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Sonntag, 7. Januar 2018

Ein Sowjet-Peplum?

Der alte Kosak Ilja Muromez
Sah: Das war kein geringes Ding.
Einen Tataren Ilja an den Beinen packt,
Schwenkt den Tataren hin und her,
Schlägt mit dem Tataren auf die Tataren ein,
Da ergriffen die Tataren die Flucht vor ihm*

Wer außer mir fühlt sich bei diesen Versen aus dem altrussischen Heldenlied Ilja und Zar Kalin an die Peplums der 50er und 60er Jahre erinnert, jene famosen italienischen Sandalenfilme, in denen bärenstarke Heroen wie Herkules, Maciste oder Samson ihre Widersacher nicht selten auf ganze die selbe Weise durch die Gegend schleudern?

Man ist vermutlich geneigt, anzunehmen, nichts könne dem farbenfrohen Peplum ferner stehen als der stalinistisch sanktionierte sowjetische Film derselben Ära. Doch tatsächlich haben vor allem Alexander Ptuschkos Fantasyepen der 50er Jahre manches gemein mit ihren italienischen Beinah-Zeitgenossen. Natürlich stammen die Helden hier nicht aus dem Sagenkreis der mediterranen Antike, sondern hauptsächlich aus den altrussischen Heldenepen (Bylinen) im Falle der sowjetisch-finnischen Koproduktion Sampo (1959) auch aus der Kalevala , und dem Klima entsprechend rennt keiner von ihnen im Lendenschurz durch die Gegend, aber wenn der Titelheld in Ilja Muromez (1956) einen riesigen Felsblock durch die Gegend wuchtet oder einen der Schergen des bösen Zaren Kalin kurzerhand von den Füßen reißt und kopfunter durchschüttelt, fühlt man sich doch ein bisschen an Herkules, Maciste & Co erinnert.

Aber bevor wir uns diesen Streifen etwas genauer betrachten, wollen wir einen kurzen Blick darauf werfen, wie sich die offizielle Position von Partei & Staat in der UdSSR zu den überkommenen Stoffen aus Märchen und Sage entwickelt hatte. Ist dies doch der Kontext, in dem man die Produktion von Ptuschkos phantastischen Filmen zu sehen hat.

Im ersten Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution hatte eine solche offizielle Parteilinie nicht existiert.
Wie in den meisten Bereichen des sowjetischen geistigen und kulturellen Lebens hatte es in den 20er Jahren auch in der Folkloristik einen lebendigen und offenen Wettstreit zwischen unterschiedlichen Denkrichtungen gegeben. Neben der an vorrevolutionäre Traditionen anknüpfenden "historischen Schule", deren führende Vertreter S.K. Schambinago, M.N. Speranski und die Brüder Boris & Juri Sokolow waren, standen die "finnische" bzw. "historisch-geographische" und die formalistische Schule. Vor allem die Formalisten standen dem Marxismus zwar denkbar fern, doch hatten auch sie unter keinen staatlichen Restriktionen zu leiden.
Zur selben Zeit hatten die Vertreter der RAPP (Russische Vereinigung Proletarischer Schriftsteller) und des Proletkult (Proletarische Kulturbewegung) einen wahren Feldzug gegen die Folklore eröffnet, in der sie bloß ein reaktionäres Überbleibsel der Vergangenheit erblickten, das es schnellstmöglich auszurotten gelte. So hatten sie u.a. versucht, das Märchen aus der Kinderliteratur zu verbannen. Schließlich hieß der Held da gar zu oft "Iwan Zarewitsch". Wenn es darum ging, pseudoradikale und simplistische Ideen zu entwickeln, war auf die Bannerträger der "proletarischen Kultur" stets Verlass.
Als die stalinistische Bürokratie in der zweiten Hälfte der 20er Jahre begann, ihre absolute Kontrolle über alle Bereiche des sowjetischen Lebens zu konsolidieren, bediente sie sich der RAPP, um die Literarur ihrer Herrschaft dienstbar zu machen und in ein bloßes Propagandawerkzeug zu verwandeln. Von 1929 bis 1932 wurden deren Ideen zur quasi-offiziellen Doktrin. Als das ZK 1932 die Auflösung aller unabhängigen Schriftstellerverbände befahl, fiel dann allerdings auch die RAPP in Ungnade und wurde in der Folge zum Sündenbock für alle möglichen "Exzesse" und "Abweichungen" der vorangegangenen Jahre gemacht, zu denen auch die unterschiedlose Verdammung der Folklore gehörte.
Das weitere Schicksal der Märchen, Sagen und Heldenepen war aufs engste verknüpft mit der Wiederbelebung des großrussischen Nationalismus, die zentraler Bestandteil der reaktionären Kehrtwende war, welche die stalinistische Führung Mitte der 30er Jahre in allen Bereichen der Kultur vollzog. 
Der altgediente Agitprop-Dichter Demjan Bedny bekam dies 1936 auf bittere Weise zu spüren, als er ein neues Libretto für Alexander Borodins romantische Oper Bogatyri (Die Recken) verfasste, in dem er die waffenklirrende Herrlichkeit der alten Ritter und Helden verspottete. Molotow soll nach der Premiere wutentbrannt erklärt haben: "Eine Schande! Die Recken waren große Männer!"** Die Operninszenierung wurde umgehend vom Spielplan genommen und nur durch jahrelange rückgratlose Kriecherei konnte sich der Dichter das Wohlwollen Stalins schließlich zurückerobern.
Die Bylinen galten von nun als "patriotische Dichtungen". Zugleich wurden sie einer populistischen Neuinterpretation unterzogen. Die Folkloristen der "historischen Schule", die in den 20ern manch Elemente des Marxismus aufgegriffen hatten, sahen in den Heldengesängen {wohl nicht ganz zu Unrecht} ein künstlerisches Produkt der feudalen Aristokratie und ihrer Gefolgschaften (Druschina), das erst später in die bäuerlichen Massen "herabgesickert" sei. Eine solche Sichtweise war nun nicht länger akzeptabel, und die betreffenden Wissenschaftler wurden dementsprechend gemaßregelt. Stattdessen griff man auf die "völkischen" Vorstellungen der deutschen Romantik zurück und erklärte die Bylinen zusammen mit dem ganzen Rest der Folklore zu Schöpfungen des kollektiven "Volksgeistes", dem man zur "kommunistischen" Einsegnung rasch noch das Attribut "werktätig" hinzufügte. Dabei konnten die Stalinisten leider einmal mehr den alten Maxim Gorki als ihren "Literaturpapst" missbrauchen. Hatte dieser in seiner Rede auf dem Ersten Allunionskongress des Sowjetischen Schriftstellerverbandes 1934 doch gesagt:

Noch einmal möchte ich Sie daran erinnern, Genossen, dass die bedeutendsten und markantesten, künstlerisch vollkommensten Typen von der Folklore, dem mündlichen Schaffen des arbeitenden Volkes, hervorgebracht wurden. Herkules, Prometheus, Mikula Seljaninowitsch, Swjatogor, ferner Doktor Faust, die weise Wassilissa, der ironisch gestaltete Glückspilz Iwan der Trottel und schließlich Petruschka, der den Doktor, den Popen, den Polizisten, den Teufel und sogar den Tod besiegt -- sie alle sind vollkommene Gestalten, bei deren Schöpfung Ratio und Intuition, Gedanke und Gefühl harmonisch miteinander verschmolzen.***
Der gute Gorki war schon immer ein Romantiker gewesen. Und gerade das macht ihn in vielem sympathisch. Für eine Autorität im Bereich der historischen Literaturwissenschaft sollte man ihn jedoch lieber nicht halten. Nicht unerwähnt bleiben soll allerdings, dass von allen Recken des Kiewer Bylinen - Kreises Ilja Muromez noch am ehesten in dieses völkisch-romantische Bild passt, ist er doch ohne Zweifel bäuerlicher Herkunft und gerät mehr als einmal in Konflikt mit Fürst Wladimir, dem russischen König Artus.

Der aus der Ukraine stammende Regisseur Alexander Ptuschko hatte seine ersten großen Erfolge im Bereich des Animationsfilms feiern können. Seine beeindruckendste Leistung war dabei wohl Der neue Gulliver (1933) gewesen, in dem Kinderdarsteller Wladimir Konstantinow mit ganzen Heerscharen von Stop-Motion-Figuren interagiert. In der Folge hatte er sein eigenes Stop-Motion-"Kollektiv" bei Mosfilm aufgebaut, das sich in erster Linie auf Märchenstoffe konzentrierte.
Der Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion 1941 führte zu einem deutlichen Bruch in Ptuschkos Laufbahn. Er wurde zusammen mit einem Großteil der sowjetischen Filmindustrie nach Kasachstan evakuiert, wo er zwar weiterarbeitete, aber keine eigenen Filme mehr drehte.
Als er nach dem Ende des Weltkriegs erneut auf dem Regiestuhl Platz nahm, wandte er sich zwar wieder phantatischen Stoffen zu, diesmal jedoch im Realfilm. Seine Meisterschaft der Stop-Motion-Technik kam ihm dabei natürlich auch weiterhin zu Gute. Ilja Muromez (1956) war nach der Steinernen Blume (1949) und Sadko (1952) sein drittes Werk in dieser zweiten Schaffensphase.
Auch wenn der Film ein gutes Jahrzehnt nach dem Ende des Krieges entstand, scheint es mir wichtig, das furchtbare Gemetzel, dem Abermillionen Sowjetbürger und -bürgerinnen zum Opfer gefallen waren und das einen entsprechend tiefen Eindruck im gesellschaftlichen Bewusstsein hinterlassen hatte, als Hintergrund mit in Betracht zu ziehen, wenn man sich Ilja Mumorez anschaut. Der heroische Widerstand der Bevölkerung gegen die Naziinvasoren war in der offfiziellen Propaganda zum "Großen Vaterländischen Krieg" verklärt und damit aufs engste mit der Wiedergeburt des großrussischen Nationalismus verbunden worden. Hieran knüpft Ilja Mumorez an, denn die Verteidigung der "Heimat", des geliebten "Mütterchens Russland" ist das zentrale Motiv des epischen Streifens.

Der Film beginnt mit dem riesenhaften Recken Swjatogor, der dabei ist, die Erde, die eine mythische Gestalt wie ihn nicht länger zu tragen vermag, zu verlassen. Doch bevor sich er und sein Pferd in einen Teil des Kaukasus-Gebirges verwandeln, übergibt er sein Schwert einer Gruppe wandernder Sänger mit dem Auftrag, einen Helden zu suchen, der würdig ist, es in seiner Nachfolge zu führen.
Derweil wird das Dorf Karatscharowo von den bösen Tungaren/Tataren überfallen. Ilja (Boris Andrejew) muss hilflos mitanschauen, wie seine geliebte Wassilissa (Ninel Myschkowa) von den asiatischen Kriegern entführt wird, denn auch wenn er "den Körper eines Riesen" besitzt, ist es ihm seit seiner Geburt unmöglich, seine Glieder zu bewegen.
Wenig später tauchen die Sänger in der Siedlung auf, erkennen in Ilja den gesuchten Helden, verabreichen ihm einen magischen Heiltrunk und übergeben ihm Swjatogors Schwert.. Von seinem Fluch befreit und mit übermenschlichen Kräften gesegnet, beschließt der Bauernsohn, nach Kiew an den Hof des Fürsten Wladimir zu ziehen, um als Recke für die Verteidigung der russischen Heimat zu kämpfen. Von einem Nachbarn**** erhält er ein Fohlen, das auf wundersame Weise in drei Tagen zu einem Streitross heranwächst.  
Auf dem Weg nach Kiew begegnet Ilja Muromez dem monströsen Räuber Nachtigall, dessen Pfeifen einem Sturmwind gleicht, und bezwingt ihn. Am Hof von Fürst Wladimir (Andrei Abrikosow) angekommen, gerät er zuerst in einen kurzen Streit mit dem jungen, draufgängerischen Recken Aljoscha Popowitsch (Sergei Stoljarow), der ihn aufgrund seiner bäuerlichen Herkunft etwas spöttisch und herablassend behandelt. Doch nachdem Ilja den gefangenen Nachtigall vorgeführt und damit sein Heldentum unter Beweis gestellt hat, kommt es unter Vermittlung des alten Kriegers Dobrynja Nikititsch (Georgi Djomin) rasch zur Versöhnung und zum Bruderschwur der drei Recken.
Als wenig später ein Gesandter des Tugaren-Zars Kalin in Kiew eintrifft eine zu monströser Größe angeschwollene Gestalt, die auf einem von Sklaven getragenen Schild hockt und die Tributforderungen seines Herrn überbringt, zögert Ilja nicht lange und erschlägt den anmaßenden Gesellen.***** Diplomatie gehört offensichtlich nicht zu den Talenten unseres Helden, was sein Ansehen beim Volk von Kiew jedoch nur noch steigert. Freilich hat er sich mit dem feigen und verräterischen Mischatychka (Sergei Martinson) auch schon sofort einen Feind am Hofe gemacht.
Als Fürst Wladimir unseren Helden auf einen entfernten Grenzposten schickt, belohnt das Schicksal ihn damit, eine Gelegenheit zu erhalten, seine geliebte Wassilissa aus den Klauen der Tungaren zu befreien.
Das Glück der beiden ist freilich nicht von langer Dauer, denn aufgrund von Mischatychkas Machenschaften landet die nunmehr schwangere Schönheit alsbald schon wieder in der Gefangenschaft von Zar Kalin (Schukur Burchanow). In der Folge beschließt der böse Tyrann, den kleinen Sokolnitschek an Sohnesstatt anzunehmen. Iljas und Wassilissas Kind wächst in wenigen Jahren zu einem unvergleichlichen Krieger (Alexander Schworin) heran, vergisst darüber jedoch seine wahre Herkunft.
Derweil ist Ilja Muromez nach Kiew zurückgekehrt, wo Mischatychka dafür gesorgt hat, dass er beim Fürsten Wladimir in Ungnade gefallen ist und als vermeintlicher Rebell in den Kerker geworfen wurde, woraufhin Aljoscha Popowitsch und Dobrynja Nikititsch den Hof verlassen haben.
Doch als Zar Kalin seine unermesslichen Heerscharen gegen Russland {Rus}****** in Bewegung setzt, muss der Kiewer Herrscher einsehen, dass sein Reich ohne die drei Recken dem sicheren Untergang geweiht ist.

Zuerst einmal die Schwachpunkte des Films: Das patriotische Pathos kann mitunter schon etwas auf die Nerven gehen. Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft die "russische Heimat" beschworen wird, die es gegen die heidnischen Barbaren zu verteidigen gelte.*******
Regelrechte Actionszenen scheinen nicht Alexander Ptuschkos Stärke gewesen zu sein. Oder vielleicht hatte Hauptdarsteller Boris Andrejew einfach nicht das Zeug dazu, einen Kampf Mann gegen Mann glaubhaft rüberzubringen, weshalb man auf solche Szenen lieber verzichtete. Mitunter wirkt es beinah so, als wären die entsprechenden Sequenzen aus dem Film herausgeschnitten worden: Wir bekommen den Beginn eines Kampfes zu sehen und springen dann völlig abrupt zu dessen Ende. Sehr merkwürdig ...
Die Handlung selbst wirkt mitunter seltsam sprunghaft. Was sich zum Teil dadurch erklären lässt, dass das Drehbuch sich alles in allem überraschend eng an den alten Heldenliedern orientiert, die gleichfalls episodischen Charakter tragen. Die altrussische Heldenepik hat meines Wissens nach kein einziges wirkliches "Epos" wie die Ilias, das Ramayana, den Gesar oder das Nibelungenlied hervorgebracht. Von Drehbuchschreiber Michail Kochnjew hinzugefügte Figuren wie Wassilissa und Mischatychka dienen dazu, die Episoden zu einer durchgehenden Handlung zusammenzubinden, können den ursprünglichen Charakter aber nicht gänzlich verschleiern.
Diese erstaunliche Quellentreue entschuldigt bis zu einem gewissen Grad auch, dass keine der Figuren über irgendeine nennenswerte menschliche Tiefe oder Komplexität verfügt. Schade ist es dennoch, dass z.B. Iljas "Reckenbrüder" recht blasse Gestalten bleiben. So wird zwar anfangs das Motiv einer Liebesaffäre eingeführt, die der draufgängerische Aljoscha Popowitsch mit einem Edelfräulein unterhält, wovon deren Eltern gar nicht begeistert sind. Doch löst sich dieser Handlungsstrang schon bald in Wohlgefallen auf und wird nicht noch einmal aufgegriffen.

Auch die eher burlesken Elemente des Films lassen sich übrigens auf die alten Heldenlieder zurückführen. So etwa  wenn am Ende der bezwungene Zar Kalin kurzerhand in einen Sack gestopft und von den Recken davongetragen wird. Was einen eigenartigen Kontrast zu den recht grausigen Toden bildet, die seine beiden engsten Berater zu erleiden haben. Diese werden auf Lanzen aufgespießt und über dem Schlachtgetümmel regelrecht zur Schau gestellt. 

In einem Punkt weicht Ptuschkos Film allerdings sehr deutlich von seinen Quellen ab: Der Kampf zwischen Vater und Sohn ist ein in der Heldenepik weitverbreitetes Motiv. In Irland haben wir Cú Chulainn und Connla, im persischen Shahnahmeh Rostam und Sohrab, in der germanischen Überlieferung Hildebrand und Hadubrand. Und das sind nur die bekanntesten. In ihrer klassischen Form endet diese Konfrontation stets mit dem Tod des Sohnes. Und die altrussischen Bylinen folgen in ihrer Schilderung des Kampfes zwischen Ilja Muromez und seinem Sprössling ganz dieser Tradition.******** Ptuschko hingegen gibt der Begegnung eine glückliche Wendung. Der Film endet gar mit der Übergabe von Swjatogors Schwert an Sokolnitschek, der damit die Rolle seines Vaters als Verteidiger Russlands übernimmt.

Eine der sympathischeren Facetten von Ilja Mumorez ist das wenig schmeichelhafte Bild, das der Film von den Bojaren, Fürst Wladimirs mächtigsten Vasallen, zeichnet. Keiner von ihnen ist ein regelrechter Verräter wie der böse Ratgeber Mischatychka, aber sie alle empfinden wenig Sympathie für den plebejischen Ilja und streiten sich lieber über konkurrierende Besitzansprüche an Ländereien, Forsten und Flüssen, anstatt die Verteidigung ihrer Heimat gegen Zar Kalin zu organisieren.********* Als positiver Gegenentwurf erscheint der Handwerker Rasumey (Michail Pugowkin), der widerrechtlich Holz aus den Waldungen der Bojaren entwendet, um Waffen zum Kampf gegen die Feinde herzustellen. In die finale Schlacht greift er entscheidend mit den von ihm entwickelten Ballisten ein.

Es wird behauptet, Ilja Muromez sei bis heute der Rekordhalter in der Anzahl von Statisten und Pferden, die die Leinwand bevölkern. Ob dies stimmt, weiß ich nicht, aber die Szenen, in denen wir Zar Kalins Heer nach Kiew marschieren sehen, hinterlassen in der Tat einen Eindruck, der dem in der Byline beschriebenen sehr nahe kommt:

Herbeigezogen war eine Macht so groß,
 Dass vom Geschrei der mächtigen Menschenschar  
Und vom lauten Gewieher der Pferde all 
Das menschliche Herz bekümmert ward. 
Der alte Kosak Ilja Mumorez 
Ritt hin durch die Weite des blachen Felds, 
Sah aber kein Ende der Heeresmacht. 
Er sprengt' einen hohen Berg hinan, 
Sah um sich nach allen vier Seiten hin, 
Schaut' auf die feindliche Heeresmacht, 
Doch konnt er kein Ende der Macht erschaun.  
Und um wieviel beeindruckender sind diese kurzen Szenen als all die computergenerierten Heerscharen, denen wir seit Peter Jacksons Lord of the Rings im Kino begegnen.

Doch ist es in erster Linie nicht das wahrhaft epische Ausmaß seiner Massenszenen, was Ilja Mumorez zu einem visuell atemberaubenden Film macht. Es ist die berückende Schönheit der Cinematographie. Der Streifen war der erste sowjetische Film im Breitbildformat, und Ptuschko nutzt diese technische Neuerung zur Erschaffung gewaltiger Panoramabilder, wobei er gleichzeitig eine quasi-malerische ästhetische Sensibilität unter Beweis stellt.
Nicht ohne Grund hat Mario Bavas Biograph Tim Lucas Parallelen zwischen dem Werk des sowjetischen Filmemachers und dem des italienischen Maestros gezogen. Wie bei Bava wirken auch bei Ptuschko manche Einstellungen wie filmgewordene Gemälde. Oder um den Namen eines anderen Großmeisters in Spiel zu bringen: In einer Szene sehen wir ein von Leichen übersätes Schlachtfeld, während im Hintergrund ein Trupp berittener Krieger entlangzieht – schwarze Silhouetten gegen den weiten Himmel. Augenblicklich fühlte ich mich an Akira Kurosawas Kagemusha erinnert.
Dabei schafft Ptuschko immer wieder höchst eigenwillige Bilder, wie den gewaltigen Berg aus lebendigen Menschen, den Zar Kalin hinaufreitet, um das Schlachtfeld zu überblicken.
Und auch wenn der finale Auftritt des dreiköpfigen Drachen Smei Goryny nicht an das heranreicht, was Ray Harryhausen zwei Jahre später in The 7th Voyage of Sinbad (1958) auf die Leinwand zaubern würde, ist er doch ein neckisches Ungeheuer, das den drei Recken und Sokolnitschek außerdem die Gelegenheit für einen letzten gemeinsamen Kampf bietet. Sehr schön fand ich übrigens, dass sich die Krieger dabei immer mal wieder mit Eimern voller Wasser überschütten lassen, um gegen die gewaltige Hitze des Drachen ankommen zu können.

Alles in allem ist Alexander Ptuschkos Ilja Muromez vielleicht kein Meisterwerk des phantatischen Kinos, aber doch ein Film, den ich allen Freunden & Freundinnen etwas altmodischer Fantasy wärmstens ans Herz legen kann. Dabei sollten sie jedoch tunlichst einen großen Bogen um die von Roger Corman kreierte, gekürzte und umgeschnittene amerikanische Fassung machen, die 1960 unter dem Titel The Sword and the Dragon in die Kinos gelangte. Zumal Mosfilm eine restaurierte und mit englischen Untertiteln versehene Originalversion auf Youtube zugänglich gemacht hat.    


* In: Ilja und der Räuber Nachtigall. Bylinen. S. 108f.
** Vgl.: Jürgen Rühle: Theater und Revolution. S. 101.
*** Maxim Gorki: Die sowjetische Literatur. In: Wie ich schreibe. Literarische Porträts, Aufsätze, Reden und Briefe. S. 566.
**** Wikipedia identifiziert den Nachbarn mit Mikula Seljaninowitsch, einem bäuerlichen Recken aus dem Nowgoroder Bylinen - Kreis. Ich kann mich nicht erinnern, dass der Name im Film tatsächlich fällt. Es gibt jedoch Überlieferungen, nach denen Iljas Reckenross in der Tat ein Nachkomme von Mikulas berühmtem Pferdchen sein soll. Auch passt das Bild des pflügenden Bauern ikonographisch gut zu dem Nowgoroder Helden. 
***** Gut möglich dass die Gestalt des Gesandten von "Idolischche Poganoje", dem riesenhaften "Götzenmann", inspiriert wurde. In der entsprechenden Byline prahlt dieser gegenüber Ilja Muromez: "Und ich ess zu jeder Mahlzeit soviel Brot,/ Wieviel drei Backöfen fassen,/ Und ich trinke dazuu drei Eimer voll,/ Jeweils drei Eimer voll grünen Weins,/ Und in meiner Kohlsuppe steckt immer ein ganzes Kalb, ein russisches."   
****** Ob die Kiewer Rus als "russisch" oder als "ukrainisch" einzuschätzen ist, mögen die konkurrierenden Nationalisten der beiden Länder unter sich ausmachen. Ich halte solche Fragestellungen für absurd und ahistorisch.
******* Die alten Heldenlieder enthalten freilich nicht selten tatsächlich ein protonationalistisches, mit der Idee des "Heiligen Russland" verknüpftes Element.
******** Interassenterweise existitiert eine Variante, in der es Ilja mit einer amazonenhaften Tochter zu tun bekommt. Der Ausgang ist allerdings derselbe.
********* Ein wenig hat mich diese Szene an die unter Stalin populär gewordene Interpretation der Herrschaft Iwans des Schrecklichen erinnert, dessen brutales Vorgehen gegen die alten Bojaren mit ihren feudalen Partikularinteressen als ein progressiver Schritt in der Geschichte Russlands interpretiert wurde. Der sowjetische Diktator sah sich selbst wohl als eine Art moderner Iwan Grosny.

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