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Freitag, 24. März 2017

Hitze, Dreck, Blut und verlorene Hoffnungen

Ich habe vor einiger Zeit begonnen, zum zweiten Mal K.J. Bishops faszinierenden Roman The Etched City zu lesen. Das 2003 erschienene Werk der australischen Schriftstellerin und Bildhauerin wird häufig als "dekadent" oder "neo-dekadent" beschrieben. Und in der Tat ist der Einfluss der literarischen Décadence deutlich zu spüren – nicht zufällig ist der Erzählung ein Zitat von Lautréamont vorangestellt. Doch auf diesen Aspekt möchte ich heute gar nicht weiter eingehen. Vielleicht werde ich das, wenn ich nach Abschluss meiner Lektüre – hoffentlich – eine ausführlichere Besprechung von The Etched City vorlegen kann. Im Moment will ich mich mit einer ganz anderen Inspirationsquelle beschäftigen, deren Einfluss im Eröffnungsteil des Romans sehr deutlich zu erkennen ist. 

In einem auf Strange Horizons veröffentlichten Interview hat die Autorin selbst einmal erklärt:
Films that influenced this particular book were Westerns and gangster movies. From those two genres, it's hard to pick specific films, but certainly the Fistful of Dollars trilogy, and a little-known Yul Brynner film called Invitation to a Gunfighter, where Brynner plays a suave, piano-playing gunslinger with a French name that he has to write on a blackboard for the townsfolk.*
Und tatsächlich sind die ersten fünfzig Seiten von The Etched City ohne das Vorbild des Spaghetti-Westerns kaum vorstellbar. Sie bilden eine Art Prolog zum Hauptteil der Handlung, welcher in der Metropole Ashamoil an den Ufern des Flusses Skamander angesiedelt ist. Im denbar krassesten Gegensatz dazu befinden wir uns im Eröffnungsteil in der hitzedurchfluteten Wüstenlandschaft des Copper Country – von K.J. Bishop selbst einmal als "a mixture of outback Australia and Morocco, via Sergio Leone" beschrieben. Wenn die umherwandernde Ärztin Raule ihren alten Kriegskameraden, den Revolverhelden Gwynn, wiedertrifft, während dieser gerade in einem heruntergekommenen Saloon mit einer Gruppe wenig vertrauenserweckender Burschen Karten spielt, derweil der Besitzer des Etablissements tot hinter dem Tresen liegt, wirkt dies in der Tat wie eine Szene aus einem Streifen von Leone oder Corbucci. Und natürlich endet sie mit einer Schießerei und einem Haufen weiterer Leichen. Aber es ist nicht bloß das Setting und einzelne Handlungselemente, die an den Italo-Western erinnern, sondern die allgemeine Stimmung des ersten Handlungsteils – ein Gefühl von tiefer Demoralisation und Orientierungslosigkeit, die stets drohen, in Fatalismus oder Zynismus überzugehen.

Raule und Gwynn haben beide in den Reihen einer revolutionären Armee gekämpft. Wir erfahren wenig genaues über diese Revolution, bloß dass sie nicht von Erfolg gekrönt war, und die überlebenden Ex-Revolutionäre noch nach Jahren von General Anforths "Army of Heroes"gejagt werden.   
The revolutionaries had initially enjoyed popular support, but as the war dragged on, conditions inevitably became hungry and dangerous, and the wind of opinion changed. The people began looking to the Army of Heroes to restore the status quo and peace. The revolutionaries found themselves suddenly unwanted, and when it was all over they found themselves wanted in the wrong way. For the sake of survival many companies turned to banditry. Raule's was one such. By that stage Gwynn had become their leader. For a wild couple of years they lived as highway pirates in the comparatively populous north of the Copper Country, robbing banks and trains to support a prodigal lifestyle, while still fighting the army wherever they encountered them. But the will of the people prevailed. Aided by General Anforth, the towns formed militias, and from then on the wages of crime came less in gold and more in lead. Former fellows turned coat in droves, becoming informers and bounty hunters. The proud and the mad, and those who were simply unable to think of anything else to do, marauded there way into shallow graves. 
Diese Schilderung lässt an das Schicksal vieler südamerikanischer Guerillabewegungen denken, die sich am Vorbild von Fidel Castro und Che Guevara orientierten und sich am Ende sämtlichst als blutige Sackgassen entpuppten und nicht selten gleichfalls zu simplem Brigantentum degenierten  Zugleich weckt dieser Hintergrund unserer beiden Protagonisten aber auch erneut Assoziationen zur Welt des Italo-Westerns.
Deutlicher als vielleicht jede andere Erscheinungsform des italienischen Genrefilms war der Spaghetti-Western – zumindest in seinen besten Vertretern – Ausdruck ganz bestimmter historischer Entwicklungen. Kurz gesagt spiegelt sich in ihm die zunehmende Demoralisierung einer linken Intelligenzija wider, die dabei ist, den Glauben an eine mögliche positive Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verlieren, und darauf mit einer Mischung aus Wut, Verzweifelung und zunehmendem Zynismus reagiert. Wie Sergio Leone selbst es später einmal ausgedrückt hat: " 'When I was young, I believed in three things: Marxism, the redemptive power of cinema, and dynamite. Now I just believe in dynamite." Es würde zu weit führen, wollte ich an dieser Stelle versuchen, den Gründen für diese Entwicklung nachzugehen. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass die Geburt des Spaghetti-Westerns den Ereignissen des Heißen Herbstes von 1969 vorausgeht. Das Scheitern der mit Studentenrevolte und Massenstreikbewegung verbundenen revolutionären Hoffnungen hat den Pessimismus der linken Künstler sicher noch einmal verstärkt, und ein Film wie Leones Giù la testa / Duck, You Sucker! / A Fistful of Dynamite (1972) muss ohne Frage auch als eine Reaktion auf die Ereignisse von 1969 gesehen werden. Doch die Wurzeln für die wachsende Verzweifelung reichen sehr viel weiter zurück und können nur im Zusammenhang mit der verheerenden Rolle verstanden werden, die die stalinistische KP in Italiens Geschichte gespielt hat.
Wie dem auch sei, auf jedenfall verbinden die besten Vertreter des Spaghetti-Westerns ehrliche Sympathie für die Unterdrückten und Ausgebeuteten und ebenso ehrlichen Hass auf die Reichen und Mächtigen mit einem offenbar tief empfundenen Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das sich als illusionsloser Realismus zu tarnen versucht, dabei jedoch immer wieder in simplen Zynismus abzugleiten droht.

Es ist diese Grundstimmung verlorener Hoffnungen, die K.J. Bishop im Eröffnungsteil von The Etched City aufgreift. Die Geschichte wird in diesen ersten fünfzig Seiten ganz aus Raules Perspektive erzählt. Wir wissen deshalb nicht, was wirklich in Gwynn vorgeht, doch tritt er uns als vollendeter Zyniker entgegen, der nur noch an seinen eigenen Vorteil {und sein Überleben} denkt. Allerdings gibt es wenigstens eine Szene, die anzudeuten scheint, dass auch seine Gefühle und Motive sehr viel komplexer sind {und ein Piano spielt dabei eine wichtige Rolle!}. Raule ihrerseits ist ganz die desillusionierte Idealistin, die zwar nicht mehr wirklich an ihre alten Ideale zu glauben vermag, diese aber auch nicht gänzlich aufzugeben bereit ist, weil ihr Leben andernfalls keinen Inhalt mehr hätte. Beide wirken wie verlorene, orientierungslose Wanderer – und dass nicht nur in der Ödnis des Copper Country. .
              

* Bemerkung am Rande: Wer Invitation to a Gunfighter tatsächlich noch nicht kennt, sollte dies bald möglichst korrigieren! Ein intelligenter und subversiver Western, der sich u.a. mit Rassismus und kleinbürgerlicher Heuchelei auseinandersetzt.

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