fiesen Dubius helfen da auch nicht grade. 
Schließlich drängt Dr. Krafft zur Rückkehr. Die Sehnsucht nach seiner geliebten Corona ist einfach zu stark. Gemeinsam mit Avantis marsianischer Angetrauten macht sich die Crew der Excelsior auf den Rückflug, um der Menschheit die Botschaft von Liebe, Frieden und Völkerverbrüderung zu bringen.

Himmelskibet ist zweifelsohne fürchterlich naiv. Vergegenwärtigen wir uns kurz den historischen Kontext: Wenige Monate zuvor war in Russland die Oktoberrevolution ausgebrochen. Die Bolschewiki hatten nach ihrer Machtergreifung umgehend die Völker aller kriegsführenden Nationen zum Abschluss eines demokratischen Friedens aufgerufen, "ohne Annexionen und Wiedergutmachungen, auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker". Sie nutzten die Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten in Brest-Litowsk als Plattform, um diesem Aufruf weltweit Gehör zu verschaffen. Daraufhin war es im Januar erst in Wien, dann in Berlin zu gewaltigen Streiks gekommen, an denen sich Hunderttausende beteiligten. An der Spitze der Forderungen der Arbeiter und Arbeiterinnen hatte der Ruf nach einem demokratischen Frieden gestanden. In Österreich-Ungarn war es sogar bereits zur Bildung erster Arbeiterräte gekommen. Staatliche Repressionen und die verräterische Politik der Sozialdemokraten***** hatten die Bewegung vorerst abgewürgt. In der selben Woche, in der Himmelskibet in die dänischen Kinos kam, begannen die Armeen der Mittelmächte ihren Vormarsch in die Ukraine und das Baltikum, nachdem die Verhandlungen in Brest-Litowsk abgebrochen worden waren.
Zu glauben, ein simpler Appell an das Gute im Menschen und die Macht der Liebe könnte ausreichend sein, um die Welt vom Krieg zu befreien, musste angesichts dieser heftigen Kämpfe selbst aus Perspektive des neutralen Dänemark ziemlich absurd wirken.
Interessanterweise verweist Himmelskibet nie direkt auf den Weltkrieg, auch wenn der Film ganz ohne Zweifel als eine Reaktion auf diesen verstanden werden muss. Vielleicht schreckten Ole Olsen und Sophus Michaëlis davor zurück, ganz direkt politisch Stellung zu beziehen. Wer weiß? Wenn dem friedvollen Idyll des Mars die "böse Erde" entgegengestellt wird, bekommen wir jedenfalls keine Bilder von Schützengräben und dem granatenzerfurchten Niemandsland zu sehen, sondern Szenen von nächtlich-mondänen Parties. Was die mit Gewalt zu tun haben sollen, ist zwar nicht so ganz klar, doch verweisen sie recht deutlich darauf, dass der Pazifismus von Himmelskibet auf einer christlich-protestantischen Grundlage basiert. Der Krieg ist bloß ein weiteres Beispiel für "sündiges Verhalten", ganz so wie der übermäßige Genuss von Alkohol {nicht zufällig ist David Dane ein Säufer}. Mehr als einmal sinken unsere Helden zum Gebet auf die Knie, und in der utopischen Marsgesellschaft zelebriert man den "Tanz der Keuschheit". Die weisen Marsianer in ihren mit dem Ankh verzierten Roben haben zwar etwas leicht theosophisches, vielleicht auch freimaurerisches an sich, aber das scheint mir nicht dem protestantischen Grundton zu widersprechen. Derselbe erklärt vielleicht auch, warum Professor Dubius ein so alttestamentarisches Ende findet und vom Blitz erschlagen wird {dabei hatte er doch eigentlich nichts schlimmeres getan als gehässige Reden zu schwingen}.

Dennoch bleibt Himmelskibet aufgrund seiner pazifistisch-humanistischen Message ein durchaus sympathischer Streifen. Und auch wenn es ihm ein wenig an Dynmaik und echten Konflikten mangelt, gibt es doch genug Gründe, warum Freundinnen & Freunde des SciFi-Films ihn sich bei Gelegenheit einmal anschauen sollten. Hauptdarsteller Gunnar Tolnæs mag ein wenig sehr zu theatralischen Gesten neigen, aber daran gewöhnt man sich nach einiger Zeit. Die Excelsior ist ein wirklich putziges Raumschiff, eine Art geflügelter Kleinbus, dessen Inneres bloß ein wenig zu geräumig erscheint, und so immer noch etwas von der klaustrophobischen Atmosphäre einer realen Weltraumexpedition an sich hat. Regisseur Holger-Madsen und Kameramann Louis Larsen verstanden ihr Handwerk sehr gut und erfreuen uns sowohl mit als düstere Silhouetten gestalteten Szenen von der Erde als auch mit hübsch-romantischen Landschaftsbildern vom Mars.

        


* Diese glorreiche Ausnahme ist "Vampire in Amerika", in der ich mich mit einigen amerikanischen Vampirfilmen der 70er Jahre beschäftige: Teil 1 * 2 * 3 * 4 * 5 * 6 * 7 * 8
** Ich verweise alle Interessierten auf Fritzi Kramers Besprechungen der beiden Filme: Méliès / Chomón. Nebenbei bemerkt verdanke ich meine Bekanntschaft mit Himmelskibet gleichfalls der wundervollen Fritzi, deren eigenen Beitrag zu dem Streifen man hier auf ihrem Blog Movies Silently findet.
*** Ein Genre, zu dem die Dänen übrigens erst vierundvierzig Jahre später mit dem Schlock-Klassiker Reptilicus (1962) zurückkehren sollten. Der wäre auch mal einen Blogpost wert ...
**** Freilich hatte der Film zuvor bereits eine weitere symbolische Dimension eingeführt. Auf Dantes Divina Comedia Bezug nehmend, in der die Marssphäre den Himmel der Märtyrer bildet, war Mars als der Leitstern jener bezeichnet worden, die zur Erreichung eines edlen Ziels bereit sind, die größten Opfer zu bringen.
***** Friedrich Ebert in einer Rede an die Streikenden: "It is the duty of the workers to support their brothers and fathers who are at the front and to make the best possible weapons for them ... as the English and French workers are doing for their brothers at the front in their working hours ... Victory is the dearest wish of all Germans." (Zit. nach: Pierre Broué: The German Revolution 1917-1923. S. 107.) 

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